23. Kapitel

»Natürlich hat sie das!« PH lehnte wie ein ziemlich großes Rumpelstilzchen am Türrahmen. Er nickte Klaudia zu. »Sie ist eine hervorragende Beamtin, die weiß, was sie tut.«

»Was machst du denn hier?«, krächzte Klaudia. »Du hast Resturlaub.«

»Jetzt nicht mehr.« PH zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Wie ich hörte, könnt ihr Verstärkung gebrauchen.« Mit seinen langen Armen langte er über den Tisch und griff nach der Schäfchentasse, die vor Klaudia stand. Er trank einen Schluck und lehnte sich entspannt zurück. »Was liegt an?«

»Von meiner Seite gibt’s nicht mehr viel zu berichten.« Wibke erholte sich als Erste von der Überraschung. Aber vielleicht war sie auch nur zu müde, um sich über PHs Auftauchen zu wundern.

Das war also Petras Idee gewesen. Klaudia knirschte mit den Zähnen. Sie würde ein ernstes Wörtchen mit der Reviersekretärin reden müssen.

»Außer dass die Obduktion bereits heute ist«, fuhr Wibke fort. »Ich weiß das von Irina«, fügte sie hinzu, als sie die erstaunten Blicke ihrer Kollegen bemerkte. »Stemmler hat die zweite Leiche vorgezogen.«

»Sein Sekretariat hat gerade angerufen«, ergänzte Petra, die frischen Kaffee brachte. Sie vermied Klaudias Blick, während sie die Thermoskannen auf dem Tisch austauschte.

»Danke«, sagte PH, und Klaudia fragte sich, ob er ihr für den frischen Kaffee dankte oder für den Anruf, der ihn zurück ins Revier gebracht hatte. »Setzt mich kurz ins Bild. Was ist mit diesem Rollenhagen?«

»Es gibt mehr als eine Spur, der wir nachgehen.« Meinert war schneller als Klaudia und berichtete von den letzten Entwicklungen.

»Sieht also nicht so aus, dass dieser Aaron Klaus oder die Meerländer als Täter in Frage kommen«, fasste PH am Schluss seiner Ausführungen zusammen.

»Nein«, räumte Meinert ein. »Auch wenn beide lügen, dass sich die Balken biegen.«

»Tun das nicht alle?«, fragte PH. »Was ist mit der Familie?«

»Da gibt es mehr Anhaltspunkte«, übernahm Klaudia. Sie berichtete von ihren Gesprächen und der Entwicklung, die daraus resultierte. »Wir müssen also unbedingt noch einmal mit Saling sprechen.«

»Könnt ihr das übernehmen?«, wandte sich PH an Demel und Meinert.

»Was?« Klaudia starrte ihren zukünftigen Ex‑Chef an. »An den beiden sind wir dran.«

»Das habe ich durchaus verstanden.« PH hob entschuldigend die Hände. »Und normalerweise würde ich dich da nicht abziehen. Aber du bist die Kollegin, die bei beiden Todesfällen den Erstangriff geleitet hat. Du musst nach Potsdam!«

»Dann bringe ich die Akte auf Vordermann«, bot Thang an, bevor PH ihn dazu verdonnern konnte, ebenfalls an den Obduktionen teilzunehmen. Geschäftig scrollte er sich durch den Bildschirm. »Was ist eigentlich mit dem Schuh des Toten?«

»Ebenso verschwunden wie das Handy«, antwortete Wibke. Ihre Stimme klang schläfrig.

»Ich könnte beim Fundbüro nachhaken«, bot Thang an. »Manchmal ist es so einfach«, verteidigte er seinen Vorschlag.

»Tu das.« PH nickte ihm zu. »Was hat die Handyortung ergeben?« Er leitete die Besprechung, als wäre er nie fort gewesen. Klaudia fing einen Blick zwischen Demeter-Anders und Meinert auf. Die beiden schienen alles andere als begeistert von der Entwicklung zu sein, während die schwangere Kollegin von der Presseabteilung einfach nur verwirrt wirkte. Allein dafür verzieh Klaudia Petra ihr eigenmächtiges Handeln.

»Nichts, was uns weiterbringen würde.« Wibke nahm nun doch das Plunderteilchen, das sie eben noch verschmäht hatte, und biss hinein. »Die Masten stehen hier ziemlich weit auseinander«, führte sie kauend aus. »Ganz zu schweigen von den Löchern im Netz.«

»Wenn wenigstens das Fahrrad des Toten auftauchen würde.« Klaudia widerstand gerade noch rechtzeitig dem Impuls, nach dem letzten Plunderteilchen zu greifen.

»Das Fahrrad?« PH sah fragend zu ihr hinüber.

»Es ist ein Ciclista Adventure 29 Zoll, Rahmenfarbe: grau, weiß, orange und schwarz«, sprang Thang Klaudia bei. »Eigentlich recht auffällig. Trotzdem bisher Fehlanzeige, aber die Kollegen vom Streifendienst halten die Augen offen.«

»Wahrscheinlich ist es in der Spree gelandet.« Demel sprach das aus, was vermutlich jeder hier am Tisch dachte.

»Wäre echt schade.« Thang klopfte sich mit dem Stift gegen die vorderen Schneidezähne. »Mir ist übrigens gerade eben eingefallen, woher ich diese Jana Saling kenne.«

»Und ich dachte, du würdest konzentriert bei unserem Fall sein«, spottete Demel.

»Eben darum.« Thang ging auf den scherzhaften Ton ein.

»Nun spann uns nicht auf die Folter«, unterbrach ihn Klaudia. »Woher kennst du sie?«

»Vom Sommerfest des Radsportvereins«, erwiderte Thang. »Und?«

»Nichts und.« Thang rieb sich das Kinn. »Mir ist nur wieder eingefallen, woher ich sie kenne.«

»Wenn sonst nichts mehr ist.« PH blickte auf seine Armbanduhr, und alle Kollegen standen auf. Als Klaudia sich ebenfalls erhob, bat er sie, noch einen Moment zu bleiben. Demeter-Anders und die Pressefrau blieben ebenfalls sitzen.

»Wir können die Sache in meinem Büro besprechen«, sagte PH zur Staatsanwältin. »Ich komme gleich.«

Er wartete, bis die beiden den Raum verlassen hatten, bevor er sich an Klaudia wandte. »Du wusstest nicht, dass ich kommen würde?«

»Nein.« Sie griff nun doch nach dem letzten Plunderteilchen. »Aber ich bin froh, dass du da bist.«

»Zwei Leichen sind eine zu viel, was?«

»Selbst mit dir im Team«, bestätigte Klaudia. »Wir brauchen mehr Leute hier, und weil du jetzt ja wieder an Bord bist, ist das dann wohl deine Aufgabe.«

»Warum habe ich mich nur breitschlagen lassen«, seufzte PH gut gelaunt.

»Weil du dich zu Hause langweilst«, mischte sich Petra ein, die hereingekommen war, um den Tisch abzuräumen. »Also habe ich gedacht, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Du kannst etwas Nützlicheres tun, als deine Hecke zu schneiden, und Klaudia kann ermitteln.«

»Schön wär’s«, murrte Klaudia. »Auf mich wartet die Rechtsmedizin.«

Klaudia fragte sich, wie ihr Chef Demeter-Anders davon überzeugen wollte, sich nicht wie ein Terrier an ihre Hacken zu heften. Eigentlich hätte sie bei dem Gespräch dabei sein sollen, schließlich ging es um sie. Andererseits war ihr selbst Professor Stemmler lieber als die Staatsanwältin. Trotzdem seufzte sie, als sie ihren Peugeot auf dem Besucherparkplatz des Brandenburgischen Landesinstituts für Rechtsmedizin abstellte. Sie konnte nur hoffen, dass genügend Studenten bei den Autopsien anwesend waren, an denen der Rechtsmediziner sein Mütchen kühlen konnte.

Das rechtsmedizinische Institut des Landes Brandenburg lag idyllisch inmitten eines Waldgebietes. An der Anmeldung traf Klaudia auf Irina Klaas.

»Hi!« Erstaunt musterte sie die Rechtsmedizinerin. »Ich hätte dich fast nicht erkannt.«

»Sieht langweilig aus, oder?« Klaas strich sich über die nunmehr haselnussbraunen Haare.

»Würde ich so nicht sagen.« Klaudia musterte die raspelkurzen Stoppeln der Ärztin. »Nur ungewohnt.« Bei ihrer letzten Begegnung hatten die Haare der Rechtsmedizinerin noch neongrün geleuchtet, und auch vorher hatte Klaas eher eine Neigung zu Extremhaarfarben gehabt.

»Ist das Natur?«

»Jepp«, antwortete Klaas. »Selbst ich werde langsam erwachsen.«

»Schade eigentlich.«

»Dass ich erwachsen werde?«

»Zum Beispiel.« Klaudia seufzte. »Irgendwie wird Erwachsensein überbewertet.«

»Wenn ich mir so unseren Autopsieplan ansehe, bist du gerade sehr erwachsen. Außer du hast sie selbst umgebracht«, schränkte Klaas ein.

»Du meinst, wie ein Feuerwerker, der als Brandstifter unterwegs ist, um mit dem Löschzug ausrücken zu können?«

»So ungefähr.«

»So doll steh ich nun auch nicht auf Leichen.«

»Da bin ich aber beruhigt. Wie war die Fahrt?«

»Ging so. Übrigens danke, dass ihr die beiden an einem Tag drannehmt.«

»Wir hatten nichts, was dagegen gesprochen hätte. Wo ist eigentlich dein flirtaktiver Kollege?«

»Du meinst Peter?« Außer Demel kannte Klaudia keinen Kollegen, auf den das Adjektiv gepasst hätte. »Der ist leider verhindert. Soll ich ihn von dir grüßen?«

Unter solcher Art Geplänkel erreichten die beiden Frauen den Obduktionssaal. Klaas reichte Klaudia einen grünen Kittel und verschwand dann in einem Nebenraum. Nachdem sie den Kittel übergezogen hatte, öffnete Klaudia die Schwingtüren. Der Raum war angenehm kühl, und auf dem Tisch lag bereits der mit einem grünen Tuch abgedeckte Körper des ersten Opfers. Eine Sektionsassistentin blickte von einem Klemmbrett auf, das sie in der Hand hielt.

»Wagner«, stellte Klaudia sich vor. »Kripo Lübben.«

»Sie können sich hierhin stellen.« Die Assistentin zeigte auf die linke Seite des Toten. »Wir fangen gleich an.«

»Danke.« Klaudia nahm den ihr zugewiesenen Platz ein.

Als die Sektionsassistentin sich wieder ihrer Liste zuwandte, schloss Klaudia die Augen und konzentrierte all ihre Gedanken auf diesen Mann, den sie nur tot kennengelernt hatte. Wie immer in dieser Situation versprach sie dem Opfer, alles zu tun, um seinen Mörder zu finden. Denn auch wenn das dem Toten nicht mehr half, für die Lebenden war die Wahrheit wichtig, um den Verlust verarbeiten zu können.

»Wie schön, Sie auch mal wieder bei uns begrüßen zu dürfen.« Professor Stemmler, ein hochgewachsener Mann, dessen graues Haar mittlerweile bis an den Hinterkopf zurückgewichen war, betrat den Obduktionssaal. Er trug grüne OP‑Kleidung, und seine Füße steckten in pinken Crocs. »Sie waren das mit dem Tierfraß, nicht wahr?« Er stand nun auf der anderen Seite des Toten und lächelte Klaudia über den Rand seiner Brille hinweg an.

»Genau«, bestätigte Klaudia.

»Diesmal sind Ihre Leichen frischer.« Er zog das Tuch vom Körper. »Und das stammt auch nicht von einem Wildschwein.« Die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt, musterte er das brutal zerschlagene Gesicht. Für einen Moment schloss auch er die Augen, und Klaudia fragte sich, ob auch er Zwiesprache mit dem Toten hielt und wenn ja, was er ihm versprach.

Stemmler wandte sich ab und streifte die sterilen Handschuhe über, die die Sektionsassistentin vorbereitet hatte. Währenddessen legte seine Assistentin das Klemmbrett ab und schaltete die OP‑Lampe ein.

»Haben Sie eine Idee, was diese massiven Verletzungen verursacht haben könnte?« Klaudia wusste es eigentlich besser, trotzdem rutschte ihr die Frage heraus.

»Worauf würden Sie denn tippen?« Stemmler griff nach dem zweiten Latexhandschuh. Er gehörte nicht zu den Rechtsmedizinern, die eine Frage einfach so beantworteten.

»Ich gebe mir sehr viel Mühe, erst einmal keine Meinung zu haben.« Klaudia fühlte sich unbehaglich. Einfach mal die Klappe halten, dachte sie. Doch jetzt war es zu spät. »Ein Beil?«, sagte sie schließlich. »Oder eine Axt.«

»Und was ist der Unterschied?«

»Äh.« Hilfesuchend blickte Klaudia zu Klaas, die gerade eben an den Tisch trat. Auch sie trug jetzt grüne OP-Kleidung. »Es gibt einen Unterschied?« Das letzte Mal hatte Klaudia sich während ihrer mündlichen Abiturprüfung so unwohl gefühlt.

»Natürlich gibt es den.« Stemmlers breiter Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Das sollten Sie als Kriminalbeamtin eigentlich wissen.«

Ein Königreich für einen Studenten, dachte Klaudia.

»Äxte sind in der Regel schwerer als Beile.« Klaas schob eine fahrbare Lupe an den Tisch und richtete sie so ein, dass der Kopf des Opfers darunter lag. Als sie zufrieden war, schaltete sie in einer einzigen fließenden Bewegung die OP‑Lampe aus und die LED-Leuchten der Lupe ein. »Mit einer Axt fällst du einen Baum, mit einem Beil machst du Kleinholz aus ihm.« Sie lächelte Klaudia aufmunternd zu, während sie nun ebenfalls sterile Handschuhe überzog.

»Dann wollen wir mal schauen, ob uns die Wunde mehr verrät.« Stemmler und Klaas beugten sich so dicht über die Lupe, dass ihre Köpfe beinahe zusammenstießen.

Stemmler sagte einiges über die Tiefe der Wunde, die Beschaffenheit der Ränder. Alles Dinge, die sich gut im Bericht machten, doch dann sagte er: »Aber was ist denn das?« Er griff nach einer bereitliegenden Pinzette, und unwillkürlich beugte Klaudia sich vor, um besser zu sehen. Doch sie sah nichts weiter als die Pinzette.

»Das ist ja interessant«, sagte Klaas nun ebenfalls.

Klaudia befolgte exakt fünf Sekunden ihren guten Vorsatz, einfach mal die Klappe zu halten. »Was sehen Sie denn?«

»Es sieht aus wie ein Stück Nylon.« Stemmler ließ, was immer er mit der Pinzette hielt, in einen Spurenbeutel fallen, den die Sektionsassistentin bereithielt. »Sie sagen, der Fundort war nicht der Tatort?«

»Das schließen wir anhand der Spurenlage aus.« Klaudia runzelte die Stirn. »Auf dem Weg haben wir ebenfalls etwas gefunden, das aussah wie Nylon.«

»Euch entgeht aber auch nichts.« Klaas schob die Lupe zur Seite.

»War eher zufällig«, gab Klaudia zu.

»Auch Zufall ist oft nur das Produkt sorgfältigen Handelns.«

Klaudia glaubte, sich verhört zu haben. Lobte der Professor gerade wirklich ihre Arbeit? »Netze sind aus Nylon«, murmelte sie.

»Das muss aber ein großes Netz gewesen sein«, schnaubte Klaas.

Ja, dachte Klaudia. Ein sehr großes Netz. Sie biss sich auf die Unterlippe. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass nur noch eine Papierwand sie von der Wahrheit trennte.