Während die Sektionshelferin alles für die zweite Obduktion vorbereitete und die Ärzte an ihren Berichten arbeiteten, spazierte Klaudia über das Gelände des Rechtsmedizinischen Institutes und dachte über Nylonnetze nach. Konnte es wirklich sein, dass der Tote in einem Netz transportiert worden war? Bis auf die Fäden, die sie an und in der Nähe der Leiche gefunden hatten, sprach nichts für diese Variante. Keine Abdrücke, nichts. Klaudia schloss für einen Moment die Augen und kehrte in Gedanken an den Fundort des Toten zurück, versuchte ihn aus der Sicht des Täters zu betrachten. Sie sah sich selbst einen Kahn staken, darin nicht gedeckte Tische und Bänke, sondern der Tote, eingeschlagen in ein Netz? Ein absurder Gedanke. Sie dachte an die Kopfverletzungen. So viel Blut. Eine Plane wäre so viel wahrscheinlicher gewesen. Aber ein Netz? Wer hatte so etwas schon? Fischer, dachte Klaudia. Sie runzelte die Stirn. War nicht Kowars Nachbar Fischer? Ihre Ermittlerader pochte. Aber was hatte der Mann mit dem Toten zu tun?
Ein Fenster wurde geöffnet. Klaudia blickte auf. Klaas winkte ihr zu.
Das Erste, was Klaudia sah, als sie in den Sektionssaal zurückkehrte, waren Kowars Füße.
Ihre Fußnägel waren blutrot lackiert, an einigen Stellen blätterte der Lack ab. Ansonsten sah man ihren Füßen an, dass Kowar immer barfuß gelaufen war. Die Hornhaut war dick und fast schwarz. Trauer stieg in Klaudia auf. Was immer PH sagte, sie fühlte sich schuldig. Kowar hatte Hilfe gebraucht und Klaudia war zu beschäftigt gewesen, um es zu merken. Nur zu bereitwillig hatte sie sich von ihr abwimmeln lassen. Was hatte sie noch gesagt? Sie würde mit ihrem Pfarrer sprechen wollen. Nachdenklich zog Klaudia die Unterlippe zwischen die Zähne. Vielleicht hatte sie das ja getan?
»Wie war die Auffindesituation?« Stemmler zog das grüne OP‑Tuch von der Toten. Eine Hälfte von Kowars Gesicht wirkte friedlich, als würde sie schlafen, die andere war blau, schimmerte fast schwarz.
Klaudia atmete einmal bewusst ein und aus, bevor sie die Auffindesituation beschrieb.
»Sie hat also im Bett gelegen, das Gesicht in den Kissen?«, fasste Stemmler am Schluss ihrer Ausführungen zusammen.
»Ja«, bestätigte Klaudia.
»Auf dem Bauch zu schlafen beinhaltet immer ein gewisses Risiko«, dozierte Stemmler. »Wussten Sie, dass die Bauchlage bei Säuglingen das Risiko, am plötzlichen Kindstod zu versterben, um das Neunfache erhöht? Außerdem ist die Atmung deutlich flacher. Und man bekommt mehr Falten. Was jetzt wohl keine Rolle mehr spielt.« Stemmler musterte die Tote und öffnete den Mund, um fortzufahren, als Klaas ihn unterbrach.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie ihm in die Parade, »die Auffindesituation korreliert auf jeden Fall mit den Leichenflecken.«
»Stimmt«, bestätigte Stemmler gut gelaunt. Die beiden waren ein eingespieltes Team, und er nahm es ihr offensichtlich nicht übel, wenn sie ihm hin und wieder einen Schubs in die richtige Richtung gab. Trotzdem war er noch nicht ganz fertig mit dem Dozieren, und in Ermangelung von Studenten musste die Sektionsassistentin herhalten. »Und warum?«, fragte er sie.
Die schien das gewohnt zu sein, denn sie blickte nicht einmal von ihrem Klemmbrett auf, als sie antwortete. »Kommt der Blutkreislauf zum Erliegen, sackt das Blut in die unteren Gefäßbereiche ab. Und da die Tote auf dem Bauch gelegen hat, ist das Blut in die vordere Körperhälfte abgesackt. Also Gesicht, Brust, Bauch …«
»Was verraten uns Totenflecken noch?«, fragte Stemmler.
»Sie können uns etwas über den Zeitpunkt des Todes verraten.« Nun legte die Sektionsassistentin ihr Klemmbrett doch ab und trat näher an den Metalltisch. »Die ersten Stunden nach dem Tod wechseln sie mit der Lage, man kann sie wegdrücken, das unterscheidet sie von Unterhautblutungen. Außerdem variieren sie in der Farbgebung und Farbintensität. Sind sie besonders stark ausgeprägt, wie bei dieser Frau, kann das auf Tod durch Ersticken hinweisen.« Die Assistentin trat einen Schritt zurück und griff wieder nach ihrem Klemmbrett.
»Ausgezeichnet, Klara. Wenn du so weitermachst, sind wir bald überflüssig. Was meinen Sie?«, wandte sich Stemmler an Klaudia. »Ist die Tote erstickt?«
»Was ist mit den Schlaftabletten?«, gab Klaudia zu bedenken.
»So schnell schießen die Preußen nicht«, erwiderte Klaas. »Der Befund steht noch aus.«
»Schade.« Klaudia schloss für einen Moment die Augen und kehrte zurück in das Haus der Toten, saß im Nachthemd auf der Bettkante, drückte eine Schlaftablette nach der anderen ins Glas und trank dann diese bestimmt bittere Brühe. Unwillkürlich schüttelte Klaudia sich. Sie hätte es anders gemacht, aber sie war nicht das Maß der Dinge. Es gab Menschen, die Tabletten auflösten, weil sie sie ansonsten nicht schlucken konnten. Klaudia glitt zurück in die Situation, spürte die Müdigkeit in den Gliedern, legte sich ins Bett, drehte sich auf den Bauch, ihr Atem wurde immer langsamer, das Kissen lag dicht an ihrer Nase, und langsam, aber sicher erstickte sie an ihrem eigenen Atem. So konnte es gewesen sein. Trotzdem …
»Vielleicht wollte sie sich auch überhaupt nicht umbringen«, sagte die Sektionsassistentin, als hätte Klaudia ihren Zweifel ausgesprochen. »Vielleicht wollte sie einfach nur schlafen.«
»Dann nimmt man eine Tablette und haut sich aufs Ohr«, widersprach Klaas. Es klang, als würde sie genau dies, regelmäßig tun.
»Ich weiß nicht.« Klaudia war nicht überzeugt. »Sie hat sich nicht umgebracht, als ihr Mann starb, obwohl …« Ihr fiel die Bemerkung des Nachbarn ein.
»Was obwohl?«, hakte Klaas nach.
»Sie hat es versucht, aber ihre Nachbarin hat sie gefunden.«
»Also ist sie dazu in der Lage, einen solchen Entschluss zu fassen und einmal gefasst, auch durchzuziehen.« Stemmler zog das Tuch von der Leiche.
Unwillkürlich senkte Klaudia den Blick, um noch nicht den nackten Körper der Toten sehen zu müssen. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich meine: Sie wirkte gefasst. Klar war sie durch den Wind, aber trotzdem … Außerdem war da der Hund, und sie war gläubig.«
»Auch Gläubige töten sich selbst.« Klaas musterte Klaudia. »Sie war deine Zeugin.« Ihre Stimme klang sanft. »Deshalb fühlst du dich verantwortlich für ihren Tod, oder?«
»Ist das so offensichtlich?«
»Ziemlich«, sagte Stemmler zu Klaudias nicht geringem Erstaunen. Sie hätte jeden Eid darauf geschworen, dass er in seinem Obduktionssaal nichts anderes als die Leiche vor sich wahrnahm. »Wenn Frau Kowar sich nicht selbst getötet hat, bleiben zwei Möglichkeiten. Unfall oder Fremdeinwirkung.« Stemmler setzte eine Stirnlampe auf, wie Klaudia sie von ihrem Hals-Nasen-Ohren-Arzt kannte und griff nach einem Nasenspekulum. »Dann schauen wir mal, ob wir etwas finden, das die eine oder andere Theorie unterstützt. Wie zum Beispiel das hier«, murmelte er. »Pinzette bitte.«
Klaas reichte ihm eine und beugte sich ebenfalls vor.
»Heute scheint unser Fasertag zu sein.« Stemmler richtete sich auf.
»Was ist das?« Klaudia kniff die Augen zusammen und starrte auf die Pinzette und das, was sie hielt.
»Wofür halten Sie es?«
»Das ist jetzt keine Nylonfaser, oder?«
»Eher nicht.« Stemmler genoss die Situation.
»Es sieht aus wie eine Wollfaser«, klaute ihm Klaas die Pointe.
»Aber Kowars Bettwäsche war aus Leinen.« Klaudia hatte das Bild noch sehr klar vor Augen.
»Trotzdem hat sie aus irgendeinem Grund Wollfasern eingeatmet.«
»Ich lasse alle Kissen aus dem Haus zur KTU bringen.« Klaudias Ermittlerader wummerte einen Tusch.
»Diese Faser muss nichts bedeuten«, dämpfte Stemmler ihre Erwartungen, während er sich vorbeugte, um die Lippen und Mundschleimhaut der Toten zu inspizieren. »Keine Hautabschürfungen im Gesicht oder Einblutungen an der Lippe«, murmelte er. »Aber das muss nichts heißen«, fuhr er fort. »Es gibt sanfte Tötungsarten, die wenig Spuren hinterlassen. Vor allem, wenn es sich bei dem Opfer um einen sehr jungen oder sehr alten Menschen handelt.«
»Das ist mir durchaus bewusst«, sagte Klaudia. »Deshalb ist diese Faser ja auch so wichtig.«
Die restliche Obduktion erbrachte noch weitere Ergebnisse, die sich mit der Auffindesituation der Toten deckten: Die Lunge war gebläht, und die Ärzte dokumentierten flohstichartige Einblutungen an Pleura und Perikard. Stemmler versprach, seine Berichte so bald wie möglich zu schicken, und verschwand.
»Danke, dass ihr so schnell wart.«
»Immer wieder gern.« Klaas wusch sich die Hände. »Grüß Demel von mir«, rief sie Klaudia hinterher.
»Mach ich«, versprach die. Kaum hatte sie das Rechtsmedizinische Institut verlassen, rief sie Wibke an.
»Okay«, seufzte die. »Sammeln wir alle Kissen ein.«
»Kommst du zur Lagebesprechung?«
»Das schaffe ich nicht. Wir ertrinken geradezu in Spuren. Da hilft es auch gar nicht, wenn die ermittelnde Beamtin noch ihr Date mit zum Tatort bringt.«
»Sorry«, entschuldigte sich Klaudia. »War nicht meine Idee, aber wie hätte ich ihn abhängen sollen?«
»Weißt du zumindest mittlerweile, was er von dir will?«
»Nein.« Klaudia zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
»Wir machen es folgendermaßen«, sagte Wibke. »Ich schick dir alles, was wir bisher haben, und du berichtest darüber. Wäre das in Ordnung für dich?«
»Natürlich«, versicherte Klaudia. »Und denke bitte an die Kissen.«
Wibke schnaubte. »Dafür schuldest du mir mindestens eine Berliner Weiße, wenn nicht zwei. Hast du gesehen, wie viele da herumlagen?«
»Ich weiß, aber trotzdem …«
»Meldet sich deine Ermittlerader?«, spottete Wibke. »Du weißt, es gibt tausend mögliche Gründe, warum diese Faser in der Nase der Toten gewesen ist. Und warum sollte jemand deine Zeugin töten?«
»Gute Frage, nächste Frage.«
»Klingt, als hättest du keine Antwort.«
»Stimmt auffallend«, räumte Klaudia ein. »Aber vielleicht weiß ihr Nachbar mehr.« Sie hob den Schlüssel und entriegelte ihren Wagen.
»Wieso das?«, fragte Wibke.
»Weil er Fischer ist.«
»Du und deine Ermittlerader.« Wibke legte auf, bevor Klaudia noch etwas erwidern konnte.