31. Kapitel

Wasser schlug über Demel zusammen, war in seiner Nase, seinem Mund. Reflexhaft hielt er die Luft an. Die Kälte des Wassers vertrieb seine Benommenheit. Er sah den Grund des Fließes, bemooste Steine, im Wasser treibende Algen. Blutschlieren. Er wollte gerade den Kopf drehen, um zu atmen, als eine weibliche Stimme sagte: »ER hat mich verfolgt!« Sie klang panisch. Demel kämpfte gegen den Atemimpuls an. Begann langsam zu zählen: eins …

»Geh zum Wagen«, sagte eine männliche Stimme.

Zwei … Drei … Der Druck in seiner Lunge nahm zu. Vier …

»Nimm mich in den Arm«, forderte die Frau. »Halte mich.«

Fünf … Ohne sein Zutun drehte sich sein Kopf zur Seite. Nase und Mund tauchten aus dem Wasser auf. Gierig atmete Demel ein. Glaubitz und die Frau standen auf dem Anleger. Sie wirkten zu ruhig, ihrer Sache zu sicher. Wo war Klaudia? Was hatten die beiden mit ihr gemacht?

»Nun geh schon«, sagte Glaubitz. Er küsste seine Frau auf den Scheitel. Denn das musste sie sein. Seine Frau.

»Mach IHN tot.«, forderte sie.

»Das ist er bereits.«

Gut, dachte Demel. Es war gut, dass sie ihn für tot hielten.

»Das haben wir schon einmal gedacht«, beharrte sie. »Und ER ist zurückgekehrt.«

Sie mussten von Rollenhagen reden. Aber für wen hatte sie den gehalten? Und vor allem, für wen hielt sie ihn? Wer war »ER«?

»Ich kümmere mich darum«, versprach Glaubitz.

Das klang überhaupt nicht gut. Hechelnd, wie eine Schwangere im Wochenbett, atmete Demel aus.

»Und nun geh.« Glaubitz drehte seine Frau Richtung Haus. Er blickte ihr nach, während Demel sich bemühte, so viel CO2 wie möglich abzuatmen, dann bückte er sich. Als er sich erhob, hatte er das Rudel in der Hand.

Demel schloss die Augen und begann wieder zu zählen. Eins … Zwei … Das Rudel drückte sich zwischen seine Schulterblätter. Sein Körper sank auf den Grund. Eine Krabbe schoss unter einem Stein hervor und verschwand mit der Strömung. Zehn … Elf … Demel wäre ihr gern gefolgt. Er hielt ganz still, dachte an nichts anderes als die Zahlen in seinem Kopf. Fünfundzwanzig … Sechsundzwanzig. Justins Gesicht schob sich zwischen die Zahlen. Demel drückte es weg. Er würde dies hier überleben. Siebenunddreißig … Achtunddreißig … Was war mit Klaudia? Auch diesen Gedanken schob Demel fort. Zweiundvierzig, dreiundvierzig, vierundvierzig. Unwillkürlich zählte er schneller. Die Luft wurde knapp. Der Druck in seinem Brustkorb nahm zu. Neununddreißig. Vierzig. Achtunddreißig. Doch seine Lunge ließ sich nicht täuschen. Demel presste die Lippen aufeinander. Nicht atmen. Vierzig … Zweiundvierzig … Vierzig. Der Druck zwischen seinen Schulterblättern verschwand. Demels Körper stieg auf. Einundvierzig … Jede Zelle in seinem Körper schrie nach Sauerstoff. Sein Herzschlag wurde langsamer, setzte einen Schlag aus, stolperte in einen anderen Rhythmus, setzte wieder einen Schlag aus. Demel zählte weiter. Erst als er die Fünfzig erreicht hatte, drehte er den Kopf so, dass er atmen konnte, ohne dass es vom Anleger zu sehen war. Er atmete flach, und es dauerte eine Weile, bis sich sein Herzschlag normalisiert hatte. Demel zählte weiter und lauschte dabei angestrengt. Er hörte das Sirren der Mücken, die über dem Wasser tanzten, das Singen der Vögel und das Rauschen der Bäume im Wind. Ein Automotor sprang an. Demel dachte an den gepackten VW‑Bus. Langsam wendete er den Kopf. Das ist eine Falle, sagte eine atemlose Stimme in ihm. Doch die Stimme irrte. Demel war allein. Mit letzter Kraft stemmte er sich auf den Anleger. Dort lag er, die Wange an das warme Holz gepresst, und atmete keuchend ein und aus. Schließlich hievte er sich mühsam in die Höhe und wankte auf das Haus zu. Der Hof war verlassen, dort, wo der VW‑Bus gestanden hatte, lag ein blutiges Smartphone.

Klaudia, dachte Demel und bückte sich danach. Der Schwindel, der ihn erfasste, zwang ihn in die Knie. Das Handy in der Hand hockte er auf dem Kies. Er konnte es nicht entsperren, aber er wusste, dass Klaudia die Notruffunktion aktiviert hatte. Sie alle hatten das. Er drückte dreimal kurz hintereinander auf die Einschalttaste, dann meldete sich die Leitstelle.

»Bist du verletzt?«, fragte die Kollegin, nachdem er ihr die Situation geschildert hatte.

»Ich weiß nicht.« Demel tastete nach seinem Kopf. Als er die Hand zurückzog, war da Blut. »Ich denke ja.«

»Okay.« Ihre Stimme klang beruhigend. »Ich kümmere mich um einen Krankenwagen. Was ist mit Klaudia?«

»Ich weiß nicht«, sagte Demel. »Sie ist fort.«

»Aber du rufst von ihrem Handy an.«

»Ich weiß«, erwiderte Demel. Er fühlte sich unendlich müde. Am liebsten hätte er sich im Staub zusammengerollt. »Meins ist abgesoffen.«

»Bleib, wo du bist.«

»Ich hab nicht vor, irgendwo hinzugehen«, murmelte Demel. Er legte das Handy zur Seite und versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Sein Kopf schmerzte, die Welt drehte sich, und sein Magen zog sich zusammen.

»Peter?«, hörte er die Stimme der Kollegin. »Peter!«