Etwas kroch über Klaudias Gesicht. Es kitzelte. Panik ergriff sie. Keuchend atmete sie ein, doch da war nicht genug Luft. Der Knebel! Trotz der Fesseln bäumte sie sich auf.
»Psst«, sagte eine weibliche Stimme, und wieder war da dieses Gefühl auf ihrer Haut. Doch diesmal konnte Klaudia es einordnen. Es war eher ein Streicheln als ein Kriechen. Sie öffnete die Augen und erkannte diese Frau. Sie gehörte zu Glaubitz, war wohl seine Frau. Er hatte von seiner Frau gesprochen. Sie hieß Svenja. Daran erinnerte sie sich. Sie wusste auch noch, dass sie dieser Frau gefolgt waren. Und dass Svenja Peter niedergeschlagen hatte. Das alles wusste Klaudia. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.
»Alles wird gut.« Svenja beugte sich zu ihr. Ihre wasserblauen Augen musterten sie besorgt. Sie war vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig mit Lachfältchen um die Augen. Wie eine freundlich besorgte Handarbeitslehrerin runzelte sie die Stirn. »Du musst keine Angst haben.« Sie hielt ein fedriges Etwas in der Hand und strich damit über Klaudias Stirn. »Der Traumfänger zieht IHN aus deinen Gedanken.«
Die Federn strichen über Klaudias Lider. Sie wagte kaum zu atmen. Was war das jetzt für ein Voodoo-Scheiß? Das Gesicht der Frau war jetzt so dicht über ihrem, dass ihr warmer Atem Klaudias Wange streifte. Er roch säuerlich.
»ER ist nun fort.« Svenja betonte das Personalpronomen, als würde es ihr ebenso die Luft nehmen wie Klaudia der Knebel.
»ER kann dir nichts mehr tun.«
ER vielleicht nicht, dachte Klaudia. Aber du! Tränen liefen ihr über die Wangen. Jeder Atemzug war mühsamer als der vorherige. Sie riss die Augen auf, starrte in das freundliche Gesicht der Frau, die Peter erschlagen hatte. Sie sah so normal aus, so durchschnittlich, so völlig durchgeknallt. Sie sah das Mitleid in ihrem Blick. Daran konnte sie andocken. Daran musste sie andocken. Bitte, flehte sie innerlich. Bitte!
»Warte.« Die Frau legte den Traumfänger zur Seite und dann spürte Klaudia Fingernägel über ihre Wangen kratzen.
Beeil dich! Schwärze griff nach Klaudia, doch ein Ruck brachte sie zurück: ein kurzer, heftiger Schmerz, als würde ihr die Haut von den Wangen gerissen, und Luft strömte in ihre Lungen. Gierig atmete sie ein.
»Danke«, krächzte sie. Jetzt, wo sie wieder atmen konnte, nahm sie auch wieder den Rest ihres Körpers wahr. Sie lag immer noch auf vibrierendem Blech. Immer noch Fahrgeräusche, das Klackern des Blinkers. Sie spürte ihren Kopf, der im Wesentlichen aus Schmerz bestand; ihre Gesichtshaut, in die das Nylon schnitt; ihre eingequetschte Brust, die an ihren Körper gepressten Arme.
Der Rest fehlte!
Nur keine Panik, rief sich Klaudia zur Ordnung. Das muss nichts heißen. Du bist gefesselt, die Blutversorgung ist schlecht. Sie konzentrierte sich wieder auf die Frau, die sie so aufmerksam musterte, als erwartete sie etwas von ihr. Aber was konnte das sein?
»Hat …« Klaudia biss sich auf die Zungenränder, um genügend Speichel für die Frage zu produzieren. »Hat ER …«. Auch sie betonte das Personalpronomen. »… dir etwas getan?«
»Ja.« Das Gesicht der Frau fiel in sich zusammen. Auf einmal sah sie aus wie ein alt gewordenes Kind. »Aber nun ist er tot. Boris hat ihn totgemacht.«
Boris war Glaubitz, das immerhin wusste Klaudia.
Er ist tot! Klaudia presste die Kiefer aufeinander, um nicht aufzustöhnen. Peter war tot! Für einen Moment schloss sie die Augen, damit die Frau nicht den Schmerz in ihnen sah.
»Ja«, versicherte sie. »Ist das nicht fein?« Vor Freude klatschte sie in die Hände.
»Ja.« In Gedanken entschuldigte sich Klaudia bei Peter. Sie verriet ihn gerade, doch vielleicht rettete ihr das das Leben. Auf keinen Fall durfte die Frau in ihr etwas anderes sehen als ein Opfer. Es würde schon schwierig genug sein, mit Glaubitz fertig zu werden.
»Wo sind wir?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte an Kraft gewonnen.
»Svenja?«
Klaudias Herzschlag stolperte. Sie hätte besser aufpassen müssen.
»Wieso spricht sie?«, rief Glaubitz.
»ER kann ihr nichts mehr tun.« Svenjas Stimme klang nachsichtig. Sie lächelte Klaudia zu und verdrehte die Augen zum Wagenhimmel. Ihr Blick sagte so viel wie: Männer!
Die ist ja knallverrückt. Ihr Leben lag in den Händen eines Mörders und einer Verrückten.
»Stopf ihr den Knebel wieder zwischen die Zähne«, forderte Boris barsch.
Nein! Allein der Gedanke nahm Klaudia die Luft. Flehend blickte sie zu Svenja auf.
»Aber …« Ihre Stimme klang kindlich, trotzdem griff die Frau neben sich.
Als ihre Hand wieder in Klaudias Blickfeld auftauchte, hielt sie eine Tennissocke in der Hand: weißes Frottee, graue Sohle, gallegrüne Flecken. Klaudias Magen hob sich.
»Kein Aber«, sagte Glaubitz. »Sie ist der Feind. Sie gehört zu IHM.«
Svenja rollte den Socken zusammen. Ihre Hand näherte sich Klaudias Mund.
»Es tut mir leid«, murmelte sie. »Aber du hast gehört, was Boris gesagt hat.«
Klaudia presste die Kiefer aufeinander. Schmerz schoss ihr in die Wirbelsäule, trieb ihr Tränen in die Augen. Doch das war nichts, im Vergleich zu dem, was passieren würde, wenn es Svenja gelang, ihr den Knebel zwischen die Zähne zu schieben. Dann wollte sie lieber gleich hier und jetzt sterben.
Svenja senkte die Hand. Eine Träne tropfte von ihrem Kinn. Dann legte sie den Zeigefinger an die Lippen, strich ihr noch einmal mit dem Traumfänger übers Gesicht, und kroch zu den Vordersitzen.
»Warum hast du ihr den Knebel rausgenommen?«, murrte Glaubitz.
»Sie konnte nicht atmen«, rechtfertigte sich Svenja. »Du hast gesagt, ich soll nach ihr sehen. Ich konnte sie doch nicht sterben lassen.« Ihre gerade noch so kindliche Stimme klang jetzt wie die einer unfreundlichen Ehefrau.
»Hast du ihn wieder reingetan?«
Diesmal ließ sich Svenja Zeit mit der Antwort. Klaudia hielt die Luft an.
»Ich habe dich etwas gefragt«, fuhr Glaubitz sie an.
»Ja«, wimmerte sie schließlich. »Aber das ist nicht richtig.« Ihre Stimme klang wieder kindlich. »Ich will das nicht.«
»Ich weiß, Schatz«, beschwichtigte Boris seine Frau. »Ich will das doch auch nicht. Nichts davon.«
Dann lass es einfach! Klaudias Gedanken rasten. Solange sie fuhren, war sie einigermaßen in Sicherheit. Gefährlich wurde es erst, wenn sie anhielten. Andererseits: Glaubitz hätte sie schon längst töten können, wenn er das gewollt hätte. Er hatte schließlich auch vollendet, was seine Frau angefangen hatte. Peter war tot. Dass sie noch lebte, bedeutete, dass er sie brauchte. Also war sie wahrscheinlich so etwas wie eine Geisel.
»Es wird alles gut«, hörte Klaudia ihn sagen. »Du musst keine Angst haben.« Seine Stimme klang beschwichtigend. »Ich lasse nicht zu, dass dir jemand wehtut. Bald sind wir über der Grenze.«
Natürlich, dachte Klaudia: die Grenze. Und wahrscheinlich will er mehr als eine Grenze zwischen sich und Deutschland bringen. Die Frage war nur, welche Grenze er zuerst erreichen wollte. Klaudia tippte auf die tschechische. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, doch man brauchte von Lübbenau zur polnischen Grenze je nach Verkehr eine knappe Stunde, wenn es schlecht lief, vielleicht anderthalb. Sie wären also schon längst über der Grenze, wenn Polen das erste Ziel der Reise gewesen war. Nach Tschechien dauerte es etwa doppelt so lange. Aus den Umgebungsgeräuschen zu schließen und der Art, wie Glaubitz fuhr, waren sie auf der Autobahn unterwegs. Das passte auch zu ihrer letzten Erinnerung. Sie mussten auf einem Rastplatz gewesen sein. Wahrscheinlich hatten sie tanken müssen oder pinkeln. Der Gedanke an Letzteres drückte Klaudia auf die Blase. Besser nicht darüber nachdenken. Sie fragte sich, ob jemand außer Glaubitz ihren Tritt gehört hatte? Aber selbst wenn nicht, solange sie unterwegs waren, gab es Hoffnung. Sie betete um Baustellen und Staus. Je länger die Fahrt dauerte, umso wahrscheinlicher wurde es, dass sie vermisst wurde. Die Kollegen würden ihre Spur aufnehmen und sie würden Glaubitz jagen. Und das war dann auch der Grund, warum sie noch lebte. Ihr Leben gegen freies Geleit.
»Ich will nach Hause.« Svenja klang, als hätte sie die Unterlippe vorgeschoben und die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ich mache dir ein neues Zuhause«, versprach ihr Mann. »Wie damals.«
Damals? Was sollte das denn heißen? Waren die beiden schon einmal vor der Polizei geflohen? Aber konnte das sein? Klaudia versuchte, sich an ihre erste Begegnung mit Glaubitz zu erinnern. Den Täter zieht es immer an den Tatort zurück. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte sie ein Schluchzen. Würde Peter noch leben, wenn sie diese Binsenweisheit berücksichtigt hätte? Doch sie hatte in ihm nur den besorgten Nachbarn gesehen. Und besorgt war er gewesen, wenn auch aus anderen Gründen, wie sie jetzt wusste. Warum hatte ihre Ermittlerader an dem Abend nicht angeschlagen? Weil Uwe ihn kannte? Sie hatte erst angefangen zu pochen, als das mit den Fischernetzen aufkam, doch dann waren sie auf Nils Heck gestoßen, der dann nicht zur Befragung gekommen war. Ob Glaubitz der Grund dafür war?
»Ich will kein neues Zuhause.« Svenja maulte wie Klaudias Neffe, wenn er seinen Willen nicht kriegte.
»Aber wir können nicht zurück.« Glaubitz klang beschwichtigend. »Außerdem brauchst du Hilfe.«
»Ich will nicht wieder ins Krankenhaus«, wehrte Svenja ab. »Du hast IHN doch totgemacht. Das hast du doch?«
»Ja, natürlich, aber …«
»Und ist ER diesmal wirklich tot?« Svenjas Stimme schraubte sich in die Höhe. »Oder kommt ER zurück? ER kommt immer wieder zurück. Ist er etwa schon hier?«
Diesmal? Wieder? Klaudia fragte sich, wie oft Glaubitz IHN schon getötet hatte.
»Wo ist der Traumfänger?«, fragte Glaubitz gehetzt. »Wo hast du ihn?«
»Ich weiß nicht.« Svenjas Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ich spüre IHN«, sagte sie. »ER ist ganz nah. ER will mich holen, will wieder Sachen mit mir machen.« Ihre Stimme war jetzt so leise, dass Klaudia sie kaum noch verstehen konnte.
»Hast du ihn mit nach hinten genommen?«, fragte Glaubitz. Auch in seiner Stimme schwang Panik mit. Er fürchtete sich, jedoch nicht vor IHM, sondern vor IHR, seiner Frau.
»Bitte nicht«, wimmerte Svenja.
»Geh nicht fort«, flehte Glaubitz. »Wir finden den Traumfänger.
Geh nicht fort? Was sollte das denn heißen? Bevor Klaudia darüber nachdenken konnte, wurde der Wagen langsamer, und sie hörte das Klackern des Blinkers. Panik wallte in Klaudia auf. Er würde sehen, dass Svenja ihn angelogen hatte. Und er würde ihr den Knebel wieder zwischen die Zähne zwingen. Es gehörten nur zwei Finger dazu, um sie dazu zu bringen, mit offenem Mund nach Luft zu schnappen. Warme Nässe breitete sich zwischen ihren Oberschenkeln aus. Es war egal. Sie war schon tot, ihr Körper wusste es nur noch nicht.