Klaudia dämmerte zwischen Wachen und Schlafen. Die Schmerzen waren mal weit weg und dann so nah, dass sie aufstöhnte. Doch egal, in welchen Zustand sie sich befand, ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Sie sah Svenja, den blutigen Spaten, spürte die Enge des Netzes, sah, wie die Hand mit dem Knebel sich ihrem Gesicht näherte.
»Nein!« Was ein Schrei hatte sein sollen, endete als heiseres Krächzen.
Jemand legte ihr die Hand auf die Stirn. Die Berührung war sanft, wie die einer Feder. Feder? Traumfänger? Ein Gesicht! Eine Hand!
»Frau Wagner!«
Die Stimme einer Frau. Nicht Svenja. Wer war Svenja? Wo war Glaubitz?
»Sie sind in Sicherheit. Niemand kann Ihnen etwas tun.«
Klaudia schlug die Augen auf. Über ihr schwang ein Infusionsbeutel sachte hin und her. Wie Nebel über den Fließen lösten die Schreckensbilder sich auf. Sie war nicht mehr in Glaubitz’ Gewalt. Sie war in einem Krankenwagen, und die Stimme gehörte der Ärztin. Das hektische Piepen musste ihr Puls sein, und was sich gerade eng um ihren Oberarm schloss, war eine Blutdruckmanschette. Glaubitz konnte ihr nichts mehr tun. Sie hatte es geschafft, hatte überlebt.
Peter, dachte Klaudia. Was war mit Peter? Der Krankenwagen ruckelte. Schmerz explodierte in ihrem Gehirn und löschte jeden Gedanken an Demel aus. Zischend atmete sie ein.
»Wir sind gleich da«, versprach die Ärztin.
Aber was war gleich und wo war da? Klaudia leckte sich über die trockenen Lippen. Was in ihrem Kopf eine komplexe Frage gewesen war, kam als schlichtes Wo heraus.
»Wir bringen Sie in die Helios Klinik nach Pirna.« Die Ärztin streckte sich und drehte an dem Rädchen, mit dem die Flüssigkeitszufuhr geregelt wurde. Sie hatte dunkle Schweißflecken unter den Achseln.
Ob ich sie ins Schwitzen gebracht habe? Der Gedanke gefiel Klaudia nicht. Was war mit ihr? Warum erinnerte sie sich nicht an den Namen der Ärztin? Und was war mit ihrem Kopf? Statt einer Antwort tauchte ein Traumfänger vor ihrem inneren Auge auf. Klaudia sah ihn so deutlich, dass sie die Hand danach ausstreckte. Die Ärztin ergriff sie und drückte Klaudias Hand. Die Berührung tat gut. Es war nie ein gutes Zeichen, wenn man Dinge sah, die nicht da waren. Klaudia schloss die Augen und der Traumfänger verschwand. Sie war so müde.
»Dort sind Sie in guten Händen.« Vorsichtig, als sei ihr Arm zerbrechlich, schob die Ärztin Klaudias Arm unter die Folie, die sie umhüllte. Der Geruch von Urin stieg Klaudia in die Nase.
»Pirna ist die nächste Klinik mit einem Traumazentrum.«
Traumazentrum! Klaudias Herzschlag beschleunigte sich.
»Alles wird gut«, versprach die Ärztin.
Klaudia hatte das Gefühl, diese Floskel nicht zum ersten Mal zu hören. »Mein Kopf«, murmelte sie.
»Sie haben eine ordentliche Beule, aber Ihre Pupillenreaktion und Ihre Reflexe sind normal. Mehr können wir jedoch erst sagen, wenn Sie in der Röhre gewesen sind. Verstehen Sie das?«
Klaudia versuchte zu nicken, aber ihr Hals steckte in einem Stifneck fest.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Ja.«
»Ich würde Ihnen ja etwas geben, aber im Moment ist es wichtiger, dass Sie ansprechbar bleiben, damit wir schnell merken, wenn sich etwas ändert. Verstehen Sie das?«
»Ja«, murmelte Klaudia.
»Ich prüfe noch einmal Ihre Pupillenreaktion. Das ist …«
»Ich weiß«, hauchte Klaudia. Diese zwei Worte verbrauchten einen Großteil ihrer Energie.
»Warum bin ich so müde?«
»Das ist ganz normal«, versicherte ihr die Ärztin.
Wieder legte sie ihr die Hand auf die Stirn. Sie war angenehm kühl. Wie Mamas! Der Gedanke erschreckte Klaudia. Bedeutete diese Erinnerung, dass sie ihrer Mutter gerade näher war als den Lebenden?
»Sie haben auf jeden Fall eine Gehirnerschütterung«, fuhr die Ärztin fort.
Ihre Stimme legte sich wie ein Plätschern über Klaudias Ängste.
»Und Ihr Körper hat in den letzten Stunden so viel Adrenalin ausgeschüttet, dass er so ziemlich sämtliche Reserven erschöpft hat. Diese Erschöpfung ist also ganz normal.«
Ganz normal. Klaudia hielt sich an diesen beiden Worten fest wie an einem Rettungsseil.