Es war kurz nach Mitternacht, als Thang vor dem Haus hielt, in dem er lebte. In seiner Wohnung brannte Licht, und für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, zum Revier zurückzufahren und sich im Bereitschaftszimmer aufs Ohr zu hauen. Doch das konnte er Janina nicht antun. Also stieg er aus und lief über die Wiese zum Haus. Der Bewegungsmelder tauchte den Eingang in fahles Licht, und der Türöffner summte. Sie hatte also am Fenster gestanden und auf ihn gewartet. Sie würde reden wollen, und er wusste nicht, was er ihr sagen konnte. Zögernd stieg Thang die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.
Janina erwartete ihn auf dem Treppenabsatz. »Ich bin so froh.« Sie drückte sich an ihn, und Thang versank in ihrem Duft nach Deo und Wundschutzcreme.
»Willst du was essen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Willst du reden?«
Wieder schaffte er nur ein Kopfschütteln.
»Ein Bier?«
Er nickte. »Bier wäre gut.« Er ließ sich auf die Küchenbank fallen, die er selbst getischlert hatte.
»Habt ihr ihn?« Janina nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und reichte sie ihm. Dann setzte sie sich ihm gegenüber.
»Ja.« Thang löste den Bügelverschluss und trank gierig. Der Alkohol stieg ihm gleich zu Kopf. Das war genau das, was er jetzt brauchte. Er setzte die Flasche ab und unterdrückte ein Rülpsen.
»Es tut mir leid«, sagten sie gleichzeitig, und dann lachten sie so lange, bis aus dem Lachen ein Schluchzen wurde.
Janina griff nach seiner Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Dort half sie ihm, sich auszuziehen und deckte ihn zu. Thang starrte an die Zimmerdecke. Er sah Peter und Klaudia und diesen Traumfänger. Janina lag neben ihm, hielt seine Hand. An der Art, wie sie atmete, merkte er, dass auch sie nicht schlief. Thang dämmerte gerade weg, als Linh weinte. Janina ließ seine Hand los und stieg aus dem Bett, um Linh zu ihnen zu holen, bevor sie ihre Schwester weckte. Sie legte sie neben ihn, und ihr Babyduft half ihm zumindest die paar Stunden zu schlafen, die ihm blieben, bis der Wecker klingelte. Als er eine Stunde später in die Einfahrt des Polizeireviers einbog, schob sich die Sonne über den Horizont. Es würde ein langer, heißer Tag werden.
Die Stimmung war gedrückt, als Thang das Revier betrat. Petra wirkte, als habe sie geweint. Demel sei auf der Intensivstation, sagte sie ihm. Von Klaudia wusste sie nichts zu sagen. Thang betrat das Besprechungszimmer des Reviers. Obwohl es früh war, saßen die anderen Kollegen bereits am Konferenztisch. Uwe wirkte zerknittert, und Uta starrte auf ihre Hände. Selbst PH wirkte angeschlagen. Er saß zwischen Meinert und Demeter-Anders. Die drei unterhielten sich flüsternd. Außer den beiden waren noch zwei weitere LKA-Kollegen anwesend. Wahrscheinlich Verstärkung. Einen kannte Thang bereits von einer anderen Mordkommission, er hieß Heiner und war ziemlich dicke mit Meinert, die andere war ihm fremd. Die Kollegin mit dem grauen Bob schien eher zu PHs Generation zu gehören. So langsam gingen dem LKA wohl die Leute aus. Die beiden saßen auf den Plätzen, auf denen üblicherweise Klaudia und Demel saßen. Obwohl Thang wusste, dass es irrational war, nahm er ihnen das übel. Wibke saß ebenfalls am Konferenztisch. Ihr Haar lockte sich feucht über ihren Schultern. Obwohl sie offensichtlich gerade geduscht hatte, war sie so blass wie die Wand in ihrem Rücken, ihre Augenlider wirkten entzündet, und es sah nicht so aus, als wäre sie in letzter Zeit einer Matratze begegnet. Sie nickte Thang zu, und er setzte sich auf den freien Platz neben ihr. Sie roch nach der Kernseife, die sie im Revier in den Duschen liegen hatten. Wahrscheinlich war sie direkt aus Eberswalde gekommen und hatte nur einen kurzen Boxenstopp in der Kellerumkleide gemacht. Thang musterte sie besorgt. Es hatte keinen Sinn, wenn sie sich aufrieben. Ihre Gehirne brauchten Auszeiten. »Du hättest nach Hause fahren sollen«, murmelte er.
»Um Gottes willen, nein«, antwortete Wibke ebenso leise. »Dann hätte ich mir die Decke über den Kopf gezogen und wäre nie wieder aufgestanden. Es ist besser, im Flow zu bleiben.«
»Hast du was von Klaudia gehört?« Wenn, dann wusste Wibke Bescheid. Sie und Klaudia waren Freundinnen.
»Platzwunde, schwere Gehirnerschütterung, aber keine Blutung.«
»Das ist gut«, murmelte Thang. »Peter liegt auf der Intensivstation.«
»Ich weiß«, flüsterte Wibke. »Das ist fast so schlimm wie damals.« Sie warf einen hastigen Seitenblick auf Uwe, doch der schien sie nicht gehört zu haben.
»Immerhin leben beide«, tröstete Thang sie.
»Was immer das bei Peter heißt.« Wibke blies die Wangen auf und flocht ihre feuchten Haare zu einem Zopf.
Ja, dachte Thang. Was immer das heißt.
»Können wir anfangen?« PH musterte jeden Einzelnen von ihnen. »Für die, die es noch nicht wissen, wir haben Verstärkung. Herr Kade und Frau Samrei werden uns in den nächsten Tagen unterstützen. Auch wenn der Fall abgeschlossen scheint, gibt es noch eine Menge zu tun. Danke«, wandte er sich an Wibke, »dass du trotz der vielen Arbeit, die Zeit gefunden hast, an dieser Besprechung teilzunehmen.«
»Alles fürs Team«, erwiderte Wibke. »Allerdings würde ich gern anfangen und dann verschwinden. Ist das für euch in Ordnung?«
Alle nickten, nur Meinert wirkte, als wollte er widersprechen, unterließ es dann jedoch.
»Ich kann euch auch nur eine erste Übersicht geben, wir sind noch damit beschäftigt, die vielen Spuren ins System aufzunehmen. Aber wie es aussieht, haben wir zumindest die Tatwaffe, mit der Peter niedergeschlagen wurde, sowie eine mögliche Tatwaffe für den Fall Rollenhagen. Das mit den gefundenen Medikamenten wisst ihr bereits, und ansonsten gibt es Blutspuren in Glaubitz’ Kahn und auf dem Anleger. Allerdings haben wir weder Rollenhagens Fahrrad noch sein Smartphone gefunden.«
»Die hat Glaubitz in der Spree versenkt«, sagte Thang.
»Es wäre schön, wenn wir das eingrenzen könnten«, erwiderte Wibke. »Was wir noch haben, sind erschreckend viele DNA-Spuren. Es kann Monate dauern, bis wir da Ergebnisse haben. Wir brauchen unbedingt Vergleichs-DNA von Glaubitz und seiner Frau.«
»Darum kümmere ich mich«, versprach Demeter-Anders. »Ich führe Glaubitz heute Nachmittag dem Haftrichter vor.«
»Ich werde auf jeden Fall heute auch noch mal mit ihm sprechen«, sagte Thang. »Es sind einfach noch zu viele Fragen offen. Was ist eigentlich mit seiner Frau? Wir müssen unbedingt mit ihr sprechen.«
»Das geht leider nicht«, beantwortete Demeter-Anders seine Frage. »Nach Auskunft der Ärzte ist sie nicht ansprechbar.«
»Ist sie bewusstlos oder was?«, fragte Meinert.
»Eher: oder was.«
Zum ersten Mal, seit Thang sie kannte, wirkte die Staatsanwältin unsicher.
»Ich werde auf jeden Fall veranlassen, dass sie noch heute nach Eberswalde verlegt wird.«
»Wenn es stimmt, was Glaubitz sagt, gehört sie da unbedingt hin«, murmelte Thang. Eberswalde war eine der beiden forensischen Psychiatrien des Landes Brandenburg.
»War’s das von deiner Seite, Wibke?«, fragte PH. Es war offensichtlich, dass er diese Besprechung so kurz wie möglich halten wollte.
»Im Wesentlichen.« Wibke klappte ihr Notebook zu. »Das heißt«, fuhr sie nachdenklich fort, »eine unserer Verwaltungsmitarbeiterinnen – sie hat die Kissen ins System eingepflegt …«
»Welche Kissen?«, fragte Samrei.
Wibke erklärte es ihr. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort. Ihre Beobachtung ist, dass von jeder Kissensorte zwei vorhanden sind. Also zwei rote, zwei grüne«, präzisierte sie. »Bis auf eins, das war ein Unikat. Und ihr kennt ja den Obduktionsbericht. Sollte das Kissen wirklich fehlen, könnte es ein Hinweis darauf sein, dass …«
»Ist das jetzt wirklich noch von Belang?«, unterbrach sie Meinert. »Ich meine, wir haben sein Geständnis.« Er blickte zu Thang. »Das haben wir doch, oder?«
»Trotzdem«, beharrte Wibke. »Es kann nie schaden, Geständnisse durch Beweise zu untermauern.« Sie schob ihr Notebook in ihren Rucksack. »Wie auch immer«, fuhr sie fort. »Ich hab’s euch gesagt. Macht was draus oder lasst es. Und das wäre es dann auch von meiner Seite.«
»Ich werde die Info mit in die nächste Runde nehmen«, versprach Thang. Für ihn waren Verhöre wie Boxkämpfe. Man brauchte einen langen Atem, und es war gut, immer noch etwas mehr als nur die Faust im Handschuh zu haben. Und natürlich hatte Wibke recht. Ein Geständnis konnte widerrufen oder von findigen Verteidigern auseinandergepflückt werden. Er dachte an Glaubitz’ blutende Nase. Beweise hingegen hatten Bestand. Im Krimi endete die Ermittlung immer mit der Festnahme. Im wirklichen Leben begann die eigentliche Arbeit jetzt erst.
»Ich habe übrigens noch Klaudias Smartphone.« Wibke legte es auf den Tisch. »Der Techniker hat es gereinigt. Es dürfte also funktionieren. Ich würde es ihr heute Abend vorbeibringen, falls das nicht einer von euch übernehmen will?«
»Gib’s mir.« Meinert streckte die Hand aus. »Ich wollte sowieso gleich zum Krankenhaus fahren und mit ihr sprechen.«
»Ist das nicht ein bisschen früh?«, fragte PH. »Ich meine, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung.«
»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Meinert. »Aber je eher wir mit ihr sprechen, umso besser. Wir wissen immer noch nicht, was auf dem Hof genau passiert ist. Glaubitz’ Aussage gibt dazu nichts her. Habt ihr ihn überhaupt danach gefragt?«
»Dazu war keine Gelegenheit mehr«, rechtfertigte sich Thang. »Nachdem ich ihn auf Heck angesprochen habe, hat er jede weitere Aussage verweigert.«
»Apropos Heck.« PH schlug sich gegen die Stirn. »Sorry, hätte ich euch gleich sagen sollen. Seine Anwältin hat heute Morgen um einen Termin gebeten. Er sei jetzt bereit, mit uns zu sprechen.« Dass er jetzt erst mit dieser wichtigen Information herausrückte, war ein Zeichen von Stress. Zwei seiner Beamten waren verletzt, einer davon schwer. Das zerrte an ihm.
»Er war also doch abgetaucht?« Thang atmete auf. Ein Opfer weniger.
»Ja«, bestätigte PH. »Er hat sich wohl bei Frau Saling gemeldet, und die konnte ihn davon überzeugen, dass er besser mit uns spricht. Vielleicht können Sie das übernehmen«, bat er Uta. »Der Termin ist um zehn, hier im Revier.«
»Warum ist er überhaupt abgehauen?«, murmelte Meinert. »Das alles wäre nicht passiert, wenn …«
Er beendete den Satz nicht, was auch nicht nötig war, weil jeder am Tisch das Gleiche dachte.
»Das ergibt alles keinen Sinn.« Meinert ballte die Fäuste.
»Wenn Leute immer sinnvoll handelten, wären wir überflüssig. Sonst noch etwas?« PH blickte von einem zum anderen.
»Jemand muss Glaubitz’ Aussage überprüfen, dass er am Samstag Räucheraal ausgeliefert hat«, meldete sich Thang zu Wort. »Kannst du das bitte übernehmen?«, fragte er Uwe. »Du kennst die Spreewaldmärkte hier in der Gegend.«
»Kann ich tun.« Uwe nickte.
»Okay«, PH schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, »dann macht ihr euch am besten an die Arbeit. Herr Kade? Sie begleiten den Kollegen Meinert, und Walburga, du begleitest den Kollegen Rudnik.«
Oh, dachte Thang, die beiden kennen sich also.
»Frau Watzke spricht mit Herrn Heck und wird die Akten auf Vordermann bringen. Wir sind im Endspurt, Leute.«
Der letzte Satz sollte sie anspornen, doch die Kollegen nickten nur müde.
»Wir treffen uns dann heute Abend wieder hier«, fuhr PH fort. »Bis dahin will ich Ergebnisse haben. Das ist das Mindeste, was wir für Klaudia und Peter tun können. Gute Arbeit leisten, damit der Täter auch wirklich verurteilt wird.«