Es war ein frostiger Novembertag, als Klaudia Peter besuchte. Sie hatte schon länger vorgehabt, zu ihm zu gehen, doch erst hatte ihn niemand besuchen dürfen, und dann war er ziemlich schnell in der Reha verschwunden. Sie hatten Durchhaltesmileys hin und her gepostet und ein paar Mal telefoniert. Beim letzten Telefonat hatte er gesagt, dass er wieder zu Hause sei, und Klaudia besorgte kurzentschlossen Weihnachtsplätzchen und stand nun vor dem Haus in der Nähe des Spreeweltenbades, in dem Peter lebte. Sie wollte gerade ein zweites Mal klingeln, als der Türöffner summte. Peter erwartete sie am Treppenabsatz. Er trug eine gefütterte Jacke und Sweathosen. Sein Haar war noch recht kurz und wirkte grauer, als Klaudia es in Erinnerung hatte. Die kreisförmige Narbe, die bis in die Stirn ragte, war noch nicht verblasst. Er war schlanker geworden, das Gesicht fast hager.
»Hi.« Sie begrüßte ihn mit einer vorsichtigen Umarmung.
»Ich breche schon nicht auseinander.« Peter drückte sie fester an sich.
Er roch so normal nach Tabakrauch und Duschgel, dass Klaudia die Kehle eng wurde. Mein Gott, wie hatte sie ihn in den letzten Wochen vermisst.
»Ich bin so froh, dass du lebst.« Er schob sie von sich und musterte sie.
»Geht mir nicht anders.«
»Als ich dein blutiges Handy gefunden habe …«
»Es war nicht mein Blut.« Klaudia schluckte die Rührung herunter und rettete sich in Geschäftigkeit. »Es war deins. Mir hat er zunächst nur eine ordentliche Beule verpasst. Aber lass uns nicht davon reden: Ich habe dir was mitgebracht.« Sie drückte ihm die Tüte in die Hand. »Vielleicht hätte ich es als Geschenk verpacken sollen, aber …«
»Komm erst mal rein«, unterbrach Peter ihren Wortschwall. »Ich kann gar nicht so schnell zuhören, wie du redest.«
»Sorry.« Klaudia musterte den Kollegen verstohlen. Sie hoffte, dass diese Bemerkung einfach nur so dahingesagt war. Sie trat in den Flur und sah sich direkt einem Stoppschild gegenüber, das an einer der Türen hing.
»Das Zimmer deines Sohnes?« Klaudia erinnerte sich noch gut an ihre eigene Teenagerzeit und ihre hilflosen Versuche, ihre Privatsphäre vor übergriffigen Eltern und Schwestern zu verteidigen.
»Gut geraten.«
»Nett hast du es hier.« Klaudia blickte sich um. Es gab ein Schuhregal aus hellem Holz, eine dazu passende Garderobe, an die sie ihre Jacke hängte. An den Wänden hingen großformatige Fotografien von Häusern vor dramatischen Abendhimmeln.
Demel führte sie ins Wohnzimmer. Der Raum war hell und nur spärlich möbliert. Auch hier hingen großformatige Hochglanzfotos an den Wänden. In jeder Ecke des Raumes hing außerdem eine Box, aus der im Moment klassische Musik rieselte. Er war offensichtlich mit seiner Wäsche beschäftigt gewesen. Auf einem Sessel stand ein Wäschekorb, und auf dem Couchtisch stapelten sich gefaltete Handtücher zwischen einer Spielekonsole und diversen Fernbedienungen. Die Heizung knackte, trotzdem stand die Balkontür offen. Auf der Brüstung lag eine Zigarette, von der ein dünner Rauchfaden aufstieg.
»Du rauchst also immer noch.«
»Ich sollte wirklich aufhören.« Demel schloss die Balkontür und nahm den Korb vom Sessel. »Setz dich doch«, forderte er sie auf, während er die Handtücher hineinpackte.
»Aber Rauchen macht auf jeden Fall mehr Spaß, als …«, Demels Adamsapfel ruckte über seinen Hals, »… sich von einer Irren niederschlagen zu lassen und dann noch in der Spree zu landen.«
»Du hättest da nicht allein reingehen sollen.«
»Ich weiß.« Wieder schluckte Demel. »Das sage ich mir auch bei jedem Blick in den Spiegel.«
»Das wird wieder.« Unwillkürlich griff Klaudia sich an den Hinterkopf. Sie war mit einer dicken Beule davongekommen.
»Ich hätte dir Bescheid sagen sollen.« Demel kratzte sich den Nacken.
»Ich habe mit Saling telefoniert.«
»Du hättest mich ja trotzdem gehört. Hättest du doch, oder?« Er musterte sie mit zur Seite geneigtem Kopf.
»Natürlich.« Klaudia wurde auf einmal warm, und dann fror sie.
»Wie dem auch sei.« Demels Grinsen wirkte zu breit für das schmale Gesicht. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass du da bist.«
»Wir sind Kollegen«, erinnerte ihn Klaudia. »Natürlich bin ich für dich da. Wir sind alle für dich da. Ich wusste gar nicht, dass du klassische Musik hörst«, wechselte sie einigermaßen unelegant das Thema.
»Hättest du mir jetzt nicht zugetraut, oder?« Demel grinste. »Aber du hast recht.« Das Grinsen fiel aus seinen Mundwinkeln. »Ich bin auch erst in der Reha auf den Geschmack gekommen.«
»Klingt gut«, sagte Klaudia, deren eigene Musikvorliebe bei C wie Céline begann und bei D wie Dion endete.
»Hier würde selbst dein Scheiß«, grinsend zeigte Demel auf die Boxen, »gut klingen. Ist doch wohl ein irrer Sound, oder?« Er schob den Wäschekorb unter den Couchtisch.
»Auf jeden Fall«, bestätigte Klaudia. Auch wenn diese Dolby-Surround-Beschallung an sie als Monohörerin verschwendet war.
»Willst du einen Kaffee?«
»Du weißt, dass ich davon lebe.« Sie war froh, dass das Thema Hörgenuss beendet war.
Während Demel in der Küche beschäftigt war, stand Klaudia auf und sah sich die Fotos an. »So einen Himmel habe ich hier noch nie gesehen«, sagte sie anerkennend. »Das ist wirklich großartig.«
»Danke.« Er reichte ihr einen dampfenden Becher.
»Wann kommst du zurück?« Klaudia setzte sich wieder.
»Keine Ahnung.« Demel nahm auf dem Sofa Platz und stellte seinen Becher auf den Couchtisch.
Für einen Moment wirkte er so verloren, dass Klaudia ihn am liebsten in den Arm genommen hätte.
»Noch bin ich nicht dienstfähig geschrieben. Ich habe nächste Woche einen Termin beim polizeiärztlichen Dienst.«
»Wahrscheinlich musst du erst einmal Innendienst schieben«, sagte Klaudia. »Zumindest ging es mir so. Wie fühlst du dich denn?«
»Bis auf Kopfschmerzen ganz okay.« Wieder tasteten seine Finger nach der Narbe. »Also zumindest glaube ich nicht, dass ich jetzt mehr einen an der Klatsche habe als vorher. Aber lass uns nicht von mir reden«, bat er. »Irgendwie habe ich das in den letzten Wochen genug getan. Was gibt’s Neues? Habt ihr den Fall in einigermaßen trockenen Tüchern?«
»Wir haben sein Geständnis und ihre Fingerabdrücke auf der Axt, auf der auch noch Blutspuren waren, die wir Rollenhagen zuordnen konnten. Na ja und dann haben wir natürlich den Spaten.«
»An dem wahrscheinlich mein Blut klebte.«
»Ansonsten erinnert sie sich nicht und ist mehr als erschrocken darüber, was ihr Mann getan hat.«
»Dieser Heck war dann also eine Fehlanzeige. Und warum ist er dann abgehauen?«
»Weil er die Nerven verloren hat. Er hat wohl gedacht, wir hätten nichts Besseres zu tun, als ihm den Mord anzuhängen. Aber dann hat er doch eingesehen, dass er mit uns sprechen muss. Er und Saling waren übrigens auf Rollenhagens Beerdigung.«
»Woher weißt du das nun wieder?«
»Rate mal…«
»Dumme Frage.« Demel griff nach seiner Tasse.
Erst jetzt realisierte Klaudia, dass er sich insgesamt langsamer bewegte.
»Wahrscheinlich Schiebschick. Hat er etwa den Kahn mit dem Sarg gestakt?«
»Ich glaube, es war eine ganz normale Beerdigung«, erwiderte Klaudia. »Auf jeden Fall hat er erzählt, dass Heck und Saling mit dem Sohn des Opfers gesprochen haben. Er hat sich wohl bei ihnen entschuldigt.«
»Und das alles weiß Schiebschick?« Demel blickte von seiner Tasse auf.
»Er stand wohl zufällig in der Nähe.« Klaudia schmunzelte. Wenn es interessant wurde, war Schiebschick immer in der Nähe. »Lucas Rollenhagen fühlt sich wohl schuldig, weil seine Aktion zu dem Streit geführt hat.«
»Weißt du das auch von Schiebschick?«
»Natürlich. Von wem sonst?«
»Vielleicht sollten wir ihn zum Revierpolizisten machen«, spottete Demel. »Gegen den ist Uwe doch der reinste Waisenknabe.«
»Der hat übrigens den Hund adoptiert.«
»Welchen Hund?« Wieder kratzte Demel sich die Narbe, dann musterte er seinen Fingernagel.
»Den von Frau Kowar.«
»Okay«, sagte Demel gedehnt. »Dann ist er ja versorgt. Ich meine, wer einen Hund hat, braucht keine Frau.«
»Ich glaube, das sieht Uta anders.«
»Ist sie jetzt fest bei uns?«
»Zumindest so lange, bis du wieder da bist.«
»Ist PH noch da?«
»Nein.« Klaudia schüttelte den Kopf. »Weißt du übrigens, wofür PH steht?«
»Polizeihauptkommissar?«, riet Demel.
»Nein.« Klaudia beugte sich vor. »Ich weiß es von Uta, die hat es von Uwe und der von Petra.«
»Und woher hat die ihr Wissen? Ich meine«, Demel runzelte die Stirn, »sie wird es ja nicht all die Jahre gewusst haben und erst jetzt damit herausrücken.«
»Dein Ermittlergehirn funktioniert zumindest«, räumte Klaudia ein. »Ich weiß nicht, woher sie es weiß. Du kennst sie. Petra schützt ihre Quellen.«
»Wofür steht PH denn nun?«
»Für Pablo Hieronymus.«
»Nicht dein Ernst.« Erst klappte Demels Unterkiefer herab, dann breitete sich ein Grinsen in seinen Mundwinkeln aus.
»Doch wirklich«, versicherte Klaudia.
»Und sonst?«
»Ansonsten ist es ruhig. Wir arbeiten den Fall ab. Wibke lässt dich übrigens grüßen. Sie wollte dich demnächst mal besuchen.«
»Du bist also quasi die Vorhut.« Demel legte den Kopf schief und musterte sie. »Warum habe ich den Eindruck, dass du nicht meine neue Chefin wirst?«
»Weil Meinert das wird«, erwiderte Klaudia. »Ich soll dich auch von ihm grüßen.«
»Meinert?« Demels Unterkiefer klappte wieder herab. »Aber wieso? Du hast den Job doch schon gemacht. Und das einigermaßen ordentlich.«
»Das ist jetzt eine sehr nette Umschreibung für meine organisatorischen Fehlleistungen«, erwiderte Klaudia.
»Trotzdem. Ich finde, die hätten dich nehmen müssen. Immerhin reden sie ja immer von Frauenquote und so, und dann haben sie mal die Chance, eine qualifizierte Frau zu befördern, und tun das nicht? Ich meine …«
»Ich habe meine Bewerbung zurückgezogen«, unterbrach ihn Klaudia.
»Du hast was?«
»Bach hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ausschlagen kann.« Klaudia erzählte ihm von der geplanten Kriminalwache.
»Ach du Scheiße.« Demel stand auf und ging auf den Balkon, dort steckte er sich eine Zigarette an.
Klaudia folgte ihm. Ein kühler Westwind pfiff ums Haus, doch nahe der Wohnzimmertür war es einigermaßen auszuhalten, trotzdem verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Vielleicht sollte ich mich da auch bewerben.« Nachdenklich blies Demel Rauchringe in die Luft, die sich langsam in der leichten Brise auflösten. »Ohne dich wird’s ätzend. Wann wechselst du?«
»Keine Ahnung.« Klaudia trat von einem Bein aufs andere. »Du weißt, wie das geht. Erst werden Pläne gemacht, und dann stellt sich heraus, dass es Geld kosten wird, und dann werden die Pläne auf Eis gelegt. Aber ich denke, irgendwann in den nächsten beiden Jahren. So lange bleiben wir das Dream Team der Kripo Lübben.«
»Wenn sie mich wieder mitspielen lassen.« Demel tastete über die Narbe.
»Das werden sie«, versprach Klaudia. »Das werden sie.«