Kapitel 6

Kaum hatte ich mein Haus betreten, da rief ich auch schon Seth Hannah an, einen alten Freund der Familie und Chef der Blue Ridge Federal. Wie Leland war auch er Mitglied der Romeos, und er hatte mit meinem Vater regelmäßig gepokert und war mit ihm auf die Jagd gegangen. Lange hatte ich vermutet, Seth sei in meine Mutter verknallt gewesen, wie übrigens etliche Männer, die von ihrer Schönheit und ihrem französischen Sinn für Stil fasziniert waren.

»Was kann ich für dich tun, meine Liebe?«, fragte er.

»Ich möchte nur meinen Kontostand wissen. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas abgebucht wurde oder nicht.« Oder ob das Konto leergeräumt war.

Ich hörte das Klicken der Computertastatur, dann nannte er eine Summe, die meinen Berechnungen entsprach.

»Nett, dass ich dir helfen darf, aber wie du weißt, kannst du das auch alles online erledigen.«

»Das ist mir bekannt, aber ich wollte dich um etwas bitten, das sich mit dem Computer nicht erledigen lässt.« Ich fragte mich, ob er wohl meine Erleichterung heraushörte, dass es überhaupt noch ein Guthaben gab, über das wir reden konnten.

»Worum geht es?«

»Ich möchte sicherstellen, dass niemand außer mir Zugang zu meinem Konto hat«, sagte ich.

»Ach so, das ist es also, Lucie. Wehalb möchtest du das denn?«

Ich zögerte, und Seth wartete.

Nach einer Weile sagte er: »Es handelt sich doch wohl nicht um deinen Bruder?«

»Bitte, rede mit niemandem darüber, Seth. Er war gerade bei mir und wollte sich Geld von mir leihen, aber ich habe ihm eine Abfuhr erteilt. Er weiß, dass auf dem Konto eine Menge Geld ist.«

Eine lange Pause folgte. »Es ist kein Geheimnis, dass er finanziell ganz hübsch in der Klemme sitzt. Du hast Angst, dass er einen Scheck von dir einlöst oder dergleichen?«

»Als wir noch jünger waren und Eli ein miserables Zeugnis oder eine Benachrichtigung über irgendeine Bestrafung bekam, hat er manchmal die Unterschrift meiner Eltern gefälscht. Er konnte sie beide nachmachen, und sie gingen glatt für echt durch.«

»Verstehe.« Seth räusperte sich. »Das Fälschen einer Scheckunterschrift ist ein schweres Verbrechen, wie du weißt.«

Ich saß in der Eingangshalle auf einem der kunstvoll bezogenen Stühle meiner Mutter im Queen-Anne-Stil und starrte auf Lelands Büste von Thomas Jefferson. Ich lehnte mich zurück und kniff meinen Nasenrücken zusammen. Im Haus war es jetzt noch wärmer als am Morgen. Obwohl die Fenster geöffnet waren, glaubte ich, fast ersticken zu müssen.

»Ich weiß.«

»Lass mich Folgendes sagen: Wir haben einen ganzen Haufen gefälschter Schecks, und ich weiß nicht, wie oft der Fälscher ein Verwandter war oder Zugang zu Informationen über die finanzielle Situation der betroffenen Person besaß«, sagte er. »Wenn du Eli nicht vertraust, tust du gut daran, deine Dinge abzusichern.«

»Es ist nicht so, dass ich Eli nicht vertraue …«

»Liebes, du brauchst nicht um den heißen Brei herumzureden. Ich weiß ja, dass Eli ein prima Kerl ist.« Seth gab einen Laut von sich, der nicht ganz einem Lachen entsprach. »Aber wer sagte doch: Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen?«

»Jeder?«

Diesmal lachte er. »Schau, ich mache in deinen Unterlagen eine Notiz, dass du die einzige Person bist, die Verfügungsgewalt über dein Konto hat. Bist du damit einverstanden?«

»Ich denke, ja. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, wie du dir vorstellen kannst. Noch hat Eli ja nichts unternommen.«

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Lucie. Es ist unglaublich, wie viele Leute ich schon über Geld habe Krieg führen sehen. Und du hast ja keine Ahnung, wie viel Zeug wir hier in unseren Schließfächern liegen haben, nur weil sich die liebe Verwandtschaft wegen irgendetwas nicht einig werden konnte. Teufel auch, wir haben hier im Tresorraum sogar die Urne mit der Asche eines Verstorbenen.«

»Das ist doch wohl ein Scherz.«

»Mitnichten. Wer immer ihm bei uns eine ruhige Schlafstätte besorgt hat, wünscht ihm süße Träume. Das geht jetzt schon seit sechzehn Jahren. Wir haben ihn mittlerweile schon fast liebgewonnen.«

»Da kann ich nur hoffen, dass uns das nicht auch passiert. Dass wir uns in die Haare geraten, meine ich.«

»Dann rede mit deinem Bruder. Geh es offensiv an.«

»Das kann ich nicht. Er ist jetzt schon sauer auf mich, weil ich ihm nicht das Geld für seine Hypothekenrate leihe.«

»Möchtest du meine Meinung hören?« Er würde sie mir mitteilen, ob ich wollte oder nicht. »Ich kenne dich und Eli und Mia seit eurer Geburt. Euer Vater war nicht immer ein aufrichtiger Bursche, und es tut mir weh, dir dies sagen zu müssen. Aber eure Mutter war so ungewöhnlich und edel wie eine seltene Blume. In ihrem kleinen Finger besaß sie mehr Redlichkeit als die meisten Leute in ihrem ganzen Körper. Wäre sie heute noch unter uns, dann würde sie dir raten, deinem Bruder gegenüber direkt und offen aufzutreten.«

Der Kloß im Hals machte es mir schwer, ihm zu antworten. »Ich weiß. Danke, Seth.«

»Bitte.« Er schwieg, und ich erwartete, dass er sich irgendwie verabschieden würde. »Übrigens, gibt es irgendwelche Neuigkeiten über die Leiche, die du auf eurem Grundstück gefunden hast?«

Ich setzte mich aufrecht hin. Er wusste genauso gut wie ich, dass es noch zu früh war, als dass irgendetwas Offizielles hätte verlautet werden können. Er versuchte etwas aus mir hervorzulocken.

»Nein. Nichts.«

»Nun ja, ich hoffe natürlich …« Er ließ seine Bemerkung im Raum stehen.

Ich wartete darauf, dass er mir erklärte, dass Leland nichts damit zu tun hatte. Aber den Gefallen tat er mir nicht.

»Danke für den Ratschlag, Seth. Ich bin dir sehr dankbar dafür.«

»Ansonsten alles in Ordnung mit dir?«

»Mach dir keine Gedanken um mich. Ich komme schon damit klar.«

»Natürlich schaffst du das.« Er hielt sich zurück. »Schau, Lucie, du sollst wissen, dass ich immer auf deiner Seite stehe, was auch geschehen mag. Wann immer du reden möchtest oder irgendeine Frage hast, brauchst du nur zum Telefonhörer zu greifen. Das bin ich euch Kindern und dem Andenken eurer Mutter schuldig.«

Er legte auf, und ich saß dort mit der Frage, weshalb er nichts darüber gesagt hatte, was er dem Andenken Vater schuldig war.

Bobby kam erst nachmittags in die Villa zurück, während ich noch in meinem Büro über den endlosen Steuerformularen hockte, die wir dem Finanzamt schicken mussten, damit wir unsere Lizenz zum Weinverkauf behielten. Frankie erschien in der Tür und teilte mir mit, Bobby warte im Probierraum auf mich.

Sie senkte die Stimme. »Ich habe das Gefühl, sie sind fertig. Die anderen Polizeiwagen und dieses Fahrzeug von der Spurensicherung sind weg.«

»Nach einem Tag sind sie schon fertig?«

»Scheint so. Vielleicht kannst du ihn fragen.«

»Keine Sorge. Das tue ich.«

Bobbys Hemd war völlig durchgeschwitzt, und die Haare klebten ihm am Kopf, als käme er vom Schwimmen.

»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«, fragte ich. »Wir haben Wasser in Flaschen und etwas Sodawasser in der Kühlbox. Es ist immer noch kalt.«

»Danke, aber ich habe mein eigenes Kühlaggregat im Wagen.« Er rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn und legte am Haaransatz ein Dreieck weißer Haut frei, das stark mit dem Rest seines sonnenverbrannten Gesichts kontrastierte.

»Ich wollte dich nur informieren, dass wir unsere Arbeit erledigt haben«, sagte er. »Das Absperrband zur Sicherung des Tatorts wird noch ein paar Tage dort bleiben, und wir kommen zurück, um das Unterholz in der Nähe zu durchsuchen, falls wir etwas vergessen haben sollten.«

»Ihr habt die Überreste ausgehoben?«, fragte ich. »Vollständig?«

Er nickte.

»Habt ihr außer dem Schädel und dem Knochen, den Bruja ausgebuddelt hat, noch etwas gefunden?«

Seine Lächeln war matt. »Tut mir leid, ich darf nichts sagen.«

»Nun ja, wärt ihr denn in der Lage, den Mann nur anhand des Schädels zu identifizieren, wenn das alles ist, was ihr habt?«

»Das betrifft Junies Bereich.«

»Und dazu äußerst du dich nicht.«

»Momentan gibt es nichts, das ich mitteilen müsste.«

Ich seufzte und gab es auf. »Kommst du am Wochenende mit Kit zu unserem zwanzigjährigen Jubiläum?«

Seine Miene verzog sich zu einem leichten Lächeln. »Wir haben es fest vor.«

»Wusste ich doch, dass ich dich dazu bringen würde, wenigstens eine Frage zu beantworten«, sagte ich.

»Du warst schon immer wie ein Hund mit einem Knochen«, sagte er. »Seit ich dich kenne.«

»Du hättest getrost einen anderen Vergleich als ausgerechnet Hund und Knochen wählen dürfen. Oder eine andere Frage beantworten.«

Er grinste. »Der Vergleich hat mir aber ganz gut gefallen. Wenn ich dich so betrachte.« Seine Hand lag schon auf der Türklinke, als er stehen blieb und sich umdrehte.

»Eins kann ich dir ja vielleicht verraten. Es sieht danach aus, als handelt es sich nur um eine Person da draußen.«

Nachdem er gegangen war, machte ich so viele Fehler beim Ausfüllen der Steuererklärung, dass ich schließlich den Stift beiseitelegte und auf die Terrasse ging. Frankie fand mich dort, wie ich auf die Felder und Weinreben starrte. Sie überreichte mir ungefragt ein Glas Wein. Perfekt gekühlten Riesling.

»Wo hast du den denn her?«

»Ich bin im Weinkeller gewesen. Möchtest du darüber reden? Es könnte dir guttun.«

Ich trank einen Schluck Wein, während sie einen der Korbstühle heranzog und sich setzte.

»Ich weiß, dass ich mich auf die Sturmschäden konzentrieren sollte, aber ich muss ständig an diesen Schädel denken. Ich frage mich, wer es sein könnte und wie er dort hinkam. Bobby geht davon aus, dass die Person, die ihn getötet hat, aller Wahrscheinlichkeit nach in Verbindung mit der Farm gestanden hat.« Ich schwieg einen Moment. »Selbst Eli würde sich nicht wundern, wenn Leland irgendwie mit der Sache zu tun hatte.«

»Und du glaubst es nicht?« Ihre Stimme war freundlich, doch dahinter verbarg sich eine Art Vorwurf, ich solle mich nicht selbst zum Narren halten.

Ich wählte meine Worte sehr sorgfältig. »Mein Vater war ein komplizierter Mensch, dessen Urteilsvermögen oft zu wünschen übrig ließ. Er traf katastrophale Geschäftsentscheidungen, und er war ein Zocker. Und er hatte eine Reihe von Affären, obwohl er meine Mutter sehr liebte. Manchmal denke ich, dass er glaubte, sie nicht verdient zu haben, und dass er deshalb fremdgegangen ist.«

»Deine Mutter hätte ich gerne kennengelernt«, sagte Frankie.

Ich hob eine Augenbraue. »Leland hättest du wohl nicht so gerne kennengelernt, was?«

»Das habe ich nicht gesagt …«

»Vergiss es. Ich mache dir das Leben ganz schön schwer.« Ich nippte an dem Wein und hielt das kühle Glas an meine Wange. Es fühlte sich gut an. »Wahrscheinlich wirkt es komisch, dass ich meinen Vater verteidige, aber ich weiß, dass er kein Mörder war. Er hat diesen Mann nicht umgebracht und es dann zeit seines Lebens verheimlicht. Wenn er es getan hätte, wäre er daran zerbrochen.«

Frankie legte zwei Finger auf die Lippen und wirkte nachdenklich, während ihr Blick über mein Gesicht wanderte. Ich glaubte, Mitleid in ihm zu sehen.

»Du nimmst mir das nicht ab?«, fragte ich. »Du meinst, ich könne nicht objektiv urteilen.«

»Natürlich nehme ich dir das ab«, sagte sie. »Vielleicht wäre es am besten, das Ganze zu vergessen, bis sie die Leiche identifiziert haben. Dann kannst du weitersehen.« Sie stand auf. »Ich hole mal die Weinflasche.«

Plato sagte einmal, Wein gebe dem Herzen Mut. Frankie füllte mein Glas und genehmigte sich selbst auch noch ein Glas.

Mein Herz spürte keinen Mut, während ich trank. Stattdessen wurde es von Vorahnung und langsam einsickernder Angst gequält. Bis gestern hatte ich noch geglaubt, alle Sünden und Geheimnisse unserer Familie lägen in unserem Friedhof begraben.

Was aber, wenn ich unrecht hatte?

Am späten Nachmittag rief B. J. Hunt an. Ich hatte schon damit gerechnet, von ihm zu hören, sobald ihm etwas über den Fund einer Leiche auf dem Gelände, das er für seine Aufführung nutzen wollte, zu Ohren kommen würde.

»Ich würde gerne mal vorbeikommen und mir das Ganze aus der Nähe betrachten«, sagte er. »Sieht ja danach aus, als wenn wir unsere Pläne ändern müssten, nachdem die Kripo bei Ihnen auf dem Gelände Absperrband gespannt hat. Und wenn ich richtig informiert bin, hat der Tornado Sie ebenfalls erwischt.«

»Schlechte Nachrichten machen schnell die Runde«, sagte ich. »Ich schätze, Thelma hat heute Morgen ihr Megaphon ausgepackt, was?«

»Es spricht sich in der Tat verdammt schnell rum, das kann man wohl sagen.« Er kicherte. »Na ja, ich bin nicht der Einzige, der kommen möchte. Ray Vitale ist hier. Er will sich ebenfalls das Gelände anschauen, da er noch nie hier gewesen ist.«

»Wer ist Ray Vitale?«

»Der Befehlshaber der Unionisten. Der Typ ist ziemlich extrem und lebt so, als hätten wir immer noch das Jahr 1860. Meine gesamte Korrespondenz mit ihm ist per Post gelaufen. Das heißt U.S. Postal Service, nicht etwa E-Mail. Er ist so ein Pedant, dass er sich auf nichts anderes einlässt. Geht einem zuweilen ordentlich auf den Geist.«

»Und wie halten Sie es?«

»Mir ist es egal, was jemand trägt. Ich bin der Überzeugung, dass man nicht auf seine Uniformknöpfe pissen muss, um sie alt erscheinen zu lassen. Es stinkt höllisch, wenn man das macht. Solange niemand in Turnschuhen und mit Handy aufkreuzt, reicht mir das.«

»Klingt, als wäre Ihr Freund ein Fanatiker«, sagte ich lachend.

»Nein. Ein Fanatiker ist für mich etwas total anderes. ›Der Süden wird wieder aufstehen!‹ – Das ist ein Fanatiker. Die haben den Unionisten nicht verziehen, dass sie gewonnen haben. Manche befinden sich immer noch im Krieg. Und ein Yankee-Fanatiker will uns immer noch bestrafen.«

»Wie sind Sie denn mit jemandem wie Ray in Kontakt gekommen?«

»Oh, wie üblich. Über Geschäfte. Er betreibt ein paar Heime für betreutes Wohnen in Virginia und North Carolina. Wir haben mehrere Bestattungen von Menschen abgewickelt, die bei ihm wohnten.«

»Was halten Sie davon, wenn Sie morgen früh gleich als Erstes bei mir vorbeikommen?«, fragte ich. »Ich bringe Sie dann selbst hin.«

»Wie wäre es, wenn wir sofort kommen? Sagen wir, in einer halben Stunde? Ray muss noch heute Abend nach Richmond zurück.«

Die geplante Aufführung hatte erhebliches Medieninteresse geweckt, und das bedeutete natürlich kostenlose Werbung für die Weinkellerei. Wir hatten keine Ahnung, wie viele Leute kommen würden, doch es war durchaus denkbar, dass an dem Wochenende um die tausend Leute das Weingut besuchen würden, und zwar sowohl Teilnehmer an dem Spektakel als auch Zuschauer. Für uns war das eine Menge.

Ich hatte eigentlich vorgehabt, die Villa abzuschließen und mich nach Hause zu verkrümeln, doch wenn B. J. noch an diesem Abend kommen wollte, würden wir es eben heute hinter uns bringen.

»Natürlich«, sagte ich. »Wir treffen uns um halb sechs auf dem Parkplatz.«

»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür, Lucie«, sagte er. »Ray ist furchtbar besorgt wegen der Ereignisse bei Ihnen, und deshalb ist es gut, wenn wir ihn beruhigen können.«

Die Ereignisse bei uns. Schlechte Nachrichten machten wirklich schnell die Runde.

Ich schloss die Villa ab und rief Quinn über mein Handy an, das endlich wieder funktionierte. Er klang müde.

»Wir kommen voran mit den Aufräumarbeiten«, sagte er, »aber nur langsam. Sobald wir in den nächsten Tagen mit dem Beschneiden und Hochbinden der Reben fertig sind, die noch gerettet werden können, werde ich wohl einen Minibagger mieten. Und, eh, Benny ist mit der Kettensäge an der Stelle zugange, wo die Platane umgestürzt ist. Die Straße sollte also wieder passierbar sein, wenn Sie nach Hause fahren.«

Mit der Erwähnung des Baums hatte er mich auf dem falschen Fuß erwischt.

»Danke, aber ich gehe noch nicht nach Hause«, sagte ich. »B. J. und ein Mensch, der als Befehlshaber der Unionisten auftritt, wollen sich das Gelände anschauen. Sie machen sich Sorgen wegen der Aufführung. Der Unionisten-Mensch hat von der Leiche gehört und scheint richtig Muffensausen zu haben. B. J. muss ihn beruhigen.«

»Glauben Sie, dass sie die Sache abblasen?«

»Nein. Sie wollen wohl nur wissen, ob sie ihre Pläne den Gegebenheiten anpassen müssen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Ich schaffe das schon allein, aber trotzdem vielen Dank. Gehen Sie lieber nach Hause, um sich etwas auszuruhen. Sie klingen ziemlich kaputt.«

»Ja, das bin ich wohl.« Er machte eine Pause und schien mit jemandem im Hintergrund zu reden. »In Ordnung. Warte einen Moment«, hörte ich ihn sagen, dann sprach er wieder zu mir: »Tyler will wissen, ob er auch kommen kann. Er möchte diesen Unionisten-Typ treffen.«

B. J. hatte mir mal die drei Gründe erläutert, weshalb sich Leute für das Nachstellen der Bürgerkriegsereignisse begeisterten. Entweder waren sie dermaßen fasziniert von einer Periode in unserer Geschichte, dass sie diese so intensiv wie möglich erleben wollten, gleichsam als eine Art Zeitreise, oder sie waren wie kleine Kinder mit ihrem Spielzeug – Männer, die gerne herumballerten und Krieg spielten. Der dritte Grund bewegte sich zwischen den beiden ersten und hatte damit zu tun, der nächsten Generation etwas über jene Zeit in unserer Geschichte vermitteln zu wollen, als Amerika mit sich selbst im Krieg lag. Außerdem war es eine Art Ehrenbezeigung gegenüber jenen, die ihr Leben für eine Sache geopfert hatten, die es ihnen wert erschien. Tylers Interesse bestand aus einer Mischung der ersten beiden Gründe. Er engagierte sich für die Aufführung von Balls Bluff, kurz nachdem er mit der Arbeit auf dem Weingut begonnen hatte, und er war in die Heimatgarde von B. J. eingetreten, die Kompanie G der 8. Virginia Infanterie.

»Wenn Sie Tyler nicht brauchen …«, setzte ich an.

»Oh, glauben Sie mir«, sagte Quinn, »er hat hier genug getan.«

Ich beschloss, die Sache nicht zu vertiefen. »Sagen Sie ihm, dass ich ihn in einer Viertelstunde auf dem Parkplatz treffe. Ich bin auf dem Weg zum Geräteschuppen, um mir eine Mule zu holen.«

»Ich glaube, Chance ist dort«, sagte er. »Er repariert einen Rasentrimmer. Bitte tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie ihm, dass er sein Handy anstellen soll. Seit einer Stunde versuche ich ihn zu erreichen.«

»Vielleicht hat er dort keinen Empfang.«

Quinn knurrte. »Wir vermissen die dodine, und ich möchte morgen die bâttonage beim Cabernet und Merlot vornehmen. Tyler sagt, er habe keine Ahnung, wo sie geblieben sein könnte. Vielleicht hat Chance sie irgendwo.«

Eine dodine war eine Rührstange, mit der man den Bodensatz in den Fässern verquirlen konnte, und sie sah aus wie ein langer Metallstab mit einem kleinen Propeller am Ende. Wenn man sie in das Fass hinunterließ, begann sie alles aufzuwirbeln und zu verrühren wie bei einem Mixer, in den man breiigen Orangensaft schüttete. Quinn schwor auf die regelmäßige bâttonage oder das Verquirlen sowohl bei Rot- als auch Weißwein. Er behauptete, dadurch bessere Ergebnisse zu erzielen, da die Gerbstoffe weicher würden, die Aromen und die Würze würden intensiver, und insgesamt bringe dies einen cremigeren, geschmeidigeren Wein hervor.

Ein kaputter Rasentrimmer und eine vermisste dodine. Sollte Quinn recht behalten, dass wir mehr Pech und Pannen hatten als üblich?

»Ich werde mit Chance reden«, sagte ich und seufzte. »Wie kann denn etwas so Großes wie die dodine einfach verschwinden?«

»Das wüsste ich auch gerne.« Die Worte kamen kurz und knapp. Und es klang, als verdächtige er erneut Chance.

»In Ordnung«, sagte ich, doch er hatte das Gespräch bereits beendet.

Die köchelnden Kopfschmerzen hinter meiner Stirn begannen zu klopfen. Als ich mich dem Geräteschuppen näherte, ertönte der dröhnende Bass eines Ghettoblasters derart laut, dass der Boden unter meinen Füßen zu zittern schien, und ähnlich dem Klopfen in meinem Kopf. Chance bemerkte mich nicht, bis ich seinen Arm berührte. Bruja schlief fest, unwahrscheinlich genug, doch sie hatte ihre Ohren mit den Pfoten bedeckt.

»Können Sie das mal leiser stellen?«, formte ich mit den Lippen.

Er ging zum Ghettoblaster und stellte ihn aus. Die Stille schien den Raum zwischen uns zu füllen, und Bruja hob den Kopf, während ihr Schwanz zu wedeln begann.

»Jetzt weiß ich auch, weshalb Sie nicht auf Quinns Anrufe reagiert haben. Beim nächsten Mal sollten Sie Ihr Handy wenigstens auf Vibrationsalarm stellen.«

Er lächelte sein hypnotisierendes Lächeln und zog sein Handy aus der Tasche. »Der Akku ist leer. Ich habe gestern vergessen, ihn aufzuladen. Was will Quinn denn von mir?«

Sein Blick hielt meinen fest, freundlich, fragend, mit einem Hauch Zweideutigkeit. Ich musste unser Gespräch wieder in rein geschäftliche Bahnen lenken.

»Die dodine ist verschwunden. Er wüsste gerne, ob Sie eine Ahnung haben, wo sie abgeblieben sein könnte.«

Ich fummelte im Schlüsselkasten herum, bis ich schließlich den Schlüssel für die rote Mule gefunden hatte. Er befand sich nicht an der Stelle, wo er zu sein hatte. Die anderen Schlüssel auch nicht. Ich begann sie an die richtigen Haken zu hängen.

»Die dodine? Tut mir leid, habe ich nicht gesehen«, sagte er. »Schon seit ein paar Tagen nicht mehr.«

»Was ist denn mit dem Rasentrimmer? Wer die Schlüssel hier benutzt, soll sie anschließend wieder ordentlich zurückhängen. Da findet man ja nichts mehr. Ein ziemlicher Saustall ist das hier.«

»Ich werde mit den Jungs reden. Und der Rasentrimmer braucht einen neuen Faden. Ich setze ihn ein.«

Ich beendete das Sortieren der Schlüssel. »Sie sollten besser noch mal mit Quinn reden, bevor Sie uns heute Abend verlassen.«

»Ich würde ihm lieber aus dem Wege gehen, wenn er sich so verhält.«

»Wenn er sich wie verhält?«

Er lächelte immer noch, doch auf seinem Gesicht zeigte sich jetzt echte Verwirrung. »Kommen Sie, Lucie. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie es nicht wüssten. Ich nahm an, Sie hätten bisher einfach nur ein Auge zugedrückt.«

»Wovon reden Sie?«

»Die Art und Weise, wie er die Arbeiter behandelt. Und mich. Wie können Sie nur mit jemandem zusammenarbeiten, der …« Er zuckte mit den Achseln.

»Der was?«

Er starrte eine Weile auf seine Füße, dann blickte er hoch. »Der so niederträchtig ist. Das ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt.«

Es traf mich wie ein Schlag. Quinn konnte grob, gereizt und widerborstig sein. Doch als niederträchtig würde ich ihn nie bezeichnen. Dazu gehörten Unmenschlichkeit oder Grausamkeit.

»Quinn ist ein guter Winzer«, sagte ich. »Manchmal kann er kurz angebunden sein, und vielleicht ist er auch leicht aufgebracht, wenn während der Ernte alles schnell gehen muss. Doch sich selbst gegenüber ist er härter als zu jedem anderen.«

Chance schüttelte den Kopf, als habe ich ihn nicht richtig verstanden.

»Tut mir leid. Das ist nicht wahr. Wenn Sie nicht dabei sind, geht er mit den Arbeitern wirklich knallhart um. Sie sehen oder hören doch nicht alles, was hier so vor sich geht.«

Ich strich mit dem Finger über die Kerben des Zündschlüssels.

»Ich verschließe wahrlich nicht meine Augen vor seinen Fehlern. Aber in den zwei Jahren, die er jetzt für mich arbeitet, ist mir nicht eine einzige Klage zu Ohren gekommen.«

»In so einer Sache wollen Sie also wirklich zu ihm halten? Kommen Sie, Lucie!«

Er klang fast heiter, als versuche er, mich zu etwas so Unverfänglichem zu beschwatzen, wie gemeinsam mit ihm ein Glas zu heben. Dabei beschuldigte er Quinn, sich gegenüber den Männern verletzend zu benehmen.

»Ich kann einfach nicht glauben …«

»Die Arbeiter trauen sich nicht, den Mund aufzumachen. Sie haben Angst vor ihm.«

Mein Telefon klingelte, und auf dem Display erschien Hunt & Sons Funeral Home. »Warten Sie. Ich muss das Gespräch annehmen.«

Ich klappte mein Handy auf. »Hallo, B. J. … Ja, ich bin auf dem Weg. Ist Ray Vitale mitgekommen? … Schön. Ich brauche noch zwei Minuten … Gut … Bis gleich.«

Ich steckte das Handy weg und sagte zu Chance: »Schauen Sie, das ist eine ziemlich schwere Beschuldigung. Ich muss jetzt los, aber wir müssen dieses Gespräch irgendwann zu Ende führen.«

Er stand dort und hielt den neuen Faden für den Rasentrimmer in der Hand, mit einem leeren, nicht zu deutenden Ausdruck in den Augen. Enttäuschung über mich? Entrüstung?

Eigentlich schien es etwas anderes zu sein.

»Natürlich«, sagte er. »Wir können darüber reden, wann immer Sie wollen.«

»Chance«, bat ich ihn eindringlich, »nehmen Sie es mir nicht übel, aber B. J. möchte den Menschen beruhigen, der die unionistische Truppe der Aufführung befehligt. Der Mann ist wegen des Grabs völlig außer sich, und ich muss die beiden zu der Stelle fahren.«

»Sie sind die Chefin.« Er nahm einen Lappen und wischte sich damit Fett von den Händen.

»Soll ich Quinn sagen, dass Sie nicht wissen, wo die dodine ist?«

»Nicht nötig. Ich werde mit ihm reden. In ein paar Minuten bin ich drüben.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen.«

»Im Gegensatz zu den Arbeitern komme ich allein mit Quinn klar.«

Er wischte noch immer seine Hände an dem Lappen ab, schaute mich jedoch nicht an. Ich wollte etwas sagen, um das Gespräch freundlicher zu beenden, doch mir wollte einfach nichts einfallen.

Stattdessen drehte ich mich um und ging, wobei ich den Schlüssel so lange umklammerte, bis sich mir die harten Kanten in die Handfläche bohrten.

Es stimmte, dass Quinn sich zunehmend über die unerfahrenen Tagelöhner ärgerte, die für uns arbeiteten. Viele hatten keinerlei Erfahrung mit der Landwirtschaft und schienen häufig überhaupt nicht zu wissen, was sie draußen in den Feldern tun sollten, wenn irgendwelche nervtötenden, aber notwendigen Aufgaben anstanden, wie Blätter stutzen oder dergleichen. Hatte die nicht enden wollende Serie von Störungen und Fehlern im Verbund mit einer ständig wechselnden und unqualifizierten Crew dazu geführt, dass Quinn die Grenzen überschritt und mit den Leuten viel zu grob rumsprang, wie Chance behauptete?

Sollten die Arbeiter wirklich zu eingeschüchtert sein, um sich zu beschweren, dann hatte Chance mir gerade eine weitere Bürde auf die überlasteten Schultern gelegt, zusätzlich zu den Schäden durch den Tornado und Bobbys Ermittlungen. Momentan verdrängte dieses Problem alle anderen.

Früher oder später würde ich Quinn mit den Anschuldigungen konfrontieren müssen. Ich stieg in die Mule und fuhr zum Parkplatz. Mir graute vor dem Gespräch.