Kapitel 15

Bobby erschien am Dienstagmorgen schon früh im Weingut und traf mich dabei an, wie ich im Hof welke Blüten aus den Blumenampeln zupfte. Von einem Tag auf den anderen war das Wetter umgeschlagen, die Temperaturen waren gesunken, und es hing ein Geruch in der Luft, als wolle es bald Herbst werden. Der Sommerhimmel mit seinem intensiven Lapislazuliblau hatte nun einen stahlblauen Farbton angenommen und signalisierte, dass wir mit weiteren Wechseln zu rechnen hatten, einschließlich des unwillkommenen Besuchs durch Hurrikan Edouard.

Ich hörte das Knirschen des Kiesbodens unter seinen Schuhen und blickte auf. Er war wie ein Geschäftsmann gekleidet und trug Sportjackett, ein weißes Hemd und Krawatte. Seine Miene war die eines unbeteiligten Cops, eines Fremden, der nicht länger der Freund aus Kindertagen war. Ich suchte seinen Blick und fragte mich, was ihm jedes Mal durch den Kopf gehen mochte, wenn er eine Nachricht zu überbringen hatte, die jemandes gesamte Welt zusammenbrechen ließ, wie er es gleich bei mir tun würde.

»Ich möchte mit dir reden«, sagte er und half mir von der Leiter neben einer Blumenampel. »Ich habe Neuigkeiten für dich.«

»Geht es hier, oder sollen wir woandershin?« Ich legte die Gartenschere oben auf die Leiter.

»Wir können hierbleiben.«

Ich langte nach der Krücke. »Sollen wir uns dann auf die Mauer setzen?«

»Gut.«

Ich blickte hinüber zu den Reben mit ihren schweren Trauben und zu den Bergen. Dünne Wolkenschwaden zerschmolzen am blassen Morgenhimmel wie auf einem verwaschenen Aquarell. Ich schloss die Augen und wartete darauf, wie die schlechte Nachricht lauten würde.

»Ich will direkt zur Sache kommen«, sagte er, »Annabel Chastain ist gestern erschienen, um die Fragen zu beantworten. Nach allem, was sie ausgesagt hat, und auf der Basis einiger anderer Beweismittel haben wir Anlass zu der Annahme, dass dein Vater für den Tod von Beau Kinkaid verantwortlich ist.«

Er beschönigte es nicht, das musste ich ihm zugutehalten.

»Du glaubst doch nicht wirklich …«

Er hob eine Hand. »Warte! Lass mich ausreden. Leland Montgomery ist tot, und es gibt nichts, was strafrechtlich verfolgt werden muss. Falls Mrs Chastain Schadenersatzansprüche gegen das Weingut deines Vaters erheben sollte, wird das vor einem Zivilgericht verhandelt. Doch wie es aussieht, scheint sie es nicht vorzuhaben. Das heißt, du bist aus dem Schneider. Es ist vorbei, Lucie, und wir schließen die Sache ab.«

»Aus dem Schneider, außer dass mein Vater ein Mörder ist?«

»Schau, niemand weiß, wie es sich abgespielt hat. Vielleicht war es Notwehr. Vielleicht auch nicht. Aber wir haben genügend Beweise für die Fehde zwischen Beau und deinem Vater, zusätzlich eine Zeugin, die Beaus Anwesenheit im Hause deines Vaters an jenem Tag bestätigt, von dem Annabel sagt, dass ihr Mann verschwunden ist.«

»Dominique.«

»Ich weiß es zu schätzen, dass sie es gemeldet hat.« Er zog ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche und hielt es mir hin.

»Nein danke.«

Er wickelte ein Stück aus und schob es sich in den Mund. »Wir haben jede Menge akuter Fälle, und du weißt, wie dünn unsere Personaldecke aufgrund der Etatkürzungen ist. Dies hier ist ein ziemlich klarer Fall. Wir haben eine Menge herausfinden können. Bei so alten Fällen kann man nur selten damit rechnen, doch diesmal war es eben so.«

»Du sagst, ihr habt weitere Beweise.« Ich fühlte mich immer noch wie betäubt. »Meinst du die Kugel?«

»Wir haben noch kein endgültiges Ergebnis aus dem Labor, aber die Kugel, die Junie bei der Autopsie gefunden hat, war schon sehr zersetzt«, sagte er.

»Dann wisst ihr also noch nicht mit Sicherheit, dass es Lelands Revolver war?«

Er wiederholte geduldig: »Wir haben genügend andere Beweise …«

Ich unterbrach ihn. »Ich verstehe nicht, weshalb ihr Annabel Chastain glaubt. Ihre Aussage steht ganz allein. Dominique sagt, Beau habe das Haus lebend verlassen. Warum soll Annabel es nicht getan haben?«

Er schaute zum Horizont hinüber, bevor er antwortete. Da wusste ich, dass der andere Beweis – was immer es sein mochte – Leland überführt hatte. Etwas, was Bobby wusste, ich hingegen nicht.

»Annabel und dein Vater hatten ein Verhältnis. Sie besitzt Briefe. Leland wollte Beau aus dem Weg haben, um mit ihr zusammen sein zu können. Es handelte sich um mehr als nur eine geschäftliche Auseinandersetzung, es ging um persönliche Interessen.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, dass ich dich damit belasten musste.«

Mir schnürte es die Kehle zu. Ein Verhältnis! Bobby konnte zufrieden sein, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelte. Es warf ein völlig neues Licht auf die ganze Geschichte. Leland war bekannt als Schürzenjäger, folglich passte alles zusammen oder, nicht?

»Dominique sagte, Beau habe meinen Vater an jenem Tag besucht, an dem meine Mutter mit mir niedergekommen ist. Du willst mir also weismachen, mein Vater habe an einer heißen Affäre festhalten wollen, als ich geboren wurde? Dass er meine Mutter mit einem zweijährigen Jungen und einem Neugeborenen Baby sitzen lassen wollte?«

»So etwas wäre nicht das erste Mal. Ich habe dergleichen schon erlebt.«

Er zog einen Umschlag aus der Brusttasche seines Sportjacketts. Ich brauchte nicht erst den Inhalt zu sehen, um sein Briefpapier zu erkennen. Ein Umschlag mit der Prägung »Highland Farm« hinten auf der Lasche. Bobby reichte ihn mir.

»Lies es. Ich muss dich um eine Bestätigung bitten, dass es die Handschrift deines Vaters ist.« Als ich zögerte, sagte er: »Bitte.«

Ich nahm den Brief heraus und las. Leland wollte, dass Annabel Beau verlassen sollte. Außerdem wollte er sich mit ihr treffen, um darüber zu reden. Es war nicht gerade Shakespeare, aber Leland war nie für Poesie und Rosen zu haben gewesen.

»Es ist seine Handschrift.«

»Danke.« Er nahm den Brief und faltete ihn wieder zusammen.

»Wenn Beau hierhergefahren ist, um mit Leland zu reden, und nicht zurückgekehrt ist, dann muss da doch ein Auto gewesen sein.«

»Wir schauen uns auf deinem Grundstück um, für den Fall, dass es noch da sein sollte«, sagte er. »Aber selbst wenn nicht, kann er es irgendwo anders entsorgt haben. Die Zeit dafür hatte er.«

In der darauffolgenden Stille überlegte ich, ob Bobby wohl glaubte, ich hätte ihn die ganze Zeit über belogen.

»Ich verschweige nichts, Bobby.«

»Das habe ich auch nie behauptet. Aber jetzt ist es vorbei.«

»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb nicht auch Annabel verdächtigt wird, da sie Beau ebenfalls aus dem Weg haben wollte. Um gar nicht erst auf die offenkundige Tatsache hinzuweisen, dass Leland meine Mutter ihretwegen nicht verlassen hat, nicht wahr?«

»Annabel behauptet, sie habe geahnt, was geschehen sei, und habe derartige Angst gehabt, als Komplizin in einen Mordfall hineingezogen zu werden, dass sie das Verhältnis beendet habe«, sagte er. »Sie habe deinem Vater gesagt, es sei aus, habe Richmond verlassen und eine andere Identität angenommen, indem sie ihren Mädchennamen benutzte, bis sie wegen böswilligen Verlassens geschieden wurde und Chastain heiratete.«

»Dann ist sie also auch aus dem Schneider, oder?«

Er bemerkte den Hohn in meiner Stimme, und seine Wangenmuskeln strafften sich. »Lass dir von mir eins sagen: Als ich auf der Polizeischule war, habe ich im Gesetzesvollzug 101 Folgendes gelernt: Die beste Herangehensweise bei der Bearbeitung eines Falls ist die einfachste. Mach es nicht komplizierter, als es ist, und interpretiere nicht zu viel in alles hinein. Die meisten Verbrechen werden aus finanziellen Motiven oder aus Leidenschaft begangen. Auf deinen Vater könnte beides zutreffen. Er schuldete Beau Geld, und er machte mit dessen Frau herum.«

Dann setzte Bobby zum Gnadenstoß an: »Annabel hat einem Lügendetektortest durch uns zugestimmt.«

»Und?« Mein Mund fühlte sich an, als hätte ich Nägel verschluckt.

»Sie hat bestanden.«

Quinn fand mich auf der Mauer sitzend, nachdem Bobby gegangen war.

»Ich habe den Polizeiwagen gesehen«, sagte er. »Möchten Sie darüber reden?«

Ich atmete mehrmals tief durch, bis ich meine Stimme unter Kontrolle hatte. »Die Ermittlungen werden eingestellt. Bobby sagt, sie hätten genügend Beweise, um zu dem Schluss zu kommen, dass Leland Beau getötet hat.«

Er setzte sich, legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich an sich. »Das tut mir leid.«

Ich schluckte. »Er sagt, es könnte Notwehr gewesen sein oder auch nicht. Aber sie werden der Sache nicht weiter nachgehen. Dominique hat Beau am Tag meiner Geburt in unserem Haus gesehen, was Annabels Version untermauert. Außerdem hat Annabel einen Brief von Leland vorgelegt, in dem er sie bittet, Beau zu verlassen. Sie und Leland hatten unmittelbar vor meiner Geburt ein Verhältnis miteinander.«

Er drückte fester. »Der Sturm wird sich legen. Sie sind stark. Sie werden es überstehen.«

»Ich glaube nicht, dass er es getan hat.«

»Ich weiß, ich weiß …«

»Es ist mir ernst. Leland hat Beau nicht umgebracht.«

»Vermutlich ist es im Moment nicht leicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Lassen Sie etwas Gras über die Sache wachsen.« Seine Stimme war einfühlsam. »Es liegt doch schon so lange zurück. Wer weiß denn, wie die Umstände damals waren?«

Ich hob den Kopf von seiner Schulter.

»Das ist eine gute Frage.« Ich stand auf.

»Wohin gehen Sie?«

»Zu jemandem, der vielleicht weiß, wie die genauen Umstände waren.«

Er starrte mich lange an. »Seien Sie vorsichtig.«

In den nostalgischen Vorstellungen eines jeden, der sich nach den längst vergangenen Tagen des kleinstädtischen Amerika zurücksehnt, gibt es immer einen Kolonialwarenladen. Ein altmodisches Geschäft, in dem man nicht unbedingt das findet, was man braucht, sondern das, was man sich wünscht: einen Ladenbesitzer, der sich an die Tabaksorte erinnert und an das Motorenöl, das man beim letzten Mal gekauft hat, und der Fotos vom jüngsten Baby oder die Hochzeitsbilder sehen möchte, ohne dazu gedrängt zu werden. Der Warenbestand ist nicht in den Computer eingegeben, da er nicht immer vollständig ist, und außerdem macht es ja auch keinen Sinn, Zuckmückenlarven zum Angeln oder frische Tomaten aus dem Garten eines örtlichen Bauern im Computer aufzulisten. Unser Kolonialwarenladen hatte Thelma Johnson, die ihr Geschäft schon besaß, als Gott noch ein kleiner Junge war.

Ich parkte neben dem weißen Schindelhaus mit dem Walmdach aus Blech und dem großen Schaufenster, in dem von dem Neonschild mit der Ankündigung »Open« nur noch das »Ope« leuchtete. Thelma hatte Schlittenglöckchen angebracht, die jedes Mal an Weihnachten erinnerten, wenn jemand die Eingangstür öffnete oder schloss. Das war ihre Variante eines Sicherheitssystems. Wie immer roch es im Laden nach Kaffee, Backwaren und irgendeiner wohltuenden, undefinierbaren Essenz, die eher auf die Patina der Jahre zurückzuführen war als auf einen Zerstäuber mit künstlichem Wildblumen- oder Frühlingsregenduft.

In dem engen Hinterzimmer, in dem sie ihre Schreibarbeiten erledigte, stapelte sie auch ihre Seifenopermagazine rings um den Fernsehsessel, in dem sie saß, um sich ihre Shows anzusehen. Talkshows, Gameshows, Realityshows – doch über allem standen die Seifenopern, da sie sich regelmäßig in die blendend aussehenden jungen Adonisse auf dem Bildschirm verknallte.

Die Glöckchen bimmelten, als ich die Eingangstür öffnete. Aus dem Hinterzimmer ertönte eine zittrige Stimme: »Ich komme!«

Mit ihrem übertriebenen Make-up und dem viel zu jugendlichen Outfit war Thelma die Karikatur einer Großmutter aus jeder beliebigen Fernsehkomödie. Heute war sie von oben bis unten in Robin-Hood-Grün gekleidet – ärmelloses Futteralkleid aus Polyester, das nur bis zehn Zentimeter über die Knie reichte, paillettenbesetzte Sandalen mit Pfennigabsatz und sternförmige Ohrclips aus falschen Smaragden. Ihr Lidschatten, den ich hinter den Trifokalgläsern ihrer Brille sehen konnte, war farblich auf die Kleidung abgestimmt. Das karottenfarbene Rouge und der Lippenstift stimmten genau mit dem schreienden Orange ihrer Haare überein.

»Nanu, das ist doch Lucille!«, sagte sie. »Welch wunderbare Überraschung! Dich habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Schön, dass du mal wieder vorbeischaust. Was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte einfach mal hereinschauen und Hallo sagen. Ich nehme einen Kaffee und einen von deinen Muffins.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich. »Kindchen, meine Mami mag ja vielleicht hässliche Babys großgezogen haben, aber keine dummen. Du bist doch nicht nur gekommen, um zu fragen, wie es mir geht. Warum setzt du dich nicht ein Weilchen und erzählst mir alles? Ich nehme an, du willst das Übliche.«

Thelma kannte jedermanns Übliches. Bei mir war es eine Mischung aus dem, was sie in der Kanne mit dem Aufkleber »Normal« und der anderen, auf der »Ausgefallen« stand, aufgesetzt hatte. Genügend Milch, dem Kaffee Karamellfarbe zu verleihen, und ein Stück Zucker.

»Ja bitte.«

»Du möchtest sicher einen Blaubeermuffin. Die Blaubeeren kommen frisch vom Bauernmarkt in Frogtown.«

»Ja bitte.«

»Bedien dich. Die Romeos waren heute Morgen hier und hatten einen Bärenhunger, daher hast du Glück, dass mir noch mehr geblieben ist als nur das Einwickelpapier.«

Sie wackelte auf ihren Pfennigabsätzen durch den Laden und goss mir den Kaffee ein. Ich nahm den Muffin aus dem Glaskasten, in dem sie all ihre frisch gebackenen Törtchen, Kuchen und die Frühstückssachen aufbewahrte.

»Was für Kaffee ist das heute?«, fragte ich.

Sie blinzelte mit den Augen. »Ich konnte mich nicht entscheiden zwischen dem ›Me Crazy‹ aus Jamaika und ›Sinful Delight‹, daher habe ich beide gemacht. Was hältst du von ›Sinful Delight‹ für dich? Ein bisschen Sündhaftes von Zeit zu Zeit kann niemandem schaden, wenn du mich fragst.«

Zumindest waren wir auf der gleichen Wellenlänge. Ich wollte über eine große Sünde reden. Wir setzten uns einander gegenüber in ihre cremefarbenen Schaukelstühle mit der beweglichen Rückenlehne. Thelmas Stuhl quietschte beruhigend beim Schaukeln, und sie beobachtete mich, während ich meinen Kaffee trank.

Ich balancierte den Muffin in seinem weißen satinierten Einwickelpapier auf meinem Knie. »Die sind toll.«

»Lucille, mein Herzblatt«, sagte sie, »du isst meine Muffins seit der Zeit, als du noch nicht laufen konntest, wenn Lee oder deine Mami dich hierher mitgenommen haben. Du brauchst keinen Small Talk mit mir zu machen. Du kannst direkt zur Sache kommen. Ich sehe doch, dass du darauf brennst.«

Thelma brüstete sich gerne damit, einen messerscharfen Verstand zu haben – oder, wie sie es ausdrückte, dolchscharf, was zuweilen nicht ganz falsch war. Ich machte mir keinerlei Illusionen, dass ich es gerade noch bis nach Hause schaffen würde, bevor jeder in den beiden Counties über unser Gespräch unterrichtet war. Man brauchte entweder ein Elefantenberuhigungsmittel oder ein direktes Drohmittel, um Thelma davon abzuhalten, sofort die kleinsten Äderchen ihres Mundpropaganda-Wurzelsystems anzuzapfen und auszuplaudern, was sie wusste – und leider besaß ich beides nicht.

»Es geht um meinen Vater«, sagte ich. »Wahrscheinlich hast du es dir schon gedacht.«

»Anscheinend habe ich die besondere Gabe zu wissen, was die Leute denken. Eine Art übersensible psychotische Wahrnehmung.« Sie lächelte und strich ihr Kleid glatt. »Und natürlich meine gottgegebene Fähigkeit, mit den Lieben der Leute zu reden, nachdem sie heimgegangen sind.«

Ich versuchte, angesichts der Beschreibung ihrer besonderen Kräfte nicht verlegen dreinzuschauen, und nickte. Thelma hatte zuweilen Momente, in denen sie sich aus der realen Welt zurückzog und sich der Überzeugung hingab, sie könne mithilfe ihres Hexenbretts mit jenen in Kontakt treten, die jetzt im »Großen Jenseits« residierten, wie sie es nannte. Würde sie sich wirklich an Dinge erinnern können, die annähernd dreißig Jahre zurücklagen, oder griff ich nach einem Strohhalm?

»Ich will nicht mit meinem Vater reden«, sagte ich. »Nur über ihn.«

»Schau mich bitte nicht so an, als ob du die Kommunikation mit den Geistern einfach nur für Hokuspokus hältst.« Sie wedelte mit dem Finger vor meinem Gesicht. »Ich habe gehört, dass du gestern bei Balls Bluff gewesen bist. Wenn du an solchen Orten nicht die Anwesenheit von Geistern spürst …«

»Du weißt, dass ich Balls Bluff besucht habe?«

»’türlich weiß ich das. Dieser nette junge Mann, Chancellor, war gestern Abend hier. Kauft auf dem Nachhauseweg von deinem Weingut mindestens ein- oder zweimal die Woche irgendwas Kleines zum Essen. Gut aussehendes Bürschchen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Hat ein Lachen, dass der ganze Raum erstrahlt. Und hat immer Zeit für mich, weißt du?« Thelma lief rot an wie ein Teenager, und ich fragte mich, weshalb Chance seinen nicht unbeträchtlichen Charme auf sie verwendete. »Er erkundigt sich immer nach den Leuten in der Gegend. Ich mag es, wenn sich jemand als Neuer hier einfügt.«

»Er ist sehr umgänglich.«

»Ja, das ist er. Du kannst froh sein, dass so einer für dich arbeitet.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander, wobei sie mich im Auge behielt. »Frag mich nach deinem Papa, Schätzchen. Was willst du wissen?«

»Du weißt alles über jeden, stimmt’s, Thelma? Du erinnerst dich an viele Dinge.«

Sie lächelte zufrieden und gleichzeitig lauernd. »Du brauchst mir nicht Honig ums Maul schmieren, obwohl ich sicher bin, dass du schon gehört hast, wenn die Leute mich Orkan von Delphi nennen. Der Orkan war eine besondere Person im alten Griechenland, der viel geredet hat und die Fragen von jedem beantwortete. Es war eine Frau, und man hat sie für die Quelle der Weisheit gehalten.«

»Ja, ich habe von ihr gehört … ihm.« Wie präzise war ihr Gedächtnis tatsächlich? »Bobby Noland sagte mir, er habe genügend Beweise für die Schlussfolgerung, dass Leland Beau Kinkaid ermordet hat.«

Das war neu für Thelma. Sie hörte auf zu schaukeln und stemmte beide Arme auf die Lehnen ihres Schaukelstuhls. »Wie kommt er denn bloß auf so eine gottverdammt idiotische Idee?«

»Dominique erinnert sich, dass Beau an dem Tag, als ich geboren wurde, in unserem Haus war. Und das stimmt mit der Aussage seiner Exfrau gegenüber Bobby überein, wann sie ihn zuletzt gesehen hat.« Ich zuckte mit den Achseln. »Außerdem hatte Leland ein Verhältnis mit Annabel Chastain. Gelegenheit und Motiv.«

»Pfui!«

»Was meinst du damit?«

»Das liefert ihr ein Motiv, würde es besser treffen. Ich erinnere mich an sie. Damals noch Annie Kinkaid. Jetzt ist sie ja« – Thelma wirbelte mit der Hand, als mixe sie irgendetwas in der Luft – »Annabel Chastain. Arrogant wie nur was.«

»Du kennst sie?«

»Ich bin ihr nie wirklich begegnet«, sagte sie. »Aber ich weiß alles über sie. War hinter deinem Vater her, als deine arme Mutter mit dir in Erwartung war. Hätte deiner Mutter fast das Herz gebrochen.«

Ich wickelte meinen zur Hälfte gegessenen Muffin wieder in das Papier ein und legte ihn zur Seite. »Woher weißt du das alles?«

»Deine Mutter und ich teilten damals Geheimnisse, Lucille. Wir waren nämlich beide …«

Sie schwieg einen Moment und legte zwei Finger auf ihre Lippen. »Na ja, wir haben viel miteinander gesprochen.«

»Dann hat dir meine Mutter also erzählt, dass Annabel – Annie – diejenige war, die das Verhältnis mit Leland wollte?«

Sie nickte. »Das habe ich Bobby auch vor ein paar Tagen gesagt, aber natürlich wollte er es mir nicht glauben. Abgesehen davon, dass es Information aus zweiter Hand war und es keine Möglichkeit gibt, sie zu bestätigen.«

»Annabel hat einen Lügendetektortest bestanden, und sie besitzt Briefe von Leland.«

Thelmas Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ist das nicht interessant, dass sie die all die Jahre aufbewahrt hat? Würde gerne wissen, was mit den anderen passiert ist, die sie deinem Vater geschrieben hat.«

»Er erhielt Briefe von ihr?«

»Na, und ob. Deine Mutter hat ein paar davon in die Finger bekommen.« Thelma verschränkte ihre Hände im Schoß. »Ich bin sicher, dein Vater oder deine Mutter haben sie vor Jahren verbrannt, wenn du bis jetzt nichts gefunden hast.«

Ich schüttelte den Kopf. »Unglücklicherweise nicht. Ich bin die Papiere meiner Mutter durchgegangen, und du weißt ja, wie Leland war. Er notierte so wenig wie möglich. Das Feuer hat die wenigen Dinge vernichtet, die noch vorhanden waren.«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Lucille!« Thelma klang streng. »Dein Vater hatte Fehler, das wissen wir alle. Er war ein Hallodri und ein Lump, und er hat deine selige Mutter durch zehn Arten von Fegefeuern gejagt mit dem, was er angestellt hat. Er mag auch seine Geheimnisse gehabt haben, aber er war kein Mörder. Deine Mutter … na ja, sie hätte es gewusst. Und damit hätte sie nicht leben können.«

Ich hätte sie küssen können. Dies war die Rehabilitation, nach der ich irgendwo gesucht und verlangt hatte … überall. Wenn Thelma es glaubte, dann wusste ich, dass ich recht hatte und Leland nicht der Mörder von Beau war.

»Ich bin froh, das von dir zu hören, Thelma. Danke!«

»Es ist die Wahrheit.« Sie musterte mich und zog die Stirn kraus. »Willst du deinen Muffin nicht essen? Ich schwöre dir, Kindchen, du siehst aus, als würde dich der nächste kräftige Windstoß wegpusten. Wahrscheinlich wiegst du klatschnass nicht mehr als fünfzig Kilo. Winzig wie deine Mutter. Und du siehst auch aus wie sie, Lucille. Sie war ja eine richtige Schönheit.«

Ich wickelte den Muffin wieder aus und wurde rot. »Du bist wirklich nett. Manchmal vermisse ich sie so sehr.«

»Ich weiß. Das tue ich auch. Mein Gott, das tue ich auch.«

»Was war es, was du vorhin über euch beide sagen wolltest … ihr wart beide … Was war es?«

Thelma setzte ihre schwere Brille ab und schaute weg. Das Schweigen, das sich zwischen uns ausbreitete, schien schwer auf ihr zu lasten. Ihre eckigen Schultern hoben und senkten sich, als sie mit der Fingerkuppe unter einem Auge entlangrieb.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nicht neugier…«

»Schwanger«, sagte sie schnell. »Wir waren beide schwanger.«

Ich hatte gerade nach meinem Kaffee gegriffen und hätte ihn beinahe verschüttet. Ein paar Spritzer schwappten aus dem Becher auf den kleinen Tisch.

»Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung …«

Ich tupfte die Tropfen mit einer Serviette weg, und es war mir für uns beide peinlich.

»Keiner hat es gewusst. Die einzige Person, der ich vertraut habe, war Charlotte.«

Meine Mutter hieß Chantal, doch Thelma nannte sie immer Charlotte, so wie ich zu Lucille und Eli zu Elliot geworden waren. Thelma kannte die Geschichte von nahezu jedem in Atoka, aber wer wusste eigentlich irgendetwas über sie?

»Hast du ein Kind … ich meine, hast du …?«

Hatte sie das Kind zur Adoption freigegeben? Wie hatte sie ihr Geheimnis all die Jahre verbergen können?

Ihr Lächeln war getränkt von Trauer und Erinnerungen. »Ich habe mein Baby verloren, bevor irgendjemand bemerkt hatte, dass ich in anderen Umständen war. Deine Mutter hat es trotzdem geahnt. Eines Tages kam sie rein und traf mich hundeelend an, als ich mich im Badezimmer übergab. Sie erkannte sofort, dass es Schwangerschaftsübelkeit war. Wusste auch, dass ich zu keinem Arzt hier in der Gegend gehen wollte, weil ich befürchtete, die Leute würden es dann erfahren. Deshalb hat sie mich bis nach Washington gefahren, damit ich jemanden von außerhalb aufsuchen konnte.«

»Warum hat dir denn der Kindesvater nicht geholfen?«

»Pff!« Sie wedelte mit der Hand. »Vom Winde verweht, Schätzchen. Zurück zu seiner Frau.«

»Ach, Thelma!«

»Wir haben alle irgendwann auf den falschen Mann gesetzt, ist es nicht so?« Thelma setzte die Brille wieder auf und fixierte mich mit dem unglücklichen Blick einer Frau, die nie erfahren hatte, wie es war, jeden Morgen neben dem Mann aufzuwachen, den man liebte.

Sie kannte meine Erfolgsbilanz mit Männern genauso gut wie ich. Vielleicht sogar besser. Ich fragte mich, ob ich, wenn ich ihr Alter erreicht hätte, eine ebensolche Kette kaputter Beziehungen hinter mir hätte, und das wäre es dann gewesen.

»Es ist das erste Mal seit damals, dass ich über diese Fehlgeburt gesprochen habe«, sagte sie. »Aber ich dachte, du solltest es wissen. Du bist genauso alt, wie meine Tochter jetzt gewesen wäre.«

Ihr Lächeln geriet ins Wanken. »Jedes Mal, wenn ich dich sehe, muss ich daran denken. Ich wüsste gerne, welche Farbe ihre Haare und Augen gehabt hätten. Ob sie klug oder musikalisch oder sportlich gewesen wäre. Natürlich hätte ich sie nicht behalten können, deshalb hätte ich es jetzt sowieso nicht gewusst, nicht wahr?«

Mir schnürte sich die Kehle zu. Ich konnte nicht antworten.

»Ich fürchte, ich habe dich traurig gemacht.«

Sie stand auf und wischte imaginäre Fingerabdrücke vom Glaskasten. »Es ist schon in Ordnung. Ich habe gelernt, damit zu leben.«

Ich wollte sie in den Arm nehmen, doch ich hatte Angst, sie könne ihre Haltung endgültig verlieren, wenn ich es tat.

»Ich hoffe, du weißt, dass ich dein Vertrauen rechtfertigen werde, so wie meine Mutter es getan hat«, sagte ich.

»Natürlich weiß ich das«, sagte sie. »Ich vertraue dir genauso, wie ich Charlotte vertraut habe. Und, Lucille, was du mir heute erzählt hast, bleibt auch unter uns. Ich gebe dir mein Ehrenwort.«

Ich nickte.

Sie hörte auf, den Kasten zu putzen. »Nun denn. Wenigstens hast du deinen Kaffee getrunken. Wie wäre es mit noch einem?«

»Nein danke. Ich habe genug gehabt. Aber könnte ich einen Kaffee und einen Donut zum Mitnehmen für Quinn haben?«

»Natürlich kannst du das. Ich weiß, dass er die mit Schokolade gefüllten Donuts mit Schokoladenüberzug liebt. Herrgott, ich möchte nicht wissen, wie seine Cholesterinwerte sind. Wie der es schafft, so fit zu bleiben und dabei so gut auszusehen, wenn man bedenkt, was für Zeug er isst.«

Ich lief rot an. »Ich weiß es nicht. Wie wäre es mit dem ›Me Crazy‹ aus Jamaika für ihn? Das entspricht ungefähr dem, wie es im Moment zwischen uns läuft.«

Sie lachte. »So ist es mir in letzter Zeit auch oft genug ergangen.«

Die Routine der Kaffeezubereitung schien unseren Umgang miteinander wieder in die Bahnen der Normalität zu lenken. Doch unsere Beziehung hatte sich dennoch geändert, als hätten wir ein Kaleidoskop geschüttelt und dabei vertraute Stücke bunten Glases zu einem völlig neuen Bild umgestaltet.

»Wegen deinem Vater.« Sie schubste meine Hand weg, als ich ihr das Geld für den Kaffee und das Gebäck geben wollte. »Wenn mir noch irgendetwas einfällt, was hilfreich für dich sein könnte, gebe ich dir Bescheid.«

»Das wäre nett.«

»Und quäl dich nicht damit herum, was die Leute sagen. Du kennst die Wahrheit über deinen Vater, und das allein zählt. Du brauchst dich nicht um das Gerede zu kümmern, weil es nicht wirklich zählt.«

»Danke für den Ratschlag.«

Sie blinzelte. »Nenn mich doch einfach den Orkan.«

Diesmal umarmte ich sie kurz, und sie tätschelte meine Schulter.

»Du bist ein gutes Mädchen, Lucille.«

Auf der Fahrt nach Hause hatte ich einen Kloß im Hals.

Jetzt wusste ich mit Sicherheit, dass Annabel Chastain – oder Annie Kinkaid – über ihre Beziehung zu meinem Vater log. Vielleicht bedeutete das, dass sie auch über den Mord an Beau log. Wer ihn umgebracht hatte und wie es geschehen war. Zu dumm, dass ich keine Möglichkeit hatte, irgendetwas davon zu beweisen.

Zumindest im Moment noch nicht.