Kapitel 20

Quinn saß am Winzertisch, hatte seine Füße auf den Tisch gelegt und trank aus einer Bierflasche, als ich später im Weinkeller vorbeischaute. Ich setzte mich neben ihn. Sein Auge war weniger geschwollen als am Tag zuvor, doch mit den roten und violetten Rändern sah es immer noch beeindruckend aus. Ein paar Schwellungen im Gesicht waren ebenfalls zurückgegangen.

»Der Riesling in den Tanks kühlt endlich ab«, sagte er. »Morgen gebe ich die Hefe bei, damit der Gärungsprozess einsetzen kann.«

Er teilte es mir mit träger, matter Stimme mit und nahm einen Schluck aus der Flasche. Die Spannung der vergangenen Nacht hing noch wie ein Nebel zwischen uns.

»Wenn Sie mit dem Zusetzen der Hefe fertig sind, können Sie dann in der Villa helfen?« Ich passte mich seinem Tonfall an. »Wahrscheinlich werde ich die meiste Zeit auf dem Aufführungsgelände verbringen. Gina braucht sicher Hilfe an unserem Stand. Eine Person allein wird es kaum schaffen, den ganzen Leuten Karten für unsere Weinproben zu verkaufen.«

»Das hängt davon ab, wie es mit der Fermentation läuft. Das hat Vorrang«, sagte er. »Ich verstehe nicht, weshalb wir nicht wie bei anderen Festivitäten auch Wein direkt vor Ort verkaufen können.«

»Weil B. J. und Vitale nicht wollen, dass Alkohol in der Nähe von Leuten verkauft wird, die Waffen bei sich haben, selbst wenn sie nur mit Platzpatronen herumballern«, sagte ich. »Ich musste ihnen recht geben.«

Er tippte sich an die Stirn und genehmigte sich einen weiteren Schluck. »Das ist Ihre Entscheidung.«

Wenn er nicht auf gestern Abend und die Auseinandersetzung mit Chance zu sprechen kam, dachte ich auch nicht daran, es zu tun.

Ich fuhr mit dem Finger eine Spur auf der Tischplatte entlang. »Was machen Sie heute Abend?«

»Auf den Riesling aufpassen.« Er schwang die Flasche ab. »Was hatten Sie denn gedacht?«

»Ich wollte es nur wissen. Brauchen Sie Hilfe?«

»Ich packe das schon.« Er schleuderte die Füße vom Tisch und stand auf. »Gibt es sonst noch was?«

»Das war’s.«

»Dann bis morgen früh.« Er marschierte zu den Edelstahltanks, in denen die zwischen einer Glaswand und dem Stahlmantel zirkulierende Glykol-Kühlflüssigkeit leise gurgelte.

Eine heftige Auseinandersetzung wäre mir lieber gewesen als diese eisige Atmosphäre. Wir waren schon oft stinksauer aufeinander gewesen, doch dies hier war anders, und es gefiel mir gar nicht.

Ich trank das Bier aus, das er auf dem Tisch hatte stehen lassen, und stand auf, um zu gehen. Ich hatte keine Ahnung, ob er hörte, dass ich die Tür kräftig genug zuzog, um sie knallen zu lassen, und ob es ihn überhaupt interessierte.

Egal, jedenfalls symbolisierte es den augenblicklichen Stand unserer Beziehung.

Das sanfte Geräusch stetig fallenden Regens, das sich wie weißes Rauschen in meinem Geist einnistete und sämtliche Gedanken abblockte, lullte mich in der Hängematte langsam in den Schlaf. Der Samstag sollte angeblich noch so ein verregneter, müder Tag werden, doch die Lichtstrahlen, die mich früh am nächsten Morgen weckten, versprachen die überraschende Aussicht auf einen blauen Himmel und kühle Temperaturen ohne die hohe Luftfeuchtigkeit, für die unsere Sommer bekannt sind.

Ich schaute auf dem Handy nach. Kurz vor halb sieben. Ich setzte mich aufrecht hin und rieb an den Mustern, die der raue Stoff an meinen Armen hinterlassen hatte. In der Küche machte ich mir Kaffee und toastete Baguettescheiben. Eli musste Lebensmittel eingekauft haben, denn ich fand eine Platte mit Käse im Kühlschrank. Er hatte einfachen Brie und Camembert erstanden, daneben aber auch tief in die Tasche gegriffen für Pont l’Évêque, Brillat-Savarin und meinen Favoriten, Humboldt Fog. Ich schnitt mir etwas für mein Brot ab und ließ die Platte auf der Anrichte stehen, damit der Käse Zimmertemperatur hatte, wenn Eli schließlich zum Frühstück erschien.

Nach der Geschichte mit der Kreditkarte hatten Eli und ich das Thema gemieden, ob er mir heute aushelfen sollte. Ich hatte nicht gefragt, und er hatte es nicht angeboten. Allerdings hatte er mir erzählt, er habe sich letztlich entschieden, Zeke Lee nicht beim Wort nehmen zu wollen und als Statist bei der Aufführung mitzumachen, obwohl er immer noch vorhatte, als Zuschauer zu erscheinen.

Nach dem Frühstück duschte ich, zog mich an und fuhr zum Lager. Mindestens fünfzig Fahrzeuge von Teilnehmern, die noch gestern Abend gekommen waren, waren in unregelmäßigen Reihen abgestellt. Innerhalb der nächsten Stunde würden die restlichen Teilnehmer anrücken, sodass gegen zehn Uhr sämtliche Zelte und das Lager arbeitsbereit aufgeschlagen sein sollten, wenn für die Besucher geöffnet wurde.

Ich ging an Pkws und Pick-ups vorbei und las Wunschkennzeichen, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Regimentern angaben oder Bezug auf die Aufführungen nahmen. Flaggen der Konföderierten spannten sich hinter den Heckscheiben von Kleinlastwagen, und an den Stoßstangen waren Aufkleber der Nationalen Schusswaffenvereinigung oder die »Stars and Bars«, die Flagge der Konföderierten, mit der Aufschrift »Wenn Sie diese Flagge stört, dann studieren Sie die amerikanische Geschichte« angebracht.

Eine Brise wehte den Geruch eines Lagerfeuers herüber, und in der Nähe sang eine Spottdrossel. Ich folgte einem Pfad von frisch niedergetrampeltem Gras entlang des Bachs. Am Ufer wuchsen Rohrkolben, und andernorts entdeckte ich Büschel von Berufkraut, spitzenartige weiße Schafgarbe und Kermesbeeren, die sich unter dem Gewicht ihrer auberginefarbenen Früchte tief bogen.

Die dicht gedrängte Ansammlung niedriger weißer Zelte sah ich erst, als ich über die Brücke ging und an einem Wegweiser mit einem Pfeil und dem in schwarzer Farbe aufgemalten »CS Camp« nach links abbog. Der Wegweiser für die Truppen der Unionisten – »US of A Camp« – befand sich ein Stück weiter und zeigte in Richtung eines Lagers im Wald. Die Konföderierten hatten offensichtlich den bevorzugten Platz erwischt, da sie sich auf offener Fläche aufhalten konnten.

Obwohl es noch recht früh war, schien das gesamte Lager bereits auf den Beinen zu sein und sich mit der morgendlichen Routine des Ankleidens, Waschens und der Zubereitung des Frühstücks über Lagerfeuern, die neben Freiluft-Esszelten loderten, zu beschäftigen. Wohin ich auch schaute, sah ich Männer in geflickten oder zerfledderten Uniformröcken und -hosen mit Käppis und grobem Schuhwerk, die entschlossen und energiegeladen zu Werke gingen, obgleich sie eine Nacht bei starkem Regen im Zelt verbracht hatten. Die Vielfalt der Uniformen war beeindruckend. Doch der erschöpfte Süden war zu arm gewesen, für einheitliche Kleidung und Ausrüstung zu sorgen, als sich der Krieg hinzog. Daher trugen seine Truppen selbstgeschneiderte Versionen der offiziellen Uniformen in einem glanzlosen Regenbogen von Farben, die sich von Grau bis Butternussbraun bewegten.

Es gab weniger Frauen und Kinder als Männer, doch sie waren ebenfalls nach damaliger Zeit gekleidet. Die Jungen trugen Baumwollhosen und Flanellhemden; die Frauen und Mädchen wirkten anmutig und feminin in ihren langen Reifröcken und hochgeschlossenen Blusen oder bunten Kleidern mit Schürzen, das Haar hochgesteckt unter Hauben oder Strohhüten mit wehenden Schleifen.

Ein Mann in rotem Flanellhemd, grauen Hosen und khakifarbenen Hosenträgern führte mich zum Regiment von B. J., dem 8. Virginia, das seine Zelte am äußersten Ende des Lagers aufgeschlagen hatte. Ich sah die dunkelblaue Flagge Virginias, auf der eine Kriegerin einen gefallenen Mann als Symbol der Tyrannei unterjocht, neben einer verblassten Fahne der Konföderierten.

Ein halbes Dutzend Soldaten saßen unter einem Vordach um einen Kieferntisch beim Frühstück, unterhielten sich ruhig und tranken ihren Kaffee.

Ich grüßte und erkundigte mich nach B. J.

»Hinter den Zelten«, sagte jemand. »Mit seiner besseren Hälfte.«

Ich traf B. J. und seine Frau Emma in zwei niedrigen Adirondack-Stühlen sitzend an. Er las ihr gerade aus einer Flugschrift mit Eselsohren vor, während sie irgendetwas aus blauer und cremefarbener Wolle strickte.

Emma sah mich zuerst, lächelte und legte ihr Strickzeug in den Schoß. Sie trug ein braun und weiß gemustertes Baumwollkleid und ein gehäkeltes Netz über dem weißgoldenen Haar.

»Grüß dich, Lucie«, sagte sie und zog den Spitzenschal um ihre Schultern fest. »Schön, dich zu sehen, meine Liebe. Komm, setz dich zu uns. Barnaby, sei so nett und hol einen Stuhl für das Kind.«

Ich hatte vergessen, dass B. J. mit Vornamen Barnaby hieß. Er schaute mich an und grinste. »Ich freue mich, dass Sie es geschafft haben.«

»Wie war denn das Kampieren heute Nacht?« Ich setzte mich in einen weiteren Adirondack-Stuhl.

Emma schüttelte den Kopf. »Wir werden langsam zu alt für das hier. Wir haben Pritschen und ein Campingklo für unser Zelt mitgebracht. So gibt’s kein Schlafen auf der Erde mehr. Oder Latrinen.«

»Emma! Du solltest sie doch glauben lassen, wir würden es ohne Komfort durchziehen.« B. J. zwinkerte mir zu.

»Warum holst du Lucie nicht ein Glas Limonade oder eine Tasse Kaffee, mein Schatz?«

B. J. schien es nichts auszumachen, von seiner Frau herumkommandiert zu werden. »Was soll’s denn sein?«, fragte er. »Die Limonade ist gerade aus echten Limonen gemacht worden.«

Ich entschied mich für die Limonade.

»Werden Sie fertig sein, wenn die Tore aufgehen?«, fragte ich.

»Keine Sorge«, sagte er. »Wir haben alle möglichen Dinge geplant, neben dem üblichen Drillen und ein paar Übungen auf dem Schießplatz. Um zwölf Uhr gebe ich eine Einführung zur Schlacht.«

»Die Schwarze Witwe ist auch da«, sagte Emma. »Ein echtes Vergnügen.«

»Die was?«

B. J. grinste. »Eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet. Sind Sie ihr nicht begegnet, als Sie durch das Lager gegangen sind? Sie hat eine Ausstellung über Tod und Trauer während des Bürgerkriegs, die einen wirklich umhaut. Was ihr über Begräbnisse und Trauerbewältigung vor hundertfünfzig Jahren unbekannt ist, braucht man nicht zu wissen.«

»Sie sollten ihr einen Besuch abstatten, kleines Fräulein. Das eine oder andere könnten Sie dabei lernen.«

»Du solltest sie mal über die Leichenwächter reden hören«, sagte Emma. »Das ist, als wenn dir eine Gespenstergeschichte erzählt wird.«

»Die was?«

»Leute, die Nachtwache hielten, um sicherzugehen, dass die Toten auch wirklich tot waren.« B. J. schüttelte den Kopf. »Natürlich passiert das heute nicht mehr, aber das war zu einer Zeit, als man die Leichen noch nicht einbalsamierte, sondern stattdessen auf Eis legte. Ab und zu richtete sich jemand von ihnen auf und jagte den Leuten einen Heidenschrecken ein.«

Er presste Daumen und Zeigefinger aneinander. »Manchmal waren sie so dicht dran, einen Menschen lebendig zu begraben.«

»Barnaby«, sagte Emma, »Lucie ist schon ganz weiß im Gesicht. Sei so gut und hol ihr noch etwas Limonade.«

B. J. sprang auf und nahm meinen Zinnbecher. »Wollte Sie nicht aufregen, meine Liebe.«

»Ist schon in Ordnung.«

»Bei dem, was du gerade durchgemacht hast, hätte ich gar nicht erst damit anfangen sollen. Entschuldige bitte! Das war gedankenlos von mir.« Emma griff wieder nach ihrem Strickzeug. »Wie wirst du übrigens damit fertig? Ich habe die Zeitungsartikel gelesen. Einer der Kassierer in der Bank sagte mir, dass die Polizei entschieden habe, den Fall abzuschließen. Ich denke mir, das muss eine Erleichterung für dich sein.«

»Nicht so, wie es ausgegangen ist«, sagte ich. »Vor allem nicht, wenn jeder in der Stadt darüber redet.«

»Die Leute tratschen immer, Lucie«, sagte Emma. »Aber bald haben sie es vergessen, und das Leben geht weiter.«

Der Klang einer Querpfeife schwebte in der Luft, gefolgt vom martialischen Dröhnen einer Trommel. Emma legte den Kopf schief und hörte zu, während B. J. eine Zigarre aus der Tasche zog und sie anzündete.

»Ich liebe die Musik an diesen Wochenenden«, sagte er. »Sie verfolgt mich irgendwie.«

Wir lauschten When Johnny Comes Marching Home.

Als es zu Ende war, sagte ich: »Ich denke, ich sollte mich langsam aufmachen.«

Die Musik wechselte zu einer süßen, schwermütigen Melodie, die ich nicht kannte.

»Ich begleite Sie.« B. J. erhob sich. »Ich muss mal nach Tyler schauen. Will sichergehen, dass alles in Ordnung ist mit ihm.«

»Was macht er denn?«, fragte ich.

»Bereitet seine Munition für morgen vor.«

»Sie machen Ihre Munition selbst?«

»Das ist nicht schwer. Ein Gefäß für Schießpulver und ein Ladestock aus Messing. Das ist Mathematik für Anfänger. Natürlich stellen wir nur Platzpatronen her. Keine scharfe Munition.«

»Wie können Sie denn sicher sein, dass sie nicht scharf ist?«, fragte ich.

»Wir machen Sicherheitskontrollen. Keine Angst. Bei diesen Veranstaltungen kommt es so gut wie nie zu Unfällen.«

»B. J. erzählte mir, du kämst heute Abend vielleicht mit deinem Winzer zum Tanz«, sagte Emma. »Ich weiß, dass du nicht selbst teilnehmen kannst, weil du nicht zeitgemäß gekleidet sein wirst, aber die Musik wird dir gefallen, glaube ich.«

Ich lief rot an. Dieser mein Winzer und ich sprachen kaum miteinander.

»Ich will versuchen, ob ich kommen kann, aber bei Quinn weiß ich es nicht. Im Moment ist er, äh, ziemlich beschäftigt im Weinkeller.«

Die Musik spielte jetzt The Girl I Left Behind Me. Tolles Timing.

»Unsinn!«, sagte B. J. »Bringen Sie ihn mit. Ich werde schon für ihn sorgen.«

»Ich hoffe, wir sehen dich«, sagte Emma. »Lass es dir nicht entgehen.«

Ihre Augen leuchteten, doch in der Art, wie sie mich anschaute, verbarg sich noch etwas anderes. War es Neugier? Oder Mitleid? Vielleicht beides.

B. J. und Emma hatten meine Eltern gekannt. Ich wusste, was sich geändert hatte.

Jeder in der Stadt dachte, mein Vater sei ein Mörder gewesen.

Quinn rief nach dem Mittagessen an, als ich in die Villa zurückgekehrt war, um zu sehen, wie Frankie und die Kellnerinnen aus dem Goose Creek Inn mit dem Ansturm der Gäste fertig wurden.

»Rechnen Sie da heute nicht mit mir«, sagte er. »Ich setze keinen Fuß aus dem Weinkeller.«

Die eisige Stimmung vom Vortag hielt an, und sein Tonfall ließ nichts Gutes erahnen.

»Was ist passiert?«

»Ich weiß nicht. Ich habe dem Riesling die Hefe beigegeben und ihn in neue Tanks umgefüllt, aber ich kann die Gärung nicht in Gang setzen.«

Das war übel. Ohne Fermentation hatten wir Tanks voller Traubensaft. Keinen Wein. Nichts.

»Wie viele Hefelinien haben Sie bisher probiert?«, fragte ich.

Nachdem jetzt klar war, dass es keinen Eiswein geben würde, hatten wir uns geeinigt, mit drei verschiedenen Hefetypen zu experimentieren. Jeder würde zu unterschiedlichem Ester führen – die Würze, die man in einem Wein wahrnimmt – und zu einem anderen Bouquet. Sie nach der Fermentation zu verschneiden, würde für einen komplexeren, interessanten Wein sorgen. So hofften wir zumindest. Wenn die Fermentation nicht einsetzte, war da etwas faul.

»Zwei.«

Ich merkte ihm an, wie beunruhigt er war.

»Temperatur stimmt?«

Der Saft, oder Most, hatte gerade mehrere Tage im Kühlwagen gelagert. Vielleicht war er noch zu kalt. Solange sich der Wein noch bis zu einer bestimmten Temperatur erwärmte, was von der jeweiligen Hefelinie abhing, geschah gar nichts.

Doch Quinn wusste das alles. Es gehörte zum Einmaleins der Weinherstellung.

»Ich werde es noch mal überprüfen.«

»Glauben Sie, jemand könnte die ganze Hefe auf einmal hineingegeben haben?«

Ich zermarterte mein Gehirn auf der Suche nach allen mir erdenklichen Gründen, weshalb die Fermentation nicht einsetzen wollte. Die Hefe zu abrupt beizumengen konnte einer dieser Gründe sein. Das war etwa so, als würde man einen nackten Menschen einem arktischen Schneesturm aussetzen. Das Resultat wäre ein derartiger Schock, dass die Hefe zugrunde gehen würde.

Quinn klang alles andere als glücklich. »Wenn Chance oder Tyler hier gewesen wären, hätte ich es für durchaus möglich gehalten. Aber Benny und Javier sind bei mir. Die wissen, was sie tun.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Sobald ich es in den Griff bekomme, werden Sie es als Erste erfahren.«

Ich war froh, dass er nicht »falls« gesagt hatte.

Kurz vor zwei Uhr kam ich wieder zum Schlachtfeld, nachdem Gina sich mit einem SOS-Anruf gemeldet hatte, sie sei dem Ansturm am Stand nicht mehr gewachsen und brauche Hilfe. Die Atoka Road war durch eine Autoschlange verstopft, die darauf wartete, durch das südliche Tor eingelassen zu werden, das wir für die Aufführung vorübergehend zur Hauptzufahrt gemacht hatten. B. J. hatte eine Pfadfindergruppe besorgt, die auf dem Parkplatz aushalf, und die Polizei war mit einem Einsatzwagen am Tor vertreten. Ich kannte den Polizisten nicht, der an seinem Fahrzeug lehnte und etwas aß, das an ein Sandwich mit Schweinesteak vom Grill erinnerte, doch er winkte mich am Stau vorbei, nachdem ich ihm erklärt hatte, wer ich war.

Seit meinem letzten Besuch hatte sich auf dem Platz eine volksfestähnliche Atmosphäre breitgemacht. Der Veteranenverband hatte zwischen dem Parkplatz und den Lagern einen Anhänger mit Küche abgestellt, wo warmes Essen verkauft wurde. Daneben befand sich ein Stand mit frischer Limonade, der von den Freunden des Loudoun Museums betrieben wurde. Der Unternehmensverband verteilte Wasserflaschen.

Die Menge bestand aus ruhigen, manierlichen Leuten und schien sich vor allem aus Familien mit Kindern zusammenzusetzen. Manche waren in historischer Kleidung erschienen, doch sie bewegten sich ungezwungen und unbefangen zwischen den Ständen, als habe es mit ihrem Aufzug nichts Besonderes auf sich. Viele hielten sich an den Zelten der Marketender auf – Händler, die von einer Bürgerkriegsveranstaltung zur nächsten reisten und entsprechende Waren verkauften.

Ich ging durch die Gasse dieser Stände, groß wie Zirkuszelte, und blickte an den offenen Zeltklappen vorbei auf das Angebot von Uniformen, Zelten, Kochutensilien, Kerzen, Schreibfedern und anderen altmodischen Sachen, die auf Holztischen ausgelegt waren. Ein Sonnenschirm, der an einer Stange festgebunden über einem Zelt schwebte, flatterte im leichten Wind, und daneben befand sich ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift »Virginia Marketenderei: Lieferant aller Bürgerkriegswaren«. Drinnen erregte ein Tisch mit übergroßen Weckgläsern mit Metallschraubdeckeln und bunt leuchtenden Süßigkeiten darin meine Aufmerksamkeit. Gina war ein Schleckermaul, und sie hatte ununterbrochen gearbeitet. Ich füllte eine Tüte mit Zitronenbonbons, Kandiszucker und Geleebohnen und wollte gerade bezahlen, als ich eine mir vertraute weibliche Stimme vernahm. Annabel Chastain.

»Ach, schau mal. Die haben Lakritzstangen«, sagte sie, und als ich mich umdrehte, sah ich sie zusammen mit Sumner im Eingang stehen.

»Schön.« Er klang gelangweilt.

Was führte sie hierher? Ich meinte, Sumner habe erwähnt, dass sie Atoka verlassen wollten. Annabel entdeckte mich und flüsterte ihrem Mann etwas ins Ohr.

»Schau mal, Schatz, da ist Lucie.« Ihr Lächeln wirkte gequält.

»Ich warte draußen auf dich, Annie«, sagte er, ohne mich zu grüßen. »Wenn du mit deinem Einkauf fertig bist, findest du mich da.«

»Wir haben Ihren Nachbarn besucht«, sagte Annabel. »Auf der Rückfahrt zum Fox and Hound sahen wir die ganzen Autos. Ich habe mir gedacht, es wäre doch schön, sich das mal anzuschauen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so eine große Veranstaltung ist.«

Von meinen unmittelbaren Nachbarn war niemand zu Hause. Die Orlandos waren auf Geschäftsreise in Hongkong, und Mick Dunne, mein Exliebhaber, war in seiner Heimat England, um seine kränkelnde Mutter zu besuchen.

»Sie haben meinen Nachbarn besucht?«, fragte ich.

»Mick Dunne. Sumner interessiert sich für eines seiner Springpferde«, sagte sie. »Wir denken darüber nach, es zu kaufen.«

Ich hatte vergessen, dass Tyler einmal etwas davon erwähnt hatte, die Chastains seien auf der Suche nach einem Pferd.

»Mick ist in London«, sagte ich.

»Nein, er und Selena sind vor ungefähr einer Woche aus Cannes zurückgekommen.«

»Wirklich?« Selena? Seine Schwester? Hatte er eine Schwester?

»So eine hübsche junge Frau. Sie ergeben wirklich ein gut aussehendes Paar. Und scheinen glücklich miteinander zu sein.« Annabel zog die Augenbrauen zusammen und beobachtete mich genau. »Oh, meine Liebe. Habe ich etwas Unpassendes gesagt? Ich habe ja nicht wissen können, dass Sie und Mick eine …«

»Wir haben eine Geschäftsbeziehung«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Er baut ein Weingut auf, und wir haben ihm dabei Hilfestellung gegeben. Aber ich muss jetzt bezahlen. Entschuldigen Sie mich bitte.«

Ich drehte mich zu dem Kassierer um. »Wie viel habe ich …«

Hinter mir keuchte Annabel, als hätte sie plötzlich starke Schmerzen, dann schrie sie auf.

»Haben Sie etwas, gnädige Frau?«, fragte der Kassierer.

»Mrs Chastain«, sagte ich. »Annabel! Was ist? Haben Sie einen Herzanfall? Ich hole Ihren Mann.«

»Nein, nein …« Sie umklammerte ihre Brust mit beiden Händen, und ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. »Lassen Sie das.«

»Sie sollte sich hinsetzen«, sagte der Kassierer.

»Könnten Sie sie zu dem Stuhl dahinten bringen, während ich ihren Mann suche?«, fragte ich. »Er muss hier irgendwo in der Nähe sein.«

Doch als ich durch den Zelteingang auf die Passanten schaute, erkannte ich nur Eli, der sich mit jemandem in der Offiziersuniform der Konföderierten unterhielt. Sumner war in der Menge verschwunden.

»Eli, kannst du mal kurz reinkommen?«, rief ich meinem Bruder zu.

Hinter mir murmelte Annabel: »Nein, bitte. Ich brauche keine Hilfe. Trotzdem vielen Dank. Nicht er.«

»Was ist hier los?« Eli tauchte neben mir auf.

»Das ist Annabel Chastain«, sagte ich. »Sie fühlt sich nicht wohl.«

»Wir bringen sie zu dem Stuhl da drüben.«

Der Kassierer überließ Annabel Elis kräftigeren Armen.

Eli führte sie zu dem Holzstuhl, während der Kassierer neugierige Gaffer verscheuchte. Annabel war immer noch bleich, und ihr Blick hatte Eli die ganze Zeit nicht losgelassen.

»Sie sind Lelands Sohn, nicht wahr?« Ihre Stimme klang weich.

Eli nickte. »Gibt es jemanden …«

»Nein, nein. Lassen Sie mir nur einen Moment Zeit.«

Während ich beobachtete, wie sie Eli anstarrte, wurde mir klar, was sie gerade eben mit ihrem Schrei hervorgestoßen hatte. Den Namen meines Vaters. Sie hatte Eli vor mir gesehen. Er war Leland wie aus dem Gesicht geschnitten, genau wie ich unserer Mutter.

Nicht er. Der anhimmelnde Blick, mit dem Annabel Chastain meinen Bruder anschaute, sagte alles. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass Annabel meinen Vater nach Beaus Tod nicht zurückgewiesen hatte. Es war genau umgekehrt gewesen. Leland hatte sie verschmäht, und sie hatte das nie verwunden.

Somit stand für mich fest, dass ihre Geschichte zumindest teilweise gelogen war.