Kapitel 21
Sumner Chastain erschien an der Seite seiner Frau und übernahm das Kommando, indem er mich wegputzte, verscheuchte wie ein lästiges Insekt. Er beugte sich über Annabel, doch nicht ohne mich vorher mit einem vernichtenden Blick fixiert zu haben, der implizierte, ich trage die Verantwortung, was auch immer ihr zugestoßen sei. Eli war verschwunden, um eine Flasche Wasser zu holen, daher waren wir nur zu dritt.
»Geht es dir besser, Liebling?«
»Es geht schon wieder.« Annabels Stimme klang gefestigter. »Es war nichts. Wahrscheinlich die Hitze. Und dann die Enge. Ich möchte hier raus …«
Sumner half Annabel auf die Beine.
»Danke«, sagte er zu mir. »Ich kümmere mich schon um sie.«
Ich musste gestehen, dass es perfektes Timing – oder unverschämtes Glück – gewesen war, dass Sumner nicht dabei war, als Annabel Eli entdeckt hatte. Wenn schon ich den gepeinigten Ausdruck voller Liebe und Verlangen in ihrem Gesicht hatte deuten können, wie blitzartig erst hätte Sumner sie durchschaut. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Annabel ihn wissen lassen wollte, welch heftige Gefühle sie immer noch für meinen Vater hatte.
Nachdem sie gegangen waren, tauchte Eli mit dem Wasser auf. »Wo ist sie?«
»Ihr Mann hat sie schleunigst weggebracht«, sagte ich.
»Ihr schien es aber gar nicht gut zu gehen.«
»Das war, weil sie dich gesehen hat. Du hast sie an Leland erinnert.«
Eli hatte die Flasche unentwegt zwischen den Händen gerollt. Jetzt hörte er damit auf und blickte mich mit einem gequälten Ausdruck an.
»Was willst du damit sagen?«
»Dass sie Leland immer noch liebt. Es war ihr ins Gesicht geschrieben.«
»Er ist tot, und sie ist verheiratet.«
»Es bedeutet, dass sie Bobby gegenüber gelogen hat.«
»Und?«
»Sie hat Leland nicht abserviert. Er hat sie in die Wüste geschickt. Vielleicht hat sie auch in anderen Dingen gelogen. Vielleicht war sie es, die Beau getötet und Leland dazu gebracht hat, ihr beim Beseitigen der Leiche zu helfen. Und jetzt, nach so langer Zeit, kann sie sich für die Zurückweisung rächen. Stellt Leland als den Mörder hin und wäscht sich selbst von dem Verbrechen rein.«
Eli zeigte auf einen Vogel. »Luce, die Frau hat Knöchelchen wie ein Vogel. Ich habe es gefühlt, als ich sie auf den Stuhl setzte. Die hätte schon Schwierigkeiten, eine Küchenschabe zu zerquetschen.«
»Wir reden über Dinge, die dreißig Jahre zurückliegen. Sie kann ihn erschossen und Leland dann überredet haben, nach Richmond zu kommen und ihr dabei zu helfen, die Leiche zu beseitigen.«
»Na klar. Er macht sich nach Richmond auf, fährt dann anderthalb Stunden mit einer Leiche im Kofferraum nach Atoka, damit er Beau auf seinem eigenen Hinterhof verbuddeln kann, statt ihn in den James River zu schmeißen oder auf irgendeiner Müllkippe zu entsorgen. Erzähl mir doch nichts, Babe.«
Er hatte nicht ganz unrecht. Dennoch, wenn Annabel in Bezug auf ihr Verhältnis mit Leland gelogen hatte, konnte sie auch noch andere Dinge verheimlichen.
»Sie ist eine verschmähte Frau, Eli. Und jetzt ist die Stunde der Rache gekommen. Sie kann ihrem Exlover einen Mord anhängen, den sie selbst begangen hat.«
»Wo ist der Beweis?«
»Auf wessen Seite stehst du?«
Er seufzte. »Du weißt doch, zu wem ich halte. Aber es wird dir nicht gelingen, sie so weit zu bringen, dass sie die Tat gesteht, falls sie es wirklich getan hat. Und Bobby hat den Fall abgeschlossen. Du hast nicht die geringste Chance.«
Eli reichte mir die Wasserflasche. »Hier. Trink das, dann kannst du wenigstens etwas abkühlen. Selbst wenn du recht hast und sie eine verschmähte Frau ist, heißt das nur, dass sie verrückt und gefährlich ist. Du kannst sie nicht aufhalten. Glaub mir, ich muss es wissen. Brandi ist dabei, mich auf kleiner Pfanne zu rösten.«
Er tat mir leid, doch ich war fest entschlossen, Annabel dazu zu bringen, ihre Lügen einzugestehen. Zu dumm nur, dass ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte. Noch nicht.
Den Rest des Tages verbrachte ich an unserem Stand und arbeitete an der Seite von Gina. Sie hatte nicht gescherzt, dass das Geschäft blühte, und es sah danach aus, als sollten wir den Umsatzrekord vom letzten Wochenende noch einmal brechen. Abends gingen Frankie und ich in meinem Büro die Einnahmen durch. Als wir fertig waren, führte sie einen Freudentanz auf.
»Das ist Wahnsinn.« Sie schlug mit der Hand auf den Schreibtisch, um jedes Wort zu betonen, und lachte. »Weißt du, dass wir morgen unseren ganzen Riesling verkauft haben, wenn wir so weitermachen? Der geht weg wie warme Semmeln, so gut ist der.«
Ich setzte mich in meinen Stuhl und lehnte mich zurück. »Ich wusste gar nicht, dass wir nur noch so wenig haben. Halte ein paar Kisten zurück, ja? Wir haben Probleme mit dem Wein von diesem Jahr.«
»Was für Probleme?« Sie ordnete die Kassenzettel und Kreditkartenabrechnungen zu ordentlichen Stapeln.
»Es klappt nicht mit der Gärung.«
»Warum?«
»Quinn weiß nicht, woran es liegt. Jedenfalls wusste er es nicht, als wir zuletzt miteinander gesprochen haben.« Ich schielte zur Wanduhr hinüber. Viertel nach sechs. »Seit zwölf Uhr hat er sich nicht mehr gemeldet. Ich glaube, ich sollte mal rüber in den Weinkeller gehen.«
»Habt ihr euch eigentlich endlich geküsst und versöhnt?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Sie verdrehte die Augen. »Für eine intelligente Frau bist du manchmal erstaunlich schwer von Begriff.«
»Vielleicht wirst du das Kompliment noch mal überdenken wollen, angesichts der Tatsache, dass ich dir dein Gehalt zahle.«
»Leere Worte.« Sie nahm die Kassenzettel. »Geh zu ihm, und bring die Sache wieder ins Lot. Es ist nämlich alles andere als lustig, wenn ihr beiden Turteltauben euch mal wieder kabbelt.«
Quinn saß auf demselben Platz, an dem ich ihn am Morgen angetroffen hatte – auf dem Stuhl am Winzertisch –, doch diesmal ruhte sein Kopf auf den Unterarmen, und er schlief. Er rührte sich nicht, als ich einen Stuhl hervorzog, mich neben ihn setzte und ihm vorsichtig die leere Bierflasche wegnahm, die er mit einer Hand umklammert hielt.
Sein Haar war länger als in den Monaten zuvor – möglicherweise mit voller Absicht, vielleicht war er aber auch zu beschäftigt mit all den Dingen, die in der Weinkellerei schiefliefen, als dass er es hätte schneiden lassen können. Es lag lockig über dem Kragen eines seiner ältesten Hawaiihemden, das mit den giftgrünen Palmwedeln auf burgunderfarbenem Hintergrund. Seine Kopfhaltung war so, dass ich ihn im Profil betrachten konnte, und seine kantigen, fein geschnittenen Züge erinnerten mich an die Gravur einer Münze. Seit ein paar Tagen hatte er sich nicht mehr rasiert, und selbst unter dem Auge ohne Veilchen lagen tiefe Ränder, sodass man dort ebenfalls einen Bluterguss vermuten konnte.
»Wie lange wollen Sie denn da noch so sitzen und mich anglotzen?«
Ich fuhr hoch. »Lassen Sie das! Sie haben mich zu Tode erschreckt. Sagen Sie bloß, Sie sind schon wach, seit ich hier bin?«
Er öffnete das heile Auge. »Jau.«
»Sie hätten wenigstens etwas sagen können.«
Er richtete sich auf. »Es war spaßiger, Sie zu beobachten.«
»Ihre Augen waren zu. Zumindest sah es so aus, als wären sie geschlossen.«
»Nicht ganz.«
»Frankie meinte, es sei nicht unbemerkt geblieben, dass wir momentan nicht so gut miteinander auskommen.«
»Frankie entgeht aber auch nichts. Eine weise und scharfsinnige Frau.«
Ich verschränkte die Arme. »Dann lassen Sie uns das Kriegsbeil begraben.«
»Gewiss. Wenn Sie sich entschuldigen möchten, nehme ich die Entschuldigung an.«
»Ich? Für was soll ich mich denn entschuldigen?«
»Dass Sie mir nicht vertraut haben.«
»Und wie steht es damit, dass Sie sich mit Chance geprügelt haben? Entschuldigen Sie sich auch dafür?«
»Er hat es verdient.« Er hob eine Hand. »Warten Sie, warten Sie … Das wollen wir doch mal richtigstellen. Wir hätten uns jetzt wohl kaum in der Wolle, wenn es nicht um ihn ginge. Er hat das alles arrangiert, Lucie. Er wollte, dass Sie mir gegenüber Zweifel haben, dass Sie ins Grübeln kommen, und genau das hat er erreicht.«
»Ich vertraue Ihnen«, sagte ich. »Ich habe den Verdacht, dass Chance unserer Crew Geld abgezwackt hat. Deshalb haben wir auch immer Leute ohne jede Erfahrung bekommen. Weil wir nicht den üblichen Lohn gezahlt haben. Javier versucht ein paar von den Jungs aufzutreiben, die gestern für uns gearbeitet haben. Und dann will er sehen, ob sie ihm sagen, wie viel sie bekommen haben.«
Quinn schlug so hart mit der Hand auf den Tisch, dass ich erneut hochschreckte. »Wenn ich das gestern gewusst hätte, wäre er hier nicht einfach so rausmarschiert. Dann hätten sie ihn auf einer Trage rausbringen können.«
»Das sollten Sie lassen.«
»Ich wünschte, ich hätte es getan. Verdient hat er es«, sagte er. »Entschuldigung ist angenommen.«
Ich starrte ihn wütend an.
»Und jetzt zu einem ganz anderen Thema«, sagte er. »Die Fermentation hat eingesetzt.«
»Das ist schön.«
»Freut mich, dass Sie so begeistert sind. Es ist besser als schön, aber noch nicht viel. Es geht langsamer voran, als es sollte. Ich muss es im Auge behalten, aber immerhin ist ein Anfang gemacht.«
»Das ist auch schön.«
Er schaute auf seine Uhr. »Haben Sie schon zu Abend gegessen?«
»Nein.«
»Was halten Sie von Chinesisch? Wir können etwas kommen lassen.«
»Hier? Wann sind Sie das letzte Mal rausgekommen?«
Er schwieg und überlegte.
»Wir haben Samstag«, sagte ich. »Ich möchte wetten, dass Sie seit der Lese am Donnerstag hier sind.«
»Da können Sie recht haben. Na gut, dann essen wir eben bei mir.«
»Weshalb gehen Sie nicht erst nach Hause, duschen und machen sich fein? Ich bestelle etwas beim Chinesen. Wir essen bei mir zu Hause.«
»Erstens, soll das etwa heißen, dass ich schlecht rieche? Und zweitens, was spricht dagegen, dass wir bei mir zu Hause essen?«
»Entschuldigen Sie, aber zu Punkt eins, ich würde Ihnen im Augenblick Insektenspray empfehlen, und zu Punkt zwei, ich habe keine Lust, mit den Fingern aus den Schachteln zu essen. Besitzen Sie eigentlich richtiges Essbesteck? Mehr als ein Teil von jedem?«
»Als ich aus meiner Höhle in Kalifornien hierhergezogen bin, habe ich ein paar Kalebassen und den einen oder anderen Knochen und Speer mitgenommen.«
»Wir sehen uns dann in, sagen wir mal, einer Dreiviertelstunde, bei mir zu Hause. Irgendetwas Spezielles, oder vertrauen Sie meiner Wahl?«
»Irgendetwas, das mich Feuer speien lässt. Könnten wir nicht im Sommerhaus essen? Da können wir die Perseiden beobachten.«
Quinns Interesse für Astronomie – und sein enormes Wissen über Sterne, Kometen, Galaxien und die gesamte Himmelskunde – schien so gar nicht zum restlichen Machogehabe und seinem ungehobelten Wesen zu passen, jedenfalls in meinen Augen. Kurz vor seinem Tod hatte Leland Quinn die Erlaubnis erteilt, unser Sommerhaus hinter einem großen Rosenbeet in meinem Garten dazu zu benutzen, sein Teleskop aufzustellen und die Sterne zu beobachten. Das Sommerhaus stand auf einem Felsvorsprung, von dem aus man über ein Tal hinweg eine atemberaubende Aussicht auf das Piedmont und die Blue Ridge Mountains hatte. Vor einigen Monaten hatte sich Quinn den, wie er mir gesagt hatte, Rolls-Royce unter den Teleskopen gekauft – einen Starmaster. Wenn ich in einer wolkenlosen Nacht durch die Linse schaute, hatte ich das Gefühl, einen Platz in der ersten Reihe am Rande der Galaxie zu haben.
Ein paar Dinge hatte ich von ihm gelernt, unter anderem auch, was die Perseiden waren – die galaktischen Überreste eines Kometen, die einen spektakulären Meteoritenschauer verursachten, der jedes Jahr im August sichtbar war und das vornehmlich in unserer Hemisphäre.
»Da Sie sich hier die letzten beiden Tage vergraben haben«, sagte ich, »ist Ihnen vermutlich entgangen, dass Edouard immer noch herumgeistert. Tagsüber war es heute ganz schön, aber vor ein paar Stunden haben sich die Wolken zurückgemeldet. Wir werden wohl kaum etwas sehen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch das widerspenstige Haar und rieb sich das Gesicht, als wolle er sich wach rütteln.
»So ein Pech. Na gut. Dann werde ich mich also fein machen, weil Sie das Essen bezahlen. Ich brauche aber keine Dreiviertelstunde. Eine halbe Stunde tut’s auch.«
»Wieso soll ich denn bezahlen, wenn Sie mich eingeladen haben?«
»Das ist günstiger, als wenn Sie mir die Überstunden für zwei Tage rund um die Uhr bezahlen. Wenn ich es mir recht überlege, kommen Sie mit Kung Pao Chicken und Moo Shu Pork billig davon.«
Eine halbe Stunde später erschien er in sauberen Jeans und einem weiteren Exemplar aus seiner unendlichen Kollektion von Hawaiihemden, diesmal in Rot-Cremefarben-Gelb mit exotisch anmutender Flamingoblume und Paradiesvögeln darauf. Sein Haar war noch nass, doch ordentlich gekämmt. Ich hatte mir ebenfalls etwas anderes angezogen, ein langes Baumwollkleid.
»Das Kleid gefällt mir«, sagte er. »Es steht Ihnen.«
Er hatte Wein und Blumen mitgebracht. Eine Flasche Gevrey-Chambertin und Blumen aus einem Garten – nicht vom Floristen –, eingewickelt in Seiten der Washington Tribune.
Der Garten an seinem Haus bestand vornehmlich aus pflegeleichten Sträuchern. Nichts, das blühen konnte, soweit ich mich erinnerte, es sei denn, er hatte in letzter Zeit etwas angepflanzt. Ich wickelte die Blumen aus dem Zeitungspapier und wurde von Lilien, Gladiolen, Teerosen und Bougainvillea überrascht.
»Danke! Sie sind wunderschön«, sagte ich.
Er verstand die unausgesprochene Frage und zuckte mit den Schultern.
»Der Anbau von Wein liegt mir mehr als der von Blumen. Nachdem jetzt niemand mehr in Hectors und Seras Cottage wohnt, ist der Garten verwildert. Ab und an gehe ich rüber und jäte das Unkraut. Es ist eine Schande, mit ansehen zu müssen, wie das Ganze verkommt. Das hier sind Seras Blumen. Sie haben es sicher geahnt.«
Hector war auf unser Weingut gekommen, als meine Eltern die ersten Rebstöcke pflanzten, und er hatte bis zu seinem Tod vor einem Jahr als unser Verwalter gearbeitet. Er und Sera hatten in einem Haus am einen Ende einer kleinen Sackgasse in der Nähe der Weinkellerei gewohnt. Quinn wohnte am anderen Ende.
Chance hatte Hectors Posten übernommen, nicht aber dessen Haus. Niemand war in der Lage, sich so um das Weingut zu kümmern, wie Hector es getan hatte, und weder Quinn noch ich waren darüber hinweggekommen, ihn zu verlieren.
Quinn folgte mir in die Küche und entkorkte den Wein, während ich eine der Sèvres-Vasen meiner Mutter holte und die Blumen zu arrangieren begann.
»Ich vermisse Sera«, sagte ich. »Und Hector, und Bonita.«
Er legte den Korken auf die Anrichte. »Ich hätte mich nie mit Bonita einlassen sollen. Es ging bergab, als sie bei mir einzog.«
Ich platzierte eine rosa Gladiole zwischen einige pfirsichfarbene Lilien. »Und ich hätte mich nie mit Mick Dunne einlassen sollen. Aber wir haben es nun mal getan.«
»Ist es wirklich aus mit Mick?«
»Ja. Annabel Chastain sagte, er sei mit einer neuen Freundin aus Europa zurückgekommen.«
»Macht es Ihnen etwas aus?«
»Nein.«
Ich hätte ihn fast wegen Savannah gefragt, doch bevor ich dazu kam, sagte er: »Haben Sie mal darüber nachgedacht, Eli in Hectors und Seras Cottage wohnen zu lassen, bis er wieder auf die Beine kommt? Es ist doch eine Schande, das Haus leer stehen zu lassen.«
Ich steckte einen Zweig rosa Bougainvillea in die Vase. »Mir macht es nichts aus, wenn Eli hier wohnt. Das Haus ist wahrlich groß genug, und es ist schön, nicht immer allein zu sein. Außerdem, da wir jetzt einen neuen Verwalter suchen müssen, könnten wir ihm doch auch das Haus anbieten, habe ich mir gedacht. Wie bei Hector.«
»Es war schon seltsam, dass Chance sich nicht auf das Angebot gestürzt hat, hier kostenlos zu wohnen«, sagte Quinn.
»Er sagte, er hätte schon einen Mietvertrag für ein Jahr unterschrieben und käme da nicht mehr raus, erinnern Sie sich nicht?«
Es klingelte an der Haustür, und Quinns Augen glänzten erwartungsvoll.
»Ist das unser Essen? Ich hole es. Ich habe einen Bärenhunger.«
»Mein Portemonnaie ist in der Handtasche in der Halle.«
»Das geht auf meine Rechnung«, sagte er und zwinkerte mir zu.
Wir aßen auf der Veranda. Der Himmel war immer noch stark bewölkt, und die Luft fühlte sich an, als säße man unter einer Glasglocke. Quinn zündete sämtliche Kerzen und Fackeln an, während ich den Tisch deckte.
Er goss uns Wein ein und setzte sich mir gegenüber an den Esstisch mit der Glasplatte. Wir stießen an, und unsere Blicke trafen sich.
»Zum Wohl!«, sagte er.
»Zum Wohl!«
»Wie ist denn diese Aufführungssache heute gelaufen?«
»Es ging gut. Wir sind eingeladen, heute Abend vorbeizukommen.«
Er stoppte mitten im Versuch, sein Kung Pao Chicken aus der Schachtel zu schaufeln.
»Zu diesem Squaredance?«
»Das ist kein Squaredance.« Ich nahm das Hähnchen und reichte ihm den Reis.
»Wollen Sie wirklich gehen?«, fragte er. »Tut mir leid, aber dieses ganze Aufführungsgedöns verstehe ich immer noch nicht. Mir erscheint es verschroben, so zu tun, als würde man in einem anderen Jahrhundert leben, und dann erneut einen Krieg zu führen, den Ihre Seite verloren hat.«
»Dann sollten Sie vielleicht mal kommen und sich anschauen, worum es dabei geht.«
»Meine Tanzkünste gehen nicht über Stehblues hinaus.«
Ich lachte. »Wenn wir tanzen wollten, müssten wir in historischer Kleidung erscheinen … Halt! Ich schlage Ihnen doch nicht vor, eine Uniform der Konföderierten und unbequeme Schuhe zu tragen.«
»Das käme auch nicht gut an. Außerdem wäre ich bei den Unionisten. Wir stünden nicht auf derselben Seite.«
»Da brauchten Sie sich nicht sonderlich zu verstellen, was?«
Er grinste. »Wir haben gewonnen.«
Ich nahm von einem Styroporteller einen Pfannkuchen für mein Moo Shu Pork. »Hier in der Gegend stehen Sie auf der falschen Seite.«
»Ahmt die Kunst das Leben nach?«
»Sie raten nie, über wen ich auf dem Aufführungsgelände gestolpert bin«, sagte ich. »Annabel und Sumner Chastain. Sind auf dem Rückweg von Mick reingeschneit. Vielleicht kaufen sie eins von Micks Pferden.«
»Tyler erwähnte, dass sie sich immer noch hier herumtreiben. Das dürfte der Grund sein. Möchten Sie etwas Pflaumensauce?«
»Gerne. Annabel sah zufällig Eli. Sie wäre fast in Ohnmacht gefallen.«
»Macht Ihr Bruder derart Eindruck auf ältere Frauen?«
»Äußerst witzig. Eli sieht genauso aus wie Leland. Annabel liebt meinen Vater immer noch, Quinn. Leland hat die Beziehung mit ihr abgebrochen. Nicht umgekehrt.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass sie Bobby belogen hat.«
»Sie versuchen ihr immer noch den Mord an Beau anzuhängen, stimmt’s?«
Er füllte erneut unsere Gläser.
»Lucie.« Seine Stimme klang weich. »Sie haben doch nichts in der Hand. Annabels Story setzt sich durch, das wissen Sie ganz genau. Und Bobby hat den Fall abgeschlossen.«
Ich nahm einen Schluck Wein.
»Sie klingen exakt wie Eli«, sagte ich.
Er zuckte mit den Achseln.
»Haben Sie mal Hamlet gelesen?«, fragte ich.
Er blinzelte. »Wer nicht? Pflichtlektüre in der Highschool.«
»Erinnern Sie sich, wie Hamlet darüber redet, Claudius des Mordes an seinem Vater zu überführen, als er das Theaterstück mit der wandernden Schauspielgruppe neu inszeniert? Wie er sagt, dass er mit dieser Aufführung das Gewissen des Königs packen will?«
Er starrte mich an. »Sie wollen bei dem morgigen Spektakel etwas inszenieren, das Annabel dazu bringt, ihren Mord an Beau zuzugeben? Meinen Sie das im Ernst? Hat sie denn überhaupt gesagt, dass sie morgen kommen will?«
»Nein, aber ich bin sicher, dass sie kommt. Ich glaube, irgendetwas frisst noch an ihr, und sie kann es nicht loslassen.«
»Was haben Sie vor?«
»Ich arbeite noch daran.«
Er wirkte skeptisch. »Seien Sie nur vorsichtig.«
»Keine Angst.« Ich griff nach den Glückskeksen und hielt sie ihm hin. »Suchen Sie sich einen aus.«
Wir brachen die Kekse gleichzeitig auf.
»Ihre vielen verborgenen Talente werden für die Menschen in Ihrer Umgebung augenscheinlich.« Quinn grinste. »Diese Dinger sind ja wirklich unglaublich wahr. Was sagt Ihres denn?«
»›Entferntes Wasser löscht kein Feuer.‹« Ich zerknüllte das Zettelchen. »Was halten Sie davon, wenn wir uns zum Lager aufmachen?«
Wir nahmen seinen Wagen. Während der Fahrt dachte ich darüber nach, was ich aus Annabel herauszuholen hoffte. Hamlet hatte Claudius tatsächlich überrumpelt, indem er das Stück im Stück inszenierte. Doch als der Vorhang dann am Ende fiel, war so ziemlich jeder der dänischen Königsfamilie tot.
Ich wollte, dass die Wahrheit ans Licht kam, keine weiteren sinnlosen Tode. Ich konnte ja nicht ahnen, dass mein Wunsch nicht erfüllt wurde. Ein Feuer, von dem ich nichts wusste, war entfacht worden, und es gab kein Wasser, weder entfernt noch nah, mit dem man es hätte löschen können. Rückblickend betrachtet hätte ich diesem Glückskeks mehr Beachtung schenken sollen.