Kapitel 25
Die Regengüsse des Vortags hatten die Luft gereinigt, sodass beim Aufwachen am Montagmorgen sämtliche Spuren von Edouard verschwunden waren und wir wieder strahlenden Sonnenschein mit scharfem Schattenwurf hatten. Der endlose Himmel zeigte sich in kräftig lackiertem Blau. Pflanzen, Bäume und mein Rasen hatten – nach dem sintflutartigen Regen – das fast unwirkliche Grün eines Kunstrasens angenommen. Die Berge, nach Tagen der Maskierung durch tief hängende Wolken endlich wieder sichtbar, schimmerten in der dämmerigen Farbe schottischer Moorheide.
Kit rief an, während ich in der Küche Kaffee trank.
»Der Artikel ist auf der Website der Tribune«, sagte sie. »Ich wollte dich persönlich informieren.«
»Danke! Geht’s dir gut? Du klingst ganz schön kaputt.«
»Ich bin kaputt«, sagte sie. »Zwei Stunden habe ich vielleicht geschlafen.«
»Dann geh nach Hause, und leg dich ins Bett.«
»Schön wär’s, aber ich habe ein Problem. Irgendjemand hat meine Kreditkarte benutzt. Ich bin gerade dahintergekommen. Ich fahre jetzt rüber zur Blue Ridge Federal, um mit Seth zu reden.«
Ich stellte meinen Becher auf den Tisch und stützte die Stirn mit der Hand ab. Erst Frankie, jetzt Kit.
»Seit wann?«
»Die letzten beiden Tage. Die haben online eingekauft, verdammt. Und ich schwöre dir, ich habe die Karte nicht ein einziges Mal aus meiner Brieftasche genommen. Vielleicht hat sie jemand irgendwo in einem Restaurant eingelesen. Momentan gehe ich ständig auswärts essen. Könnte ja sein, nicht?«
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte ich.
»Bobby will, dass ich mit dem zuständigen Kripobeamten für Finanzkriminalität rede. Außerdem habe ich die Karte natürlich sperren lassen. So ein Mist!«
Ich schloss die Augen. Eli? Brandi? War einer von beiden so verrückt, Kreditkartennummern abzuschreiben und Konten von Leuten zu belasten, die wir kannten?
»Ich muss mit dir reden«, sagte ich.
»Worüber?«
»Wenn möglich unter vier Augen.«
»Was hältst du von heute Abend? Ich komme auf einen Drink vorbei.«
»In Ordnung. Das geht.«
»Was ist los, Luce?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Aber vielleicht bekomme ich ja eine Antwort, wenn wir uns treffen. Sagen wir um sechs?«
Der nächste Anruf kam von Frankie.
»Du musst rüberkommen«, sagte sie. »Annabel Chastain ist hier, und sie ist richtig geladen. Sie will dich sprechen. Ich tue mein Bestes, um sie zu beruhigen, damit sie nicht zu dir nach Hause fährt, aber du musst sofort kommen. Entweder hat sie irgendwelche Medikamente oder Drogen genommen, oder sie hat getrunken, oder beides. Auf jeden Fall ist sie völlig hysterisch.«
Ich brauchte zehn Minuten, um mich anzuziehen und zur Villa zu fahren.
»Sie ist auf der Terrasse«, sagte Frankie, als ich eintrat. »Viel Glück!«
Annabel stand mit dem Rücken zu mir am Geländer. Sobald ich die Terrasse betrat, fuhr sie herum. Sie war ungeschminkt, und es sah aus, als habe sie nicht geschlafen. Sie war um Jahre gealtert, seit wir uns am Tag zuvor gesehen hatten.
»Wie viel verlangen Sie für diese Briefe?«, fragte sie. »Ich zahle Ihnen jeden Preis. Ich weiß, dass Ihr Weingut durch den Tornado gerade einen großen finanziellen Verlust erlitten hat. Sagen Sie also, was Sie haben wollen. Sie brauchen auch nicht um den heißen Brei herumzureden. Lassen Sie es uns hinter uns bringen.«
»Hat Sumner Sie geschickt, um das zu erledigen?«, fragte ich.
»Sumner wird von irgendeinem Polizisten vernommen, weil er sich in der Öffentlichkeit mit diesem schrecklichen Kerl, diesem Vitale, gestritten hat.« Sie klang verbittert. »Haben Sie die auf ihn angesetzt? Ist das Ihre Vorstellung von Rache?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich vermute, dass die Polizei durch B. J. von dem Streit erfahren hat. Ich bin überhaupt nicht befragt worden. Und was die Rache betrifft, ich halte nichts von ›Auge um Auge‹.« Ich machte eine Pause. »Im Unterschied zu Ihnen.«
Ihre Stimme klang leise und ruhig. »Wie können Sie es wagen?«
»Es gibt keinen Preis«, sagte ich. »Es gibt nämlich keine Briefe. Sie haben es gestern doch selbst gesagt. Sie hatten recht, es war ein Bluff. Aber jetzt kenne ich die Wahrheit. Sumner hat Beau umgebracht, nicht mein Vater.« Annabels Gesichtsfarbe veränderte sich schlagartig.
Sie zischte wie eine Schlange. »Sie haben keinerlei Beweis!«
»Das stimmt«, sagte ich. »Den habe ich nicht. Das hat zur Folge, dass er mit seinem Mord unbehelligt bleibt und Sie sich dadurch ebenfalls strafbar machen. Selbst jetzt, da Sie die Möglichkeit haben, den Namen eines unschuldigen Mannes reinzuwaschen.«
»Beau hatte den Tod verdient«, sagte sie. »Er war ein verabscheuungswürdiger Mensch.«
»Wir sind eine Gesellschaft mit Gesetzen«, sagte ich, »nicht der Selbstjustiz. Wenn jeder das Gesetz in die eigenen Hände nehmen würde, hätten wir Anarchie.«
Sie schaute mich an, als hätte ich sie geohrfeigt.
»Hat Sumner etwas mit dem Schuss auf Ray Vitale zu tun?«, fragte ich.
»Ich denke nicht daran, diese Frage durch eine Antwort aufzuwerten«, sagte sie. »Sie sind wirklich Lelands Tochter, wissen Sie das? So, wie Sie uns hereingelegt haben.«
Sie ging, und ich stand noch lange dort und starrte auf die Berge.
Quinn rief mich schließlich nach dem Mittagessen an.
»Was ich auch mache, ich komme nicht dahinter, weshalb der Riesling aufgehört hat zu gären«, sagte er. »Die einzige Erklärung, die Sinn macht, ist die, dass die Trauben mit Pestiziden oder Schwefel besprüht oder direkt vor der Lese mit irgendetwas behandelt wurden. Das wäre eine Möglichkeit.«
»Weißt du was? Ich fahre bei Chance vorbei und frage ihn. Ich habe sowieso noch etwas in Middleburg zu erledigen.«
»Das würde ich nicht tun, Lucie. Und glaubst du etwa, er würde es dir sagen, falls er es getan hat?«
Ich schloss die Augen und dachte daran, wie Chance mich vor kurzem geküsst hatte, und an sein Angebot, die Sache zu Ende zu führen, die wir begonnen hatten.
»Vielleicht gelingt es mir, ihn zu überzeugen.«
»Ich komme mit.«
»Nach der Prügelei, die ihr euch beim letzten Mal geliefert habt? Mit Honig fängt man mehr Fliegen als mit Essig.« Ich schluckte. »Bleib du beim Wein. Ich bin nicht lange fort. Sobald ich zurück bin, komme ich vorbei.«
»Ich traue ihm nicht.«
»Das weiß ich. Aber vielleicht bringe ich ihn dazu, mir die Wahrheit zu sagen. Jetzt hat er ja nichts mehr zu verlieren.«
»Was willst du denn tun?«
»Ihn verzaubern«, sagte ich.
Chance wohnte in einem kleinen Haus, das zu einer Reihe von Hütten gehörte, die Teil eines größeren Landguts an der Sam Fred Road waren. Als ich dort ankam, war es so ruhig, dass niemand zu Hause zu sein schien. Ich klingelte an der Haustür und wartete eine ganze Weile, bevor ich durch die Fenster zu schauen begann. Im Wohnzimmer sah ich ein Sofa, einen Flachbildfernseher und einen billig wirkenden Couchtisch. Der Überrest eines Läufers bedeckte einen Teil des Fußbodens.
Vielleicht war Chance auf Jobsuche. Ich ging um das Haus herum zur Rückseite. Mitten auf dem unkrautüberwucherten Hinterhof stand eine große schwarze Mülltonne. Ich schaute hinein. Offensichtlich hatte er etwas darin verbrannt.
Ich fühlte an der Außenseite. Kalt. Weshalb hatte er hier draußen Feuer gemacht, wo ich doch im Wohnzimmer einen Kamin gesehen hatte? Es schien, als habe er Kleidung verbrannt.
Ich versuchte die Tonne umzustoßen, doch sie war schwerer als gedacht. Als ich es dann endlich geschafft hatte, waren meine Hände mit Ruß bedeckt. Ich wischte sie an Grasbüscheln ab und entdeckte eine Harke, die an der Garage lehnte. Nett von ihm, dass er sie dagelassen hatte. Ich nahm sie und zog mit ihrer Hilfe den schwarzen Klumpen heraus, der auf dem Boden der Tonne gelegen hatte.
Zusammen mit der Kleidung waren kleine Plastikstücke von der Größe einer Spielkarte geschmolzen und hatten sich in der teerartigen Masse mit dem Rest verbunden. Auf ihnen war nichts zu erkennen außer einem schwarzen Streifen, der von einer Seite zur anderen lief.
Ich schluckte. Wie der Streifen auf der Rückseite einer Kreditkarte, der die persönlichen Daten enthält. Stammten sie von unseren Kunden? Hatte er in der Weinkellerei Kreditkarten geklaut? Wie vielen mochte er geschadet haben? Mir fiel nur ein Name ein, vermutlich zwei. Frankie, möglicherweise Kit.
Ich harkte die restliche Asche auseinander. Etwas Mattes stach daraus hervor, und ich hob es auf.
Ein Knopf mit dem Buchstaben »CSA«. Confederate States of America.
»Lassen Sie es zur Gewohnheit werden, in anderer Leute Müll herumzuwühlen?«
Ich erhob mich und ließ den Knopf in der Hand verschwinden. Besaß Chance einen Zwillingsbruder? Der Mann, der mir gegenüberstand, hatte pechschwarzes Haar und dunkle Augenbrauen. Allerdings die gleiche Stimme wie Chance.
»Chance?«
»Was machen Sie hier, Lucie?«
Er war nicht dumm, vielleicht aber nahm er an, ich sei es.
»Ich bin vorbeigekommen, um Sie beim Wort zu nehmen.« Ich lächelte. »Das zu Ende führen, was wir vor ein paar Tagen begonnen haben.«
Er lächelte sein Mädchenschwarmlächeln, doch diesmal lag ein Hauch Bedauern darin.
»Dafür kommen Sie möglicherweise etwas zu spät, Schätzchen.«
»Es ist nie zu spät, Chance.«
Er kam auf mich zu, und ich wich zurück, knallte gegen die umgekippte Mülltonne und verlor kurz das Gleichgewicht. Er packte mich am Arm, und ich ließ den Knopf fallen. Dieser rollte so, dass er ihn sehen konnte. Sein Griff wurde fester.
»Warum mussten Sie auch herkommen?« Er hob den Knopf auf und steckte ihn in die Tasche.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, weshalb.«
Er begann zu lachen. Die dunkelblauen Augen wurden kalt. »Das hätten Sie besser nicht getan. Ich bin gerade im Aufbruch. Sieht so aus, als müssten Sie mir Gesellschaft leisten. Also los!«
»Wohin?«
»Das werden Sie schon noch erfahren, wenn wir da sind.«
Er zog eine Pistole unter seiner Jacke hervor.
»Los!«, sagte er.