Kapitel 4
Brauche ich einen Rechtsanwalt?«, fragte ich.
Wann hatte sich diese Eigendynamik entwickelt, die mich von der hilfsbereiten Mitbürgerin zu einer Person gemacht hatte, die möglicherweise eben doch eine Ahnung hatte, wie diese Leiche auf unser Grundstück gekommen war. Nachdem sich der Sturm verzogen hatte, war die Luft jetzt erfüllt von der angenehm disharmonischen Symphonie der Singvögel im Wald und dem surrenden Zirpen der Zikaden. Eine Brise, die einem zarten Streicheln ähnelte, ließ die Blätter säuseln und trug die unverwechselbaren Sommergerüche ausgedörrter Erde mit sich. Man hätte denken können, der Tornado sei hier vor einer Ewigkeit langgezogen.
Mathis und Fontana standen da und beobachteten mich.
»Was meinen Sie?«, sagte Fontana schließlich. »Brauchen Sie einen Rechtsanwalt?«
»Ich … Nein. Ich brauche keinen.«
Mathis warf Fontana einen Blick zu, der zu signalisieren schien, er solle verschwinden.
»Ihnen wird überhaupt nichts vorgeworfen«, sagte er dann, indem er seine volle Stimme etwas freundlicher klingen ließ. »Aber sollten Sie etwas wissen, und wir finden es heraus, dann können Sie sich warm anziehen. Haben wir uns verstanden?«
»Da gibt es nichts, das Sie herausfinden können, denn ich weiß nichts.«
Fontanas Handy piepste.
»Es ist Noland«, sagte er. In meine Richtung fügte er hinzu: »Können Sie ihm sagen, wie er hierherfindet?« Ich nickte, und er reichte mir das Handy.
Bobby Noland kannte sich auf unserem Grundstück fast so gut aus wie ich, da er hier in unserer Jugend viel Zeit verbracht hatte. Er und der Gerichtsmediziner erschienen ein paar Minuten später in einem Jeep mit dem Zeichen des Sheriff’s Department an der Tür. Im Gegensatz zu den beiden Beamten, die in Uniform erschienen waren, trug Bobby eine Khakihose und ein schwarzes Polohemd mit dem Logo »LCSD, Mordkommission«. Sein Dienstabzeichen war am Gürtel befestigt. Obwohl er nur zwei Jahre älter war als ich, spiegelte sich in seinem Gesichtsausdruck die Haltung eines Menschen wider, der in seinem Dienst unglaublich viel Schlechtes und Grausames gesehen hat und weiß, wie er die Bürde dieser Erfahrungen gegenüber dem Rest von uns zu verbergen hat.
Der Gerichtsmediziner, mit tiefer Sonnenbräune, in den Fünfzigern und schlaksig, trug einen Lederhut mit breiter Krempe und so etwas wie einer Krokodilbanderole und hatte eine schwarze Ledertasche bei sich. Aus der Nähe konnte ich anhand der Altersflecken in seinem Gesicht und auf den entblößten Unterarmen die Sonneneinstrahlung, das Ergebnis vieler Jahre, erkennen, doch in seinen Augen funkelte Jugendlichkeit und großes Interesse, als er uns wahrnahm.
Bobby zog ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche und bot es uns der Reihe nach an. Nur Fontana griff zu.
»Hallo, Biggie! Hallo, Vic! Friedman von der Spurensicherung kommt noch, aber das kann eine ganze Weile dauern. Junie, du kennst die Leute hier.« Bobby schob sich ein Kaugummi in den Mund und sagte zu mir: »Lucie, dies ist Junius St. Pierre, Gerichtsmediziner des hiesigen Distrikts.«
Wir gaben uns die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ebenfalls.« Das »Ebenfalls« kam gedehnt mit einem Akzent von Down Under – ob Australien oder Neuseeland hätte ich nicht sagen können. Wie Mathis zog auch er Gummihandschuhe aus der Tasche und machte sich an die Untersuchung des Totenkopfes.
»Ich schätze, das ist gemeint, wenn man sagt: ›Ihm klappt der Unterkiefer oder die Kinnlade herunter‹«, meinte er trocken.
Ich nickte, denn ich war durch Bobbys Erzählungen über seine Arbeit an schwarzen Humor gewöhnt. »Können Sie schon sagen, ob es sich um einen Mann handelt?«
»Mit hundertprozentiger Sicherheit weiß ich das erst, wenn ich das Becken gesehen habe. Doch dem Schädel nach zu urteilen, gehe ich davon aus, dass es eine erwachsene männliche Person ist. Vermutlich ein Weißer.«
»Wie können Sie das alles so schnell feststellen?«, fragte ich.
»Kommen Sie mal her.«
Ich tat es und hockte mich neben ihn. Bobby ebenfalls. Junie ließ seinen behandschuhten Zeigefinger in einigem Abstand über die Stirnpartie gleiten. »In der Regel ist bei den Männern diese Brücke hier über den Augenhöhlen stärker ausgeprägt. Und die Augenhöhlen selbst tendieren dazu, kleiner und quadratischer zu sein als bei Frauen, mit abgerundeten Rändern. Außerdem haben Männer deutlichere Markierungen an der Stelle, wo der Muskel früher am Knochen befestigt war, wie diese hier.« Er zeigte auf eine unebene Delle, die sich über die Stirn zu einer der Augenhöhlen hinabzog.
»Wie lange liegt er hier schon, glauben Sie?«, fragte Bobby.
»Grob geschätzt … weniger als vierzig Jahre, würde ich sagen. Vielleicht auch nur dreißig.«
»Brauchen Sie lange, um herauszufinden, wer es ist?«, fragte ich.
Junie schaute Bobby an. »Kann schnell gehen, kann aber auch lange dauern. Hängt ganz davon ab.«
»Wovon?«
»Ob er als vermisst gemeldet wurde oder nicht«, sagte Bobby. Er stand auf und wischte imaginären Schmutz von seiner Khakihose. »Leute verschwinden aus den unterschiedlichsten Gründen. Manchmal sagt niemand etwas, weil man eine Person loswerden wollte. Wenn das bei unserem Burschen hier der Fall war, werden wir unsere liebe Mühe mit ihm haben.«
Es war kurz nach sieben, als ich zum Parkplatz der Weinkellerei zurückfuhr. Bobby sagte mir, sie würden mit dem Ausgraben noch am gleichen Abend beginnen und am nächsten Morgen zurückkommen. Außerdem teilte er mir mit, wir sollten damit rechnen, dass ein Streifenwagen zum Weingut käme, um das Gebiet rund um das Grab zu bewachen.
»Wozu ist das denn nötig?«, fragte ich. »Die Ecke dahinten ist doch völlig abgelegen. Da hat niemand etwas zu suchen.«
»Das ist der übliche Ablauf«, sagte er. »Uns wird die Hölle heißgemacht, wenn wir keinen Nachweis über jede einzelne Sekunde zwischen dem ersten Schritt und der Übergabe ans Gericht vorlegen können. Und da wir mit dem Bergen heute nicht fertig werden, muss ich sicherstellen, dass am Tatort nichts verändert wird.«
Ich ging die Treppe mit den großen Steinplatten zum Hof hinauf. Dieser verband das efeubedeckte Backsteingebäude, in dem wir den Wein verkauften, über einen Säulengang mit dem Weinkeller, wo unsere Produkte hergestellt wurden. Das Heulen eines Motors auf der Straße unterbrach die abendliche Stille. Ein Transporter mit der Aufschrift »Mobile Spurensicherung« raste in Richtung des südlichen Zufahrtsweges. Vermutlich Friedman, wie Bobby zuvor angekündigt hatte. Die Frau schien zu wissen, wo und wie sie fahren musste, denn die Lichter ihres Wagens tanzten wild und verschwanden dann wieder.
Sollte es ihnen wirklich möglich sein, nach so vielen Jahren noch die Spur eines Beweises zu finden, die vom Opfer zum Täter führte? Mathis schien davon auszugehen, ich aber hatte große Zweifel.
Zunächst einmal jedoch mussten sie den Mann mit dem fehlenden Unterkiefer identifizieren. Wie viel Zeit würde das in Anspruch nehmen? Wer war da draußen auf meinem Land gestorben?
Der fächerförmige Hof war übersät mit leuchtenden Farbklecksen. Wohin ich auch schaute, überall lagen Geranien und Stiefmütterchen, die zahlreich in oben offenen Weinfässern geblüht hatten, zerbrochen und zerfetzt auf dem Boden herum. Aus den Blumenkästen waren die Fleißigen Lieschen und Fuchsien herausgerissen geworden. Die Blüten funkelten wie Juwelen im Abendlicht, und einige klebten wie Seesterne an den Pfeilern des Säulengangs, andere bildeten auf der Erde einen Teppich. Morgen würden wir eine matschige Masse zerquetschter brauner Blütenblätter zusammenfegen müssen.
Ein Terrakottatopf mit roten Geranien und bunt gemischtem Efeu lag umgekippt neben der alten Weinpresse. Ich kniete mich hin und versuchte die restliche Erde mit den Händen in den Topf zu schieben.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Ich schaute zu Quinn hoch. »Danke!«
Er kümmerte sich um die Erde, während ich den Efeu entwirrte und die Blumen zurücksetzte. Als wir fertig waren, reichte er mir eine abgebrochene Geranie.
Ich starrte auf sie hinab. »Einen Drink könnte ich jetzt gebrauchen.«
»Ich auch. Was halten Sie davon, wenn ich mir einen Growler schnappe und wir dann den Sauvignon Blanc probieren?«
Ein Growler ist eine Flasche Wein, die wir gleich zu Beginn aus einem der Edelstahltanks oder Eichenfässer abgefüllt haben. Obwohl eine Menge Wissenschaft und Chemie im Anbau der Reben und in der Herstellung des Weins stecken, gibt es keinen Ersatz für das Trinken dieser ersten Proben in regelmäßigen Abständen, um zu sehen, wie sich der Wein entwickelt. Wir müssen seinen Geschmack kennen.
Ich nickte. »Ist im Weinkeller noch alles in Ordnung?«
»Jau. Die Generatoren arbeiten prima«, sagte er. »In der Villa ist auch alles bestens, außer dass wir keinen Strom haben. Frankie hat früh genug sämtliche Tische, Stühle und Sonnenschirme von der Terrasse nach drinnen geschafft, daher ist dort nichts passiert. Aber vorerst müssen wir geschlossen bleiben, bis wir alles gesäubert haben. Frankie sagte, sie würde morgen früh kommen und sofort damit anfangen.«
Francesca Merchant führte unseren Probierraum und hatte begonnen, all unsere Sonderveranstaltungen wie Konzerte und Festivals zu organisieren.
»Falls es jemals gelingen sollte, irgendetwas außer Tieren zu klonen, wäre Frankie meine erste Kandidatin als menschlicher Klon.« Ich warf die Geranie über die Steinmauer in den darunterliegenden Garten. »Wie haben wir das vorher nur ohne sie geschafft?«
»Wir hatten Sie.«
Ich verzog das Gesicht. »Weshalb kann ich mich wohl nicht entscheiden, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung ist?«
Er grinste. »Ich hole den Wein. Wir können uns ja auf die Mauer setzen und hier trinken. Nach dem Tornado werden wir einen wunderschönen Sonnenuntergang haben.«
Wir nahmen auf dem niedrigen Absatz Platz, mit Blick auf entfernte Weinreihen und die Spitzen von Pinien und entblätterten Bäumen. Umrahmt wurde die Szenerie von den weichen Konturen der Blue Ridge Mountains. Die Sonne hatte die Wolkenstreifen in blutiges Rot getaucht, und die Farbe der Berge hatte sich von Erikablau in ein sanftes Violett gewandelt.
»Im Autoradio habe ich gehört, dass im Loudoun County vierzigtausend Haushalte ohne Strom sein sollen.« Quinn goss Wein in zwei Gläser und reichte mir eins. »Und in Fauquier weitere zwanzigtausend.« Er stieß mit mir an. »Es hätte für uns auch noch schlimmer kommen können. Zum Glück haben wir nicht alles verloren.«
»Ja, bleibt die Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Haben Sie mit irgendjemandem reden können, der bei dem Winzertreffen war?«, wollte ich wissen. »Hat es noch jemanden so hart getroffen wie uns?«
»Als Harry Dye nach Hause kam, hatte er die Hälfte seiner Kulturen verloren«, sagte Quinn. »John Chappell in Mountainview habe ich nicht erreichen können, vielleicht ist die Telefonleitung unterbrochen. Keine Ahnung, wie schlimm es dort war.«
Ich trank einen Schluck Wein. »Die Hälfte seiner Kulturen? Armer Harry. Vielleicht können wir ihm ein paar Trauben verkaufen.«
Quinn holte eine Zigarre aus der Brusttasche seines Hemdes und suchte in den Hosentaschen nach einem Feuerzeug. »Bei dem, was wir verloren haben, wird das wohl schwerfallen.«
»Haben Sie sich schon ein genaueres Bild von den Verlusten machen können?«
Er senkte den Kopf, zündete seine Zigarre an und paffte so lange, bis die Spitze zu glühen begann. »Da kommt eine Menge zusammen. Neue Rebstöcke kaufen und pflanzen, und dann die Einkommensverluste, wenn wir drei Jahre bis zur ersten Ernte warten müssen. Und falls Sie den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen wollen, kommen die Kosten für den Ankauf von Trauben aus anderen Weingütern hinzu, während wir darauf warten müssen, dass unsere eigenen Reben Früchte tragen.«
Obwohl es für die Weingüter ganz normal war, Trauben aus fremden Quellen zu beziehen, wusste er, dass ich diese Praxis nicht mochte. Unsere Weine stammten von unserem eigenen Grund und Boden, unserem eigenen terroir, und ich war stolz darauf.
»Ich weiß es nicht. Momentan kann ich einfach nicht klar denken.«
Quinn rieb sich das Kinn, was er immer tat, wenn er überlegte.
»Wir haben ungefähr zwei Morgen verloren, das macht etwa zwanzigtausend an Rebstöcken und Lohnkosten. Was den Produktionsausfall angeht, wenn wir drei Jahre nicht ernten können, sind das bei drei Tonnen pro Morgen sechs Tonnen. Mehr als dreitausend Liter, alles Rotwein. Ergibt Pi mal Daumen ungefähr neunzigtausend Dollar. Trauben hinzukaufen – falls wir das tun – kostet uns weitere zwölftausend pro Ernte, also drei Mal. Das sind …«
»Sechsunddreißigtausend plus neunzig plus zwanzig.« Ich tippte mich an die Stirn und nahm einen großen Schluck. »Verdammt! Wenn wir keine Trauben kaufen, haben wir immer noch hundertzehntausend verloren. Wenn wir sie ersetzen, kommen wir auf fast hundertfünfzigtausend.«
»Ich schätze, mit dem Kauf des neuen Traktors werden wir noch eine Weile warten müssen«, sagte er.
»Das denke ich allerdings auch.«
Ich starrte in mein Glas. »Wir sollten später noch mal über den Ersatz der Trauben reden. Heute Abend bin ich einfach nicht mehr in der Lage, meine Gedanken beisammenzuhalten.«
Um ein Weingut profitabel zu führen – oder es zumindest von allein tragen zu können –, war es erforderlich, eine gewisse Menge Wein zu produzieren. Wenn man zu wenig herstellte, führte das in den Ruin. Die Mindestgröße, so hatten wir ausgerechnet, betrug etwa zehntausend Kisten. Der heutige Verlust bedeutete, dass wir uns am Rande des Abgrunds bewegten.
Er füllte erneut unsere Gläser. »Wie lief es mit den Leuten von der Kripo?«
Ich zuckte mit den Achseln, während ein Rauchschwalbenpärchen über unsere Köpfe hinwegschoss und zur Dachtraufe des Säulengangs flog.
»Sie haben jede Menge Fragen gestellt und guter Bulle, böser Bulle gespielt, um zu sehen, ob sie mich einschüchtern können. Ich sollte wohl zugeben, dass ich weiß, wer das da draußen sein könnte.«
»Und, hat es geklappt?«
»Ja, Angst haben sie mir schon eingejagt. Aber ich habe nicht den blassesten Schimmer, um was für einen Mann es sich handeln könnte.«
»Ein Mann?«
»Bobby hatte den Gerichtsmediziner mitgebracht. Ein Australier, glaube ich. Junius St. Pierre. Der meinte, es sei ein erwachsener Mann. Ein Weißer. Und er sei dort vor dreißig oder vierzig Jahren vergraben worden.«
Quinn schnippte mit dem Daumen an seine Zigarre, und die Asche fiel auf die Mauer. Er wischte sie weg.
»Dann geschah es also, während Ihre Eltern hier wohnten.«
»Das vermute ich auch.«
»Vermuten?«
»Na gut, und was hat es zu bedeuten, wenn es so war?«
Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht haben sie etwas gewusst. Ihr Vater …«
Ich unterbrach ihn. »Ich wusste, dass Sie Leland ins Spiel bringen würden. Mein Vater hat niemanden umgebracht.«
Er tat, als wolle er sich wegducken. »Hoppla, das habe ich doch überhaupt nicht gesagt. Warum denn gleich so aggressiv?«
Er hatte recht.
Leland hatte Quinn kurz vor seinem Tod eingestellt, doch Quinn hatte noch genügend Zeit mit meinem Vater verbracht, um sich ein Urteil über ihn bilden zu können. Ein miserabler Menschenkenner, ein Trottel, der prompt auf jedes windige Geschäft hereinfiel, das ihm angeboten wurde, und ein Schürzenjäger. Jeder in Atoka hatte es gewusst. Mein Patenonkel Fitz hatte sich treffend über ihn geäußert: Wer sich mit Hunden hinlegt, wacht mit Flöhen auf. Mein Vater war ein Mann mit chronischem Juckreiz wegen all der Flöhe gewesen.
»Sobald diese Geschichte hier die Runde macht, wird jeder in der Stadt über meinen Vater herfallen und ihn für schuldig erklären, nach dem Motto: ›Was hätte man denn anderes erwarten können von Leland Montgomery?‹«, sagte ich. »Obwohl sie natürlich nur hinter meinem Rücken tuscheln werden.«
»Die Leute werden immer reden. Das können Sie nicht verhindern.«
»Sie meinen, ich könnte weder Thelma noch die Romeos davon abhalten?«
Man sagt, drei Leute könnten ein Geheimnis wahren, wenn zwei von ihnen tot seien. Die Ausnahme von dieser Regel war, wenn es sich bei der einen noch lebenden Person um Thelma Johnson, die Besitzerin des Kolonialwarenladens, oder um einen der Romeos handelte, eine streitsüchtige Gruppe älterer Mitbürger, deren Name für »Retired Old Men Eating Out« stand. Schon morgen früh würde das Thema Nummer eins bei den Gesprächen rund um die Kaffeekanne im Kolonialwarenladen die geheimnisvolle Leiche auf meiner Farm sein. Vielleicht sollte ich mich einfach damit abfinden und Eintrittskarten verkaufen.
»Was ist los mit Ihnen, Lucie?«, sagte Quinn, als ich schwieg. »Sie machen sich Sorgen, dass da doch etwas dran sein könnte, stimmt’s?«
Die Wolken zeichneten sich jetzt dunkel gegen einen immer noch hellen Himmel ab, und die versetzt stehenden Gipfel der Blue Ridge Mountains waren jetzt zu einer einheitlichen Silhouette verschmolzen, die mich an das Negativ einer Fotografie erinnerte. Für die Glühwürmchen war es noch zu früh, um mit ihrem Tanz zu beginnen, doch als die Vögel ihren Gesang einstellten, gewann die beruhigende Serenade der Zikaden an Lautstärke. Eigentlich liebte ich diese sommerliche Abendstimmung, wenn alles so friedlich schien.
Heute jedoch war ich ruhelos und sprunghaft.
»Natürlich mache ich mir keine Sorgen.«
»Sie sind eine lausige Lügnerin, wissen Sie das?«
Ich spielte mit dem Stiel meines Weinglases. »Ich möchte nur nicht, dass man Leland verurteilt, bevor wir irgendwelche Fakten haben.«
»Sie wissen doch selbst, dass sich die Leute, wenn sie erst zu tratschen anfangen, sowieso ihre eigene Meinung zusammenbasteln. Ihre Freunde hingegen werden abwarten, was geschieht. Und sie werden sich für Sie einsetzen.« Quinn nahm die Flasche und goss den restlichen Wein in mein Glas. »Steht nicht in der Bibel irgendetwas über die Gabe von Wein an jene, die schweren Herzens sind? Kommen Sie, trinken Sie Ihr Glas aus.«
Ich trank, doch dadurch wurde mir auch nicht leichter ums Herz. Der Tornado hatte seine gut sichtbaren Spuren im Weingut hinterlassen, und für uns bedeutete dies, dass wir geraume Zeit brauchen würden, um uns davon zu erholen. Zusätzlich aber fürchtete ich, dass die Entdeckung des Grabes noch lange nicht das Ende war. Wenn ich recht behielt, dann war das, was uns noch bevorstand, weitaus schlimmer als das, was heute geschehen war.