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Er war also seit fünfundvierzig Minuten fort. Wahrscheinlich hatte er zwischendurch angehalten, um eine Zigarette zu rauchen. Wahrscheinlich war er einkaufen gegangen. Amanda: Besorgt? Ich doch nicht!

Ruth stellte eine Schale mit Kirschen auf den Tisch, die Früchte waren mehr schwarz als rot.

»Ich danke Ihnen.« Amanda wusste nicht, wofür sie sich bedankte. Hatte sie nicht selbst elf Dollar für diese Kirschen bezahlt?

Eine Wolke zog auf, weich und wattig wie in einer Kinderzeichnung. Der Temperaturabfall war so abrupt, dass G. H. erschauderte. »Ich könnte eine kurze Aufwärmung im Whirlpool vertragen.«

Amanda fasste es als Einladung auf. Sie stand von ihrem Platz auf und ließ sich neben dem fremden Mann ins blubbernde Wasser sinken. Der Auftrieb war stark, sie hatte Mühe, unten zu bleiben. Sie lehnte sich vor und starrte zwischen die Bäume. Die Kinder waren nicht mehr zu sehen.

»Denen geht es bestimmt gut.« George hatte verstanden. Eltern waren immer und überall wachsam. »Da hinten ist nichts, nur der Wald.«

Ruth betrachtete die beiden. Der Wein zum Mittagessen hatte sie benommen gemacht. »Vielleicht sollte ich einen Kaffee aufsetzen.«

»Das wäre wunderbar, Liebes, danke.«

Amanda lächelte. »Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein, Sie bleiben da und entspannen sich.« Ruth ging zurück ins Haus.

»Der Pool und der Whirlpool verschlingen Unmengen von Strom, das geht ins Geld. Wir werden Sonnenkollektoren anschaffen. Natürlich nicht während der Saison, wenn das Haus genutzt wird. Ich wollte bis September oder Oktober warten. Unser Bauunternehmer hat mir erzählt, seine Anlage erzeugt so viel überschüssigen Strom, dass er ihn an den Versorger zurückverkaufen kann. Das sollten viel mehr Leute tun.« Langsam konnte G. H. die Gesellschaft dieser Frau genießen. Er hatte gern ein Publikum.

»Umweltfreundliche Energie. Damit könnten wir den Planeten retten. So was sollte Vorschrift sein.« Manchmal sah Amanda vor dem Kino oder auf dem Bürgersteig Leute stehen, die Broschüren und Buttons für die Förderung von Windenergie verteilten, aber ihr kam das immer ein bisschen suspekt vor. »Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?« Mehr Small Talk.

»Im College hatte ich einen Mentor. Er war es, der mich dazu gebracht hat – ehrlich gesagt hatte ich bis dahin von der Arbeitswelt keine Ahnung. Meine Mutter hatte einen Friseursalon.« Sein Tonfall verriet Respekt für die Arbeit seiner Mutter. Sie war an Krebs gestorben – in Leber, Magen und Bauchspeicheldrüse –, wahrscheinlich wegen der Chemikalien, die Frauen wie sie verwendeten, um ihr Haar in die genehme Form zu bringen. »Stephen Johnson. Er ist schon lange tot. Beeindruckend, der Mann.«

»Wahrscheinlich ist das so, als hätte man einen grünen Daumen. Oder ein besonderes Talent für den Zauberwürfel. Manche Menschen werden reich, andere nicht.« Ihr war klar, zu welcher Sorte sie und Clay gehörten.

Das Thema war eines von G. H.s Steckenpferden. »Nun, dieser Glaube ist weitverbreitet. Aber man muss sich fragen, warum. Wer hat eigentlich ein Interesse daran, Ihnen weiszumachen, es sei unmöglich, zu Reichtum oder wenigstens zu einem gewissen Wohlstand zu gelangen? Es handelt sich um eine Fähigkeit, die jeder erlernen kann. Man braucht nur Informationen. Man muss die richtigen Zeitungen lesen und beobachten, was in der Welt passiert.« Natürlich musste man auch intelligent sein, aber das setzte er mal voraus.

»Ich lese Zeitung.« Sie war eine Frau von Welt, zumindest glaubte sie das. Sie wollte etwas über ihre Arbeit sagen, doch da gab es wenig zu erzählen.

»Man muss nur die Muster erkennen, die die Welt bestimmen. Haben Sie jemals von dem Mann gehört, der die Spielshow Press Your Luck ausgetrickst hat?« G. H. schaute über den Rand seiner Ray-Ban auf sie herab. Er hätte so gern eine Zeitung. Er dachte an die Zahlen. Er fragte sich, wie sie sich entwickelt hatten.

»Treffer oder Niete?«

»Er hat den Aufbau der Show studiert und herausgefunden, dass die Verteilung der Nieten keineswegs zufällig war. Die Verliererfelder erschienen immer in einer bestimmten Reihenfolge. Ein simples Muster, aber niemand hatte sich je die Mühe gemacht, es zu erkennen.« Reiche Menschen waren nicht moralisch überlegen. Sie wussten einfach nur, auf welchen Feldern man verlor.

»Interessant«, sagte sie, womit sie genau das Gegenteil zum Ausdruck brachte. Wo waren die Kinder? »Ich bin froh, dass ich jetzt nicht bei der Arbeit bin. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich helfe den Kunden gern, ihr Unternehmen bestmöglich zu präsentieren und mit den Verbrauchern in Kontakt zu treten. Aber es gehört eine Menge Diplomatie dazu, manchmal ist es ziemlich ermüdend.«

George fuhr fort. »Mein Mentor war einer der ersten Schwarzen an der Wall Street. Einmal hat er mich in seiner Mittagspause zum Lunch eingeladen. Zum Lunch! Ich war einundzwanzig.« Wie hätte er ihr vermitteln sollen, dass er nie zuvor auch nur daran gedacht hatte, in einem Restaurant zu Mittag zu essen, geschweige denn in einem Restaurant mit Teppichboden, Spiegeln, schweren Aschenbechern aus Messing und beflissenen, uniformierten Kellnerinnen mit Pferdeschwanz? Er war ohne Schlips aufgetaucht, deswegen hatte Stephen Johnson ihn erst einmal zu Bloomingdale’s geschleppt und ihm vier Ralph-Lauren-Krawatten gekauft. G. H. wusste nicht, wie er sie binden sollte; die Krawatten, die er zu Weihnachten trug, hatten an der Rückseite einen Clip.

»Ich war immer der Ansicht, dass Frauen in der Arbeitswelt zusammenhalten müssen. Und nicht nur dort! Ohne meine Mentorinnen wäre ich aufgeschmissen gewesen.« Das stimmte nicht ganz. Amanda hatte in der Tat für Frauen gearbeitet, zog männliche Chefs aber insgeheim vor. Deren Absichten waren leichter zu durchschauen.

»Er sagte zu mir: ›Wir sind alle nur Maschinen.‹ So einfach war das. Man kann sich aussuchen, welche Art von Maschine man sein möchte. Wir sind alle Maschinen, und manche Leute sind clever genug, über ihre Programmierung selbst zu bestimmen.« Was er damit eigentlich sagte: Nur Dummköpfe glauben an die Möglichkeit einer Rebellion. Das Kapital beherrscht alles. Man kann sich entweder darauf einlassen oder sich einbilden, man sei dagegen. Aber Letzteres war laut Stephen Johnson nur Selbstbetrug. Man konnte reich werden oder nicht, es war einfach bloß eine Frage der Entscheidung. Stephen Johnson und er waren die gleiche Art von Mensch. G. H. war nur deswegen Patriarch, Feingeist, Ehemann, Uhrensammler und Erster-Klasse-Passagier, weil er sich dafür entschieden hatte.

Amanda war verwirrt. Sie redeten nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. »Man sollte seinen Beruf lieben.«

Mochte er seinen Job, oder hatte er bloß im Laufe der Jahre gelernt, ihn zu mögen, wie die Partner in einer arrangierten Ehe irgendwann lernen, so etwas wie Zuneigung füreinander zu empfinden? »Ich hatte Glück.«

Die Hitze schien auf eine Entladung zuzusteuern, wie ein Orgasmus oder ein Niesen. Die brennende Sonne, das warme Wasser, und trotzdem fühlte Amanda sich energiegeladen: Sie hätte um den Block rennen oder Klimmzüge machen können. Sie wartete darauf, dass Clays Auto in der Einfahrt erschien. War er nicht seit mindestens einer Stunde weg? Sie lauschte auf ein Motorengeräusch.

Sie sollten abreisen. Wenn sie rechtzeitig loskamen, würden sie pünktlich zum Abendessen zu Hause sein. Sie könnten in einem der Restaurants um die Ecke essen, die ihnen sonst ein bisschen zu teuer waren, um ihr Stammlokal zu sein. Sie ahnte natürlich nicht, dass Clay das Gleiche gedacht hatte. Sie wusste nicht, dass der Umstand bewies, wie gut sie zueinander passten.

Im Garten war alles ruhig, nichts war zu hören als das stetige Blubbern des Whirlpools. Amanda beobachtete den Wald und meinte, eine Bewegung wahrzunehmen, konnte ihre Kinder aber nirgends erkennen. Früher hatte sie geglaubt, jede Mutter wäre dazu in der Lage, doch als sie dann zum ersten Mal mit ihren kleinen Kindern auf den Spielplatz gegangen war, hatte sie sie praktisch sofort aus den Augen verloren. Da war nichts gewesen als ein Meer aus kleinen Menschen, die nichts mit ihr zu tun hatten. Glücklicherweise hatten Archie und Rose einander, und sie waren immer noch jung genug, sich im Spiel zu verlieren und durch den Wald zu streifen wie Kinder vom Land.

Amanda saß im Wasser und gab es auf, und da geschah es. Etwas passierte. Ein Knall ertönte, wobei das Wort nicht ganz zutraf. Lärm war auch nicht die korrekte Bezeichnung, wobei sich am Ende alle Arten von Lärm der Beschreibung entziehen. Letztendlich war auch Musik nur ein Geräusch; kam man Beethoven durch Worte näher? Da war ein Geräusch, ja, aber dieses Geräusch war so laut, dass es fast greifbar erschien, und es kam absolut unvermittelt, weil es in die Stille hineinplatzte. Erst war da nichts (das echte Leben!), und dann war da das Geräusch. So etwas hatten sie nie zuvor gehört. Wie auch. Dieses Geräusch, diesen Knall hörte man nicht – man erlebte, ertrug, überstand und bezeugte ihn. Es war nicht übertrieben zu behaupten, dass der Knall ihr Leben in zwei Teile zerlegte: in die Zeit davor und die Zeit danach. Er war Krach, aber auch Verwandlung. Ein Krach, der ihnen etwas bestätigte. Etwas war geschehen, etwas geschah und wirkte weiter, und das Geräusch war sein Beweis, selbst wenn es ein Rätsel blieb.

Verstehen konnte man es erst im Nachhinein. So funktioniert das Leben: Ich werde von einem Auto angefahren, ich erleide einen Herzinfarkt, das lilagraue Ding zwischen meinen Beinen ist der Kopf unseres Kindes . Momente der Offenbarung am Ende einer langen Ereigniskette, die sich bis zum Moment der Enthüllung im Verborgenen fortgesetzt hatte. Die Suche nach dem Sinn geschah immer rückwärts, so hielten es die Menschen, so hatten sie es gelernt. Wie dem auch sei. Sie hörten ein Geräusch.

Nicht direkt ein Krachen, auch kein Klatschen. Lauter als Donner, gellender als eine Explosion (keiner von ihnen hatte je eine Explosion gehört). Offenbar waren Explosionen weitverbreitet, in Filmen wurden sie ständig gezeigt, aber im richtigen Leben waren sie selten, beziehungsweise war ihnen allen die Erfahrung glücklicherweise erspart geblieben. Im Augenblick stand nur fest, dass sie Lärm hörten, laut genug, um ihre Vorstellung von Lärm für immer zu verändern. Wären sie nicht so verängstigt, überrascht oder seltsam ergriffen gewesen, hätten sie geweint. Vielleicht weinten sie tatsächlich.

Der Knall an sich dauerte nur kurz, aber danach summte die Luft für eine gefühlte Ewigkeit. Was war Knall und was Nachwirkung? Fragen ohne Antworten. Amanda stand auf. Hinter ihnen knackte die Glasscheibe der Tür, durch die man vom Schlafzimmer aufs Holzdeck gelangte, und ein feiner, sehr langer Riss lief hindurch, schön wie eine mathematische Kurve. Er sollte noch eine ganze Weile unbemerkt bleiben. Das Geräusch war laut genug, um einen Menschen in die Knie zu zwingen. Genau das passierte Archie gerade, tief im Wald: Er fiel auf die nackten Knie. Ein Geräusch, das Menschen in die Knie zwang, war nur dem Namen nach ein Geräusch. Dann wiederum brauchte man wohl keine Bezeichnung dafür, denn wie oft würde man sie schon benutzen?

»Was, zum Teufel?« Möglicherweise die einzig angemessene Reaktion. Amanda hat nicht zu George gesprochen, sie meinte niemand Bestimmten. »Was, zum Teufel?« Sie wiederholte die Frage ein drittes, viertes, fünftes Mal, es war egal. Sie fragte immer wieder, aber die Frage blieb unbeantwortet wie ein Gebet.

Amanda zitterte. Sie war nicht erschüttert, sondern schüttelte sich vielmehr, sie vibrierte. Sie verstummte. Wie könnte man solch einem Geräusch anders begegnen als schweigend? Sie glaubte zu schreien, es fühlte sich so an, aber in Wirklichkeit schnappte sie nach Luft wie ein Fisch, der versehentlich aus dem Teich gesprungen ist, wie eine Taubstumme auf dem Höhepunkt der Erregung. Nur der Schatten von Sprache, ihre Silhouette. Amanda war wütend.

»Was …« Sie hatte kein Bedürfnis, den Satz zu beenden, sie sprach ohnehin nur mit sich selbst. »Was. Was. Was.«

George war aus dem Whirlpool gesprungen, ohne sich mit einem Handtuch zu bedecken. Die Welt schien wieder still, nur ein Nachleuchten, eine gähnende Leere, wo eben noch das Geräusch gewesen war. Vielleicht hatten ihre Ohren Schaden genommen, und die Stille war nur eine Illusion. Vielleicht war ihr Gehirn geschädigt. Die Medien hatten von Konsulatsmitarbeitern in Havanna berichtet, deren neurologische Symptome mutmaßlich auf eine Lärmattacke zurückgingen. Amanda hatte gar nicht gewusst, dass es akustische Waffen gab, dass man sich sogar schon vor Geräuschen fürchten musste. Während eines Gewitters beruhigte man guten Gewissens seine Kinder, und auch die Haustiere.

Amanda zitterte. Sie schmeckte etwas Scharfes, als hätte sie eine jener alten Halbdollarmünzen mit Kennedys Konterfei auf der Zunge. Sie wagte nicht, sich zu bewegen aus Angst, das Geräusch könnte sich wiederholen. Ein zweites Mal würde sie wahrscheinlich nicht überleben. Sie wollte den Knall nie wieder hören. »Was war das?« Wieder meinte sie nur sich selbst. War der Lärm aus der Nähe gekommen, aus dem Haus oder vom Grundstück, oder hatte er etwas mit dem Wetter zu tun? Lag es an den Sternen, war der Himmel aufgerissen, um Gottes Ankunft anzukündigen? Aber noch während sie sich das fragte, wurde ihr klar, dass sie niemals eine zufriedenstellende Erklärung bekommen würde. Das Geräusch war jenseits der Logik, oder mindestens jenseits der Erklärung.

Zunächst geschah alles sehr langsam. Sie stieg aus dem Wasser, ging einen Schritt, sprang die Stufen hinunter. Sie hatte gerade erst einen Blick in den Wald geworfen. Sie versuchte, ihre Kinder in alldem Grün und Braun zu erkennen. Sie sollte sie rufen, sie rief, nichts passierte. Ihre Stimme versagte, konnte sich nicht mit ihrem Körper verbinden. Amanda ging weiter, langsam erst, dann schneller, sie begann, zu traben und dann zu rennen, über den Rasen und am Pool vorbei, sie stieß das Tor auf und rannte weiter. Ihre Kinder mit dem perfekten Gesicht und dem makellosen Körper waren irgendwo da draußen. Amanda nahm nichts wahr als die verwischte Landschaft. Sie war so blind wie eine kurzsichtige Frau ohne Brille, alles war unscharf, zu hell, unmöglich zu erkennen.

Sie lief weiter. Der Garten war nicht besonders groß, die Strecke kurz. Sie rief immer noch nicht, denn sie war ganz aufs Laufen konzentriert. Im Schatten der Bäume stand ein kleiner Schuppen. Sie riss die Tür auf, der Schuppen war leer. Sie lief weiter, eigentlich war sie selbst vor dem Schuppen kaum stehen geblieben, bis ans Ende des Grundstücks. Erde und getrocknetes Laub. Der Knall war vorbei, aber sie hörte immer noch etwas, das Blut in ihren Adern, ihr aufgebrachtes Herz. Sie wollte die Kinder an sich drücken.

Amanda sprang über einen niedrigen Ast, über den sie mühelos hätte steigen können, ihre Füße sanken in einen weichen Teppich aus Humus ein und stießen gegen Kiesel, spitz zulaufende Rinde, Dornen. Der Untergrund fühlte sich unangenehm nass an. Sie sollte rufen, aber sie fürchtete, die Kinder zu übertönen, womöglich riefen sie verzweifelt nach ihr, Mama , wie zum Tode Verurteilte vor der Hinrichtung.

Die Kinder, wo waren die Kinder? Die Bäume schienen kaum an ihr vorbeizuziehen. Sie standen einfach nur gleichgültig da. Amanda sank zu Boden. Sie trug Shorts, und die kühlen Blätter, die Rinde, die Erde waren fast ein Trost. Der Schlamm an ihren rosa Knien fühlte sich an wie Balsam. Ihre gepflegten Füße waren jetzt schwarz und verkrustet, schmerzten aber nicht. Endlich fand sie zu sich selbst. Sie wollte die Kinder rufen, ihre liebevoll ausgewählten Namen hinausschreien, aber anstelle von »Archie« und »Rosie« (sicher hätte die Koseform sich zusammen mit der Liebe und der Sehnsucht Bahn gebrochen) stieß Amanda nur ein schreckliches, tierisches Brüllen aus. Es war das zweitschlimmste Geräusch, das sie je gehört hatte.