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Elternschaft bedeutet Abhärtung. Vorrangigste Aufgabe der Eltern ist es, den Kinderkörper am Leben zu erhalten, mit allen Konsequenzen. Früher hatte der Anblick von Erbrochenem Amanda zum Würgen gebracht, aber als ihre Kinder die Betroffenen waren, stellte sie sich dem eigenen Ekel. Im Krisenfall wurde sie noch ruhiger. Sie rief nach Clay. Sie wusch ihren Sohn wie damals, als er noch ein kleiner Junge war.

Als die Kinder noch im Windelalter waren, hatten Clay und Amanda sich auf Mann-gegen-Mann-Verteidigung geeinigt. In jenem ersten elenden Winter fuhr Clay mit Archie ins New York City Transit Museum (zugig und kalt, weil es sich in einer alten U-Bahn-Station befand, aber immerhin überdacht), während Amanda Rosie durch die Wohnung trug und dabei das Björk-Album über den tollen Sex mit Matthew Barney hörte. Das Baby warf auf der Suche nach der Brust den Kopf hin und her. Amanda konnte sich bis heute an diese eine Stelle vor der Küche erinnern, wo die Dielen unter den Füßen knarzten. Clay sah immer noch die Waggons aus einer längst vergangenen, unschuldigeren Ära auf den veralteten Museumsschienen vor sich, samt Rattansitzen und Deckenventilatoren. Amanda zog das Bettzeug ab, Clay begleitete den Jungen ins Wohnzimmer.

»Wir haben ein Thermometer.« Ruth hatte in weiser Voraussicht das Bad mit einer kleinen Notfallapotheke ausgestattet: Schmerztabletten für Erwachsene und Kinder, Verbandszeug, Jodtinktur, Kochsalzlösung, Vaseline.

»Danke.« Clay half dem Jungen in sein zu großes Sweatshirt und glättete ihm das zerzauste Haar. Er setzte sich neben ihn aufs Sofa, und dann schauten sie gemeinsam in den Garten und verfolgten, wie der Regen den Swimmingpool füllte.

Die Körpererinnerung der Mutter war stark. Ruth brachte das Thermometer. »Wir sollten seine Temperatur messen.«

Auch bei G. H. setzten die Elterninstinkte ein. Er half Rose, die versteckten Backzutaten zu finden: Puderzucker, Tuben mit bunter Zuckerschrift, Geburtstagskerzen, Streusel in kleinen Plastikdosen. Rose war nicht dumm, aber sie nahm die Ablenkung dankbar an. Sie kippten den Kuchen auf einen Teller, und dann drehte Rose ihn gekonnt unter dem Spachtel, bis er lückenlos mit Zuckerguss bestrichen war.

»Danke«, sagte Clay.

Ruth legte eine Hand an das Kinn des Jungen und schob ihm die Spitze des Glasröhrchens unter die Zunge. »Du bist warm. Lass uns mal nachsehen, wie warm.«

»Wie fühlst du dich, Kumpel?« Wenn Clay ernsthaft besorgt war, zeigte er seine Zuneigung auf Männerart. Er hatte bereits gefragt, Archie hatte bereits geantwortet. Clay wollte den Jungen umarmen und an sich drücken, aber das würde Archie sich nicht gefallen lassen, denn er war fast ein Mann.

»Es geht mir gut«, murmelte Archie am Thermometer vorbei, was seine jugendliche Herablassung erheblich dämpfte.

Ruth studierte das Instrument. »Achtunddreißig acht. Gar nicht so schlecht. Aber auch nicht gut.«

»Trink dein Wasser, Kumpel.« Clay drückte dem Jungen das Glas in die Hand.

»Hier, nimm die.« Ruth schüttelte Archie zwei Paracetamol in die Hand, fast synchron dazu warfen G. H. und Rose etwas Zuckerkonfetti auf den Kuchen. Ein hübsches kleines Ballett.

Archie gehorchte. Er nahm einen Schluck Flüssigkeit in den Mund und dann die Pillen. Er schluckte sie hinunter und versuchte zu erspüren, ob sein Hals schmerzte. Er wollte fernsehen oder nach Hause fahren oder sich mit dem Handy ablenken, aber weil nichts davon möglich war, saß er einfach nur da und schwieg.

»Ich werde Amanda helfen.« Ruth war froh, ein Problem lösen zu können, oder es wenigstens zu versuchen. »Ruh dich einfach hier aus.«

Die Badewanne war voll mit dem Wasser, das ihnen das Leben retten sollte, also trug Amanda die besudelten Laken ins Bad neben dem Elternschlafzimmer und spülte das (glücklicherweise wässrige) Erbrochene in der gefliesten Dusche aus. Sie drückte die Baumwolle so gut wie möglich aus und wrang sie, bis der Stoff zu reißen drohte. Sie packte nicht zuletzt deswegen so fest zu, weil sie sich ärgerte. Sie trocknete sich die Hände und ging ins Schlafzimmer. Wie schnell sie sich hier ausgebreitet hatten. Auf links gedrehte Unterwäsche, eine gebrauchte Papierserviette, eine Zeitschrift, ein Glas Wasser – lauter kleine Beweise dafür, dass sie existierten und durchhielten. Bei den Bäumen schlug das Leben sich in Ringen nieder, die man nicht sehen konnte; bei Menschen im Müll, den sie überall verteilten wie zum Beweis ihrer Wichtigkeit. Amanda machte sich ans Aufräumen.

»Klopf, klopf.« Ruth klang wie eine Figur aus einer Sitcom. Sie stand im Flur, den Wäschekorb auf der Hüfte. »Ich wollte nicht stören, ich wollte Sie nur fragen, ob ich Ihnen die Wäsche abnehmen soll.«

Aus unerfindlichem Grund deutete Amanda eine Art Knicks an, schließlich stand sie im Schlafzimmer der Frau. »Es tut mir leid. Ich kann mich selbst um Archies Bettwäsche kümmern.«

»Es braucht Ihnen nicht leidzutun. Werfen Sie sie einfach hier rein. Es geht ihm ganz gut, aber er hat Fieber. Achtunddreißig acht.«

»Achtunddreißig acht?«

»Das klingt hoch, aber Sie wissen doch, wie das bei Kindern ist. Das Immunsystem ist praktisch fabrikneu und läuft auf Hochtouren. Ich habe ihm Paracetamol gegeben.«

»Ich danke Ihnen.«

»Sie können mir auch Ihre Kleidung geben. Wir sollten ausnutzen, dass der Strom noch da ist.«

Amanda fand das ein bisschen seltsam, doch Ruth bewies wirklich Weitsicht. Zu waschen würde ihnen in New York City den Weg zum Waschsalon ersparen. Amanda ahnte nicht, dass der Waschsalon geschlossen war. Sie wusste nicht, dass der chinesische Betreiber in einem Aufzug zwischen den Drehkreuzen und dem Bahnsteig der Brooklyner Haltestelle der Linie R feststeckte, seit Stunden schon; dass er dort sterben würde, was allerdings noch viele Stunden in der Zukunft lag. »Eine gute Idee. Ich danke Ihnen.«

Sie beobachteten einander wie vor einem Duell. Vielleicht war es unvermeidlich. Ruth hatte Mitleid mit der Frau. Sie wusste, was von ihr verlangt wurde, und es gefiel ihr gar nicht, aber sie machte gute Miene zum bösen Spiel. Was war mit Maya und den Jungs? »Wissen Sie, Sie können gern hierbleiben. Wenn Sie möchten.«

Das kleine Haus als Rettungsfloß. Unwissenheit als eine Art von Wissen. Doch Amanda würde sich nicht verführen lassen, sie hatte keine Lust, eine Ewigkeit (als würde sie ihr gewährt!) mit diesen Leuten zu verbringen. Ein Teil von ihr fragte sich immer noch, ob das Ganze nicht vielleicht ein Betrug oder eine Wahnvorstellung war. Es war Folter, wie ein Einbruch ohne Vergewaltigung und Waffengebrauch. Trotzdem, die Frau war wohl die einzige Verbündete, die sie jetzt noch hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Archie muss zum Arzt.«

»Vielleicht müssen wir das alle. Was, wenn es in uns eingedrungen ist? Wenn irgendwas begonnen hat … oder alles zu Ende geht?« Unmöglich, es nicht zu denken. Alle nannten den Amazonas die grüne Lunge des Planeten. Hüfttiefes Wasser plätscherte gegen venezianischen Marmor, die Touristen lächelten und machten Schnappschüsse. Sie hatten eine stillschweigende Übereinkunft getroffen und sich endlich eingestanden, dass die Welt kollabierte. Dass alle den Ernst der Lage begriffen hatten, konnte eigentlich nur bedeuten, dass die Lage in Wahrheit noch viel aussichtsloser war. Ruth war keine Hypochonderin, aber sie meinte zu spüren, wie die Krankheit in ihrem Körper Wurzeln schlug. Sie war überall und unausweichlich.

»Ich kann nicht über das Ungewisse nachdenken, ich muss mich auf das Naheliegende konzentrieren. Archie muss zum Arzt, ich werde ihn gleich morgen früh hinbringen.«

»Aber Sie haben Angst. Und ich auch.«

»Das bringt uns nicht weiter. Ich kann nicht hierbleiben, ich werde mich nicht verstecken. Ich bin seine Mutter. Was sollte ich sonst tun?«

Ruth setzte sich auf die Bettkante. Sie wollte nicht in die nächste kleine Stadt oder noch weiter nach Northhampton. Sie wollte einfach nur ins Bett. »Ja, da haben Sie recht.«

»Können Sie mich irgendwie aufmuntern?« Amanda sehnte sich nach Freundschaft oder Menschlichkeit, nach ermutigenden, beruhigenden Worten.

Ruth schlug die Beine übereinander und sah zu ihr auf. »Das kann ich leider nicht. Trösten.«

Amanda war enttäuscht.

»Vielleicht brauche ich selbst Trost.« Sie wollte unbedingt die Wäsche waschen. Der unaufdringliche Duft des Waschmittels, das Donnern des Wassers in der Trommel. »Und deswegen kann ich Ihnen keinen anbieten. Aber bitte, bleiben Sie. Ich halte es wirklich für das Klügste. Es wäre vernünftig. Auch wenn ich Sie leider nicht aufmuntern kann. Ich habe keinen weisen Rat und keine Predigt auf Lager.«

»Ich … ich weiß.«

»Wenigstens haben Sie Ihre Kinder hier bei sich. Ich weiß nicht, wie es meiner Tochter geht. Oder meinen Enkeln. Wir wissen nicht, was da draußen in der Welt los ist. Es lässt sich nicht ändern.«

Amanda war das ebenfalls klar, so war das meistens, aber sie wünschte sich trotzdem das Gegenteil. Ihre Kleidung roch nach dem Erbrochenen ihres Sohnes, die Luft nach dem Kuchen ihrer Tochter. »Wir sollten etwas essen. Ich gehe schnell duschen, und dann essen wir. Das wird uns guttun.« Nein, so hatte sie das nicht gemeint. »Mir fällt nichts Besseres ein.«