Kapitel 2

Durch das offene Fenster drang der herrliche Duft von Frühlingsregen und frischem Grün zu Isabelle hinein, die am Sekretär ihrer Mutter saß. Auch drei Monate nach ihrem Tod war Isabelle noch damit beschäftigt, Dankes-Karten an die Geschäftspartner ihres Vaters zu schreiben. Viele von ihnen hatten im Gedenken an Monique großzügige Spenden an ihre Wohltätigkeitsorganisationen veranlasst. Mit einem Seufzen legte Isabelle den Stift nieder.

Oh, Mama. Wie sehr ich dich vermisse. Ich gebe mir große Mühe, deine Arbeit fortzuführen, aber ohne dich ist es einfach nicht dasselbe.

Als extravagante Frankokanadierin mit einem Hang zur Theatralik hatte Monique Wardrop die Bewunderung der Vorstandsvorsitzenden von verschiedensten Wohltätigkeitsorganisationen genossen, deren Schirmherrin sie gewesen war. Isabelle jedoch ließ man deutlich spüren, dass man sie für zu jung erachtete, um in diese verantwortungsvolle Rolle zu schlüpfen. Nichtsdestotrotz hatte Isabelle fest vor, diese Arbeit fortzuführen.

„Entschuldigen Sie bitte, Miss. Aber da ist Besuch für Sie“, erklang Mrs Bartons Stimme von der Tür aus.

„Wer ist es diesmal?“ Isabelle war die unzähligen Besucher leid, die noch immer unangekündigt hier auftauchten. Potenzielle Verehrer mitinbegriffen. Merkten sie denn nicht, wie erschöpft Isabelle war? Wie sehr es sie anstrengte, in ihrer Trauer allen beweisen zu müssen, wie „gut sie sich schlug“?

„Mr Noland. Soll ich ihm sagen, Sie seien unpässlich?“

„Nein, ist schon in Ordnung“, erwiderte Isabelle und stand auf. Mit einer Hand strich sie sich den Rock glatt, überprüfte, dass die Nähte ihrer Nylonstrumpfhose gerade saßen, und machte sich auf ins Foyer.

Seit Mutters Tod hatte Vater sich umso emsiger darum bemüht, Isabelle so vielen heiratswürdigen Männern vorzustellen wie möglich. „Deine Mutter hat stets davon geträumt, dich glücklich verheiratet zu wissen“, sagte er ihr eins ums andere Mal. „Ihr letzter Wunsch ist mir ein großes Anliegen.“

Immer wenn die beiden miteinander sprachen, setzte sein besorgtes Gesicht Isabelle schwer zu, und sie brachte es nicht übers Herz, seinen Bemühungen ein Ende zu setzen. Stattdessen nahm sie tapfer Mutters Rolle an seiner Seite ein und begleitete ihn nicht nur zu den zahlreichen gesellschaftlichen Anlässen, sondern billigte auch die Avancen der Junggesellen, denen ihr Vater sie vorstellte. Die meisten erschienen ihr eintönig und fad, nicht aber Roger Noland. Mit seiner freundlichen Art hatte er schnell ihre Gunst gewonnen.

„Hallo, Roger“, grüßte sie ihn, entschieden, die fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten. „Das ist aber eine nette Überraschung.“

„Isabelle. Wie schön, Sie zu sehen“, sagte der hochgewachsene Mann mit einem Lächeln auf den Lippen.

Wenngleich er nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprach, hatte Roger sehr markante Züge. Die lange Nase, die eleganten Brauen und das kantige Kinn fielen sofort ins Auge und mit seiner selbstbewussten Haltung erregte er überall Aufsehen.

Sie trat auf ihn zu. „Was führt Sie her?“

Er beugte sich vor, um ihr einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben. „Braucht es denn einen anderen Grund als Ihr schönes Gesicht?“ Hitze breitete sich auf Isabelles Wangen aus. Unter anderen Umständen hätte sie einen ebenso koketten Kommentar erwidert, doch für solch einen Schlagabtausch war sie heute nicht in Stimmung. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, vielen Dank. Ich muss gleich wieder weiter. Im Grunde bin ich nur hier, um Sie für morgen Abend zum Essen einzuladen.“

„Und da hätten Sie nicht einfach anrufen können?“, fragte Isabelle mit einem Stirnrunzeln.

„Und Ihnen die Chance geben, mich abzuweisen? Nein, nein. Am Telefon ist es viel einfacher, eine Einladung auszuschlagen, als wenn man sich gegenübersteht.“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Nun, da haben Sie wohl recht.“

„Es hat also funktioniert?“, hakte er mit hochgezogener Braue nach. „Beehren Sie mich morgen Abend mit Ihrer Anwesenheit?“

Isabelle spürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend. Die letzten Monate hatte sie sich voll und ganz dem Gram hingegeben. Vielleicht war es Zeit für ein paar vergnügliche Momente – mit einem wahren Gentleman, der auch in den Augen ihres Vaters eine sehr gute Partie abgab.

Von all den Männern, die ihre Eltern ihr über die letzten Jahre angepriesen hatten, waren nur drei von ihnen für Isabelle infrage gekommen: Adam Templeton, Elias Weatherby und Roger Noland. Tatsächlich mochte sie Roger, ein Immobilienmakler aus Vaters Firma, am liebsten. Mit seinem Scharfsinn und für ihn so typischen Humor war er in den Tagen nach Mutters Tod der einzige gewesen, der sie aufzumuntern vermochte.

Auch in den Wochen und Monaten danach hatte er den Kontakt aufrechterhalten und sie hatte seine Besuche immer willkommen geheißen. Nie hatte er sie zu einer Verabredung gedrängt, sie aber immer wissen lassen, dass er für sie da war. Adam Templeton hatte seine Beileidsbekundungen zusammen mit einem Blumenstrauß geschickt und sich beim Leichenschmaus sehr besorgt um sie und ihre Schwester gezeigt. Elias Weatherby hingegen hatte bloß eine unpersönliche Trauerkarte geschickt und abgesehen von einem kurzen Wortwechsel am Tag der Beerdigung hatte er seither nichts mehr von sich hören lassen.

Lächelnd hob Isabelle den Blick. „Ja, ich gehe sehr gern mit Ihnen essen, Roger.“ Vielleicht würde endlich wieder ein gewisser Grad von Normalität in ihr Leben zurückkehren. Das Dinner könnte zumindest ein Anfang sein.

„Hervorragend“, sagte er mit einem breiten Strahlen, bei dem seine Grübchen zum Vorschein kamen. „Dann reserviere ich uns einen Tisch im Le Beau Monde. Das wird ein ganz besonderer Abend“, verkündete er und hob ihre Hand überschwänglich für einen Handkuss an seinen Mund. „Bis morgen.“

Das Funkeln in seinen Augen ließ Isabelles Herz höherschlagen. Und das Le Beau Monde war ein ausgesprochen romantisches Restaurant. Hatte er womöglich vor, um ihre Hand anzuhalten?

Und falls ja, wie würde ihre Antwort lauten?

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Mark zog vor der Tür rasch seine schlammverkrusteten Schuhe aus. Er hatte nicht vorgehabt, vor seiner Schicht im Krankenhaus noch zu Hause vorbeizugehen, aber der anhaltende Regen hatte die unbefestigten Straßen in Torontos Armenviertel in einen Morast verwandelt. Mit seiner mit Schlamm besprenkelte Hose und den dreckigen Schuhen konnte er sich keineswegs im Krankenhaus blicken lassen. Er hing den Mantel an die Garderobe und wollte gerade die Treppe hocheilen, als er ein Scheppern aus der Küche hörte.

Verwundert runzelte er die Stirn. „Josh, bist du das?“ Eigentlich sollte sein jüngerer Bruder noch in der Schule sein.

„Ja“, lautete die einsilbige Antwort, die Mark keinerlei Informationen darüber lieferte, warum Josh hier und nicht im Unterricht war.

Mit einem Seufzen machte Mark sich auf in den hinteren Teil des Hauses.

Josh stand an der Küchenzeile und schenkte sich ein Glas Milch ein. In der Spüle stapelte sich das dreckige Geschirr, das er eigentlich heute Morgen vor der Schule hätte abspülen sollen.

„Warum bist du schon so früh zu Hause?“, wollte Mark wissen und gab sich Mühe, möglichst neutral zu klingen und seinem Bruder einen Vertrauensvorschuss zu gönnen.

Der schlaksige Junge zuckte mit den Schultern, ohne sich zu Mark umzudrehen. „Chemie ist ausgefallen. Also bin ich kurz heimgekommen, um vor dem Chor noch eine Kleinigkeit zu essen.“

Ärger machte sich in Mark breit. „Das ist schon das zweite Mal diesen Monat, dass dieser Kurs angeblich ausfällt. Was ist wirklich los, Josh?“

In letzter Zeit fiel es Mark immer schwerer zu unterscheiden, ob sein Bruder ihm die Wahrheit sagte oder nicht. Eine sehr beunruhigende Entwicklung. An Joshs Wut, die immer unter der Oberfläche zu brodeln schien und in den unverhofftesten Momenten ausbrach, hatte Mark sich bereits gewöhnt. Doch dass er nun auch noch log, war neu. An diesem entscheidenden Punkt in seiner schulischen Laufbahn durfte Mark auf keinen Fall zulassen, dass er sich mit seiner jugendlichen Aufsässigkeit die Zukunft verbaute.

„Nichts ist los“, erwiderte Josh gereizt und drehte sich mit zusammengezogenen Brauen zu ihm herum. „Was kann ich denn dafür, dass unser Lehrer so unzuverlässig ist.“

In letzter Zeit lehnte sich Josh immer mehr gegen seine Autorität auf und Mark hatte den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren. Das musste er verhindern, zumindest bis Joshs Zukunftsbahnen geebnet waren – die Zukunft, die sich ihre Eltern für die beiden gewünscht hatten. „Vielleicht sollte ich mal mit deinem Lehrer sprechen. Schließlich stehen schon in zwei Monaten die Abschlussprüfungen an, das muss ihm doch klar sein.“

Ein Ausdruck von Unbehagen legte sich über Joshs Gesicht. „Ach, es ist doch nur der Zusatzkurs, Mark. Nichts Wichtiges.“

„Natürlich ist der wichtig, vor allem für dich. Du brauchst Bestnoten in Mathematik und allen Naturwissenschaften, um zum Medizinstudium zugelassen zu werden.“

Josh grummelte: „Bis zum Studium ist es noch lange hin.“

„Aber für die Aufnahme an der Uni sind gute Noten unabdingbar. Ich verstehe einfach nicht, warum –“

„War’s das dann?“, sagte Josh genervt und schob sich mit aufgeblähten Nasenflügeln an Mark vorbei. „Und außerdem riechst du wie ein Plumpsklo. Warum arbeitest du eigentlich immer noch in diesem Armenviertel?“

Bei der Verachtung in seinen Worten zuckte Mark zusammen. „Auch diese Menschen brauchen einen Arzt, Josh. Und nur weil sie arm sind, heißt das nicht, dass sie nicht genauso unseren Respekt und unser Mitgefühl verdienen.“

Eine Philosophie, nach der auch ihr Vater gelebt hatte. „Arme Menschen haben das gleiche recht auf medizinische Behandlung wie Reiche, mein Sohn. Vergiss das nie.“ Thaddeus Henshaw war der Inbegriff eines Landarztes gewesen. Selbst als sie in die Stadt gezogen waren, hatte er jedem das Gefühl gegeben, ein wichtiger Patient zu sein. Etwas, das auch Mark Tag für Tag vor Augen hatte.

„Aber du bist doch mit dem Krankenhaus und dem Mütterheim schon genug beschäftigt. Und dann noch all deine Privatpatienten. Warum musst du dort auch noch hin?“

Ohne den kleinen Anflug von Verletzlichkeit im Gesicht seines Bruders hätte Mark den wahren Grund für Joshs Beschwerde nicht erkannt – er nahm sich zu wenig Zeit für seinen Bruder.

„Ich bin nicht nur Arzt, um Geld zu verdienen. Für mich ist das nicht bloß ein Beruf, es ist meine Berufung. So wie bei Dad.“

Als Mark an der Treppe ankam, stieg ihm der strenge Geruch in die Nase, wegen dem er ursprünglich nach Hause gekommen war. „Ich muss mich jetzt umziehen und dann ins Krankenhaus. Im Kühlschrank ist noch etwas Schinken, wenn du nachher vom Chor zurückkommst.“

„Okay.“

„Oh, und Josh – das Gespräch ist noch nicht zu Ende, über deine letzten Monate in der Schule reden wir noch mal.“

Doch Josh verdrehte bloß die Augen und schlug die Tür zu.

Mark hielt ein Seufzen zurück. Irgendetwas hatte Josh – etwas, das er vor seinem älteren Bruder verbarg.

„Herr“, flüsterte Mark, „bitte hilf mir, herauszufinden, was mit Josh los ist. Und hilf mir, ihn vor einem groben Fehler zu bewahren.“

In letzter Zeit betete Mark immer öfter. Er konnte jede Hilfe brauchen, denn es war seine größte Herausforderung gewesen, sich allein um seinen jüngeren Bruder kümmern zu müssen.

Als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte es Mark das letzte Bisschen seiner Kraft gekostet, sich zusammenzureißen und das Medizinstudium hinter sich zu bringen. Nach seinem Abschluss hätten Vater und Sohn in der Praxis Seite an Seite arbeiten sollen.

„Eine Gemeinschaftspraxis mit meinen zwei Söhnen“, hatte Thaddäus oftmals gesagt, „ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“

Zum ersten Mal nagten Zweifel an Mark, ob es ihm tatsächlich gelingen würde, den Traum seines Vaters wahr werden zu lassen.

Er würde sich einfach noch mehr Mühe geben müssen. Scheitern war keine Option.