„Du siehst bezaubernd aus, Belle. Wohin führt Roger dich aus?“, fragte Marissa, die auf Isabelles Himmelsbett saß und ihrer Schwester beim Fertigmachen zuschaute.
Über den Spiegel des Schminktischs sah Isabelle zu Marissa. „Ins Le Beau Monde. Und er hat angedeutet, dass es ein ganz besonderer Abend werden soll“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln und errötete leicht.
„Denkst du, er macht dir einen Antrag?“, fragte Marissa neugierig.
Mit ihren siebzehn Jahren war sie eine hoffnungslose Romantikerin und es kribbelte ihr bereits in den Fingern, sich selbst mit Männern zu verabreden, obgleich ihr Vater dies noch verbot. Anscheinend konnte er kaum fassen, dass sein kleines Mädchen zu einer jungen Frau heranwuchs, und versuchte, sie so lange wie möglich zu beschützen.
Umso mehr interessierte sich Marissa für Isabelles Liebesleben.
„Ja, vielleicht.“ Sie legte ein Silberarmband um und steckte sich passende Ohrringe an.
„Und was wirst du antworten?“
Kurz dachte Isabelle nach, dann lächelte sie wieder. „Ich denke, ich werde Ja sagen.“ Schon bei dem Gedanken daran, wie Roger ihr seine Liebe gestand und sein Leben mit ihr teilen wollte, schnellte ihr Puls in die Höhe. Die Ehe ihrer Eltern war ihr ein gutes Vorbild gewesen und so fühlte Isabelle sich auf diese Rolle bestens vorbereitet. Sie hoffte bloß, eine ebenso gute Ehefrau abzugeben wie ihre Mutter.
Voller Vorfreude sprang Marissa vom Bett auf und warf sich Isabelle in die Arme. „Oh, Belle! Und ich werde deine Brautjungfer sein und dir bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen. Ich kann es kaum erwarten!“ Isabelle lachte. „Ein Schritt nach dem anderen. Vielleicht irre ich mich ja auch.“
„Ganz bestimmt nicht. Mir ist nicht entgangen, wie er dich immer ansieht“, erklärte Marissa verträumt. „Ich hoffe nur, dass man mich eines Tages auch mal so bewundert.“
Nachdenklich studierte Isabelle ihre Schwester. „Hast du jemand Bestimmtes im Sinn?“
Sofort errötete Marissa. „Nein, eigentlich nicht.“
„Wirklich? Da ist niemand, auch nicht von der Jungenschule zum Beispiel?“, hakte Isabelle grinsend nach. „Oder vielleicht aus dem Kirchenchor?“
Marissa zuckte mit den Schultern. „Na gut, vielleicht gibt es da jemanden, den ich mag.“
„Aha, dachte ich’s mir doch. Und wie heißt er?“
„Das sage ich nicht“, erwiderte Marissa schnell und warf ihr honigbraunes Haar über die Schulter. „Sonst blamierst du mich nur.“
„Niemals.“
Abwehrend verschränkte Marissa die Arme, an die Stelle ihres Lächelns trat ein herausfordernder Blick. „Ach ja? Du führst dich nämlich immer mehr auf wie Mum, seit …“, sie hielt inne und presste die Lippen aufeinander.
Ihre Worte trafen Isabelle. Es stimmte, sie hatte Marissa in den letzten Wochen etwas bemuttert. Aber doch nur, weil ihr Vater so wenig Zeit für sie hatte und Isabelle sich verantwortlich fühlte für ihre jüngere Schwester. „Ich möchte dich doch nur beschützen, Rissa. Bitte versprich mir, vorsichtig zu sein. Jungs in deinem Alter sind oft aufdringlich und … können sehr überzeugend sein.“
„So ein Unsinn. Mach dir keine unnötigen Sorgen.“
„Also gut“, sagte Isabelle und legte eine Hand auf Marissas Arm. „Bitte denk an deine Hausaufgaben, ja? Ich bin vermutlich erst zurück, wenn du schon schläfst.“ Sie nahm die dünne Jacke vom Bett und gab Marissa einen Kuss zum Abschied. „Und bitte sorg dafür, dass Papa etwas Vernünftiges isst.“ Bei diesen Worten zeichneten sich Sorgenfalten auf ihrer Stirn ab. „In letzter Zeit scheint er neben sich zu stehen. Und er arbeitet viel zu viel. Versuch doch mal, ob du ihn zu einem gemeinsamen Urlaub überreden kannst.“ Wenn das jemandem gelang, dann ihrer Schwester.
„Ich gebe mein Bestes“, sagte Marissa und folgte ihrer Schwester wie ein kleines Hündchen. „Und weck mich, wenn ich später tatsächlich schon schlafen sollte, ja?“
„Morgen ist Schule, Rissa … aber gut, wenn es einen Ring gibt, wecke ich dich.“ Gute Nachrichten würden Marissa guttun.
„Danke. Habt einen schönen Abend.“
Bevor Isabelle ging, wollte sie noch kurz bei ihrem Vater in der Bibliothek vorbeisehen. Wider Erwarten stellte sie fest, dass er gar nicht da war. Merkwürdig – ihn hatte es nämlich besonders gefreut, dass sie Rogers Einladung angenommen hatte.
„Fiona?“, rief Isabelle.
„Ja, Miss?“, erwiderte die rothaarige Bedienstete aus dem Foyer.
„Ist mein Vater schon zu Hause?“
„Nein, Miss. Nicht, dass ich wüsste“, sagte sie und senkte den Staubwedel. „Aber ich kann gern noch einmal Mrs Barton fragen.“
„Ja, bitte. Ich warte derweil im Salon auf Mr Noland.“
Leicht beugte Fiona sich zu Isabelle vor und flüsterte mit einem Zwinkern: „Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Abend.“ Ihre grünen Augen funkelten.
Auch Isabelle lächelte. „Danke sehr.“
Fiona, die bloß wenige Jahre älter war als Isabelle, war das persönliche Dienstmädchen ihrer Mutter gewesen. Nach Mutters Tod hatten Isabelle und Marissa darauf bestanden, dass Fiona ihre Anstellung nicht verlor. Die beiden waren mit ihr aufgewachsen und mit Fiona im Haus fühlte es sich an, als wäre ihnen wenigstens noch ein kleiner Teil ihrer Mutter erhalten geblieben.
Fünf Minuten später kehrte Fiona zurück. „Weder Mrs Barton noch die Köchin haben etwas von Mr Wardrop gehört, Miss. Sicherlich wurde er im Büro aufgehalten.“
„Ja, wahrscheinlich. Danke, Fiona.“
Mit einem Blick auf die Uhr sank Isabelle auf das Sofa. Auch Roger verspätete sich.
Fünfundzwanzig Minuten später wurde Isabelle allmählich ärgerlich. Wie unhöflich von Roger, nicht einmal anzurufen und sich für die Verspätung zu entschuldigen.
Er wagte es doch nicht, sie einfach sitzen zu lassen?
Gereizt marschierte Isabelle zum Telefon im Flur und ließ sich mit dem Büro ihres Vaters verbinden. Ob sie wohl noch jemand erreichen würden? Um diese Uhrzeit war der Empfang sicher nicht mehr besetzt.
„Wardrop Realty“, antwortete eine unbekannte männliche Stimme.
„Oh, ja, hallo. Ich bin auf der Suche nach Roger Noland. Ist er vielleicht noch im Büro?“
Stille. „Ich fürchte, er ist gerade gegangen.“
„Ah.“ Isabelle entspannte sich. Wahrscheinlich war er bereits auf dem Weg zu ihr. „Und mein Vater, ist er noch da?“
„Ihr Vater?“
„Ja, Mr Wardrop.“ Bei der erneuten Stille machte sich ein ungutes Gefühl in Isabelle breit. „Entschuldigung, mit wem spreche ich?“
„Constable Spencer.“
Mit einem Mal versagten Isabelles Beine und sie sank auf den kleinen Stuhl neben dem Telefonbänkchen nieder. Was hatte ein Polizist in Vaters Immobilienfirma zu suchen? „W-wo ist mein Vater, geht es ihm gut?“
„Sind Sie allein zu Hause, Miss?“
„Nein, mit meiner jüngeren Schwester. Warum?“
„Am besten warten Sie auf Mr Noland. Er wird gleich bei Ihnen sein.“
Woher wusste dieser Mann, dass sie und Roger verabredet waren?
Jetzt klingelte es, doch Isabelle ignorierte die Tür.
„War das die Türklingel?“
„Ja.“
„Dann lege ich jetzt auf. Mr Noland wird Ihnen alles weitere erklären.“
In der Zwischenzeit hatte Mrs Barton die Tür geöffnet und Roger hereingebeten. Mit dem Hut in der Hand blieb er im Foyer stehen und blickte über den langen Flur zu Isabelle.
Langsam hängte sie den Hörer ein und stand auf. „Roger, was ist passiert? Warum sind Sie so spät? Und was hat die Polizei im Büro zu suchen?“
Er streckte ihr die Hand entgegen. „Kommen Sie, Isabelle, wir gehen besser in den Salon und setzen uns.“ Sorge lag in seinem Blick und seine Augen waren gerötet. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
Vor Schreck konnte sie sich kaum bewegen. Roger trat auf sie zu, legte sanft einen Arm um sie und führte sie ins Zimmer, wo sie mit rasendem Herzen auf dem Sofa Platz nahm.
Einfühlsam nahm Roger ihre Hand in die seine. „Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten“, begann er mit feuchten Augen. „Es tut mir so leid, meine Liebe. Aber Ihr Vater … Er ist tot.“
Seine Worte ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Das kann nicht sein, er ist nur etwas länger auf der Arbeit. Sicher kommt er jeden Moment zur Tür herein.“
„Ich wünschte, es wäre anders. Bitte glauben Sie mir, es ist die Wahrheit“, bekräftigte Roger seine Worte mit aschfahlem Gesicht.
Isabelles Hände zitternden und ihr Kopf war wie leer gefegt. Ihr Vater war kerngesund gewesen – war er vor Kummer gestorben? Das schien die einzig logische Erklärung.
„Was ist geschehen?“, fragte Isabelle schließlich. „Hatte er einen Herzstillstand?“
„Nein, das war es nicht.“ Tränen liefen über Rogers Wangen und er schluckte schwer, bevor er ein langes Seufzen von sich gab. „Als ich gerade gehen wollte, habe ich einen Schuss gehört.“
Vor Schreck keuchte Isabelle auf und riss die Hände vor den Mund.
„Ich bin natürlich sofort in sein Büro gerannt, aber es war zu spät“, erklärte Roger mit einem Kopfschütteln. „Ich konnte nichts mehr tun.“ Seine Stimme brach, er blinzelte mehrmals und wandte das Gesicht ab.
Das konnte nicht sein! Alles an ihr weigerte sich, diesen Worten zu glauben. Niemals würde ihr Vater –
„Auf dem Schreibtisch hat die Polizei eine kleine Notiz gefunden“, sagte er und griff traurig in die Manteltasche. „Und der hier ist für Sie.“
Mit zittrigen Händen nahm sie den Brief entgegen. Auf dem Umschlag stand Isabelles Name, eindeutig in der Handschrift ihres Vaters. Offensichtlich hatte er ihr wenigstens einen Abschiedsbrief geschrieben. Doch womit könnte er seine Tat erklären?
Plötzlich rebellierte ihr Magen und Isabelle sprang auf. „Entschuldigen Sie mich.“ Eilig stürmte sie aus dem Salon in das nächstgelegene Bad und übergab sich mehrmals. Ausgelaugt kniete sie anschließend auf dem kühlen Boden und spürte, wie ihr der Kopf schwirrte. Zu viele Gedanken auf einmal rangen um ihre Aufmerksamkeit.
Ihr Vater war tot. Ihre Mutter war tot. Was um Himmels willen sollte sie jetzt nur tun?
„Isabelle?“ Roger klopfte an der Tür. „Kann ich etwas für Sie tun?“
„Nein, es geht schon“, sagte sie und stand auf. Über das Waschbecken gebeugt spülte sie sich den Mund aus und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht.
Zittrig holte sie Luft und kehrte zu Roger zurück.
Mit besorgtem Gesicht sah er sie an. „Das alles muss ein fürchterlicher Schreck für Sie sein. Vielleicht sollte ich Ihren Arzt anrufen?“
„Nein. Er ist der Letzte, den ich jetzt sehen möchte“, entgegnete Isabelle scharf. „Und außerdem ist er nicht länger unser Arzt.“ Hölzern schritt sie zurück in Richtung Salon. Ihrer Schwester zuliebe würde sie sich zusammennehmen müssen, für sie musste Isabelle stark sein. Doch bevor sie Marissa über die schrecklichen Neuigkeiten ins Bild setzte, wollte sie so viel wie möglich herausfinden.
Schweigend folgte Roger ihr. Im Salon schloss Isabelle die doppelflügelige Tür hinter sich und nahm Platz. Den Brief legte sie bewusst beiseite. Die letzten Worte ihres Vaters würde sie allein lesen.
Sie blickte zu Roger und holte tief Luft. „Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“