Kapitel 6

„Ehrlich gesagt halte ich es für das Beste, wenn du vorerst nicht mehr zum Chor gehen würdest. Zumindest bis zum Ende des Schuljahres, damit du dich besser aufs Lernen konzentrieren kannst“, sagte Mark beim Spülen mit einem Blick über die Schulter und ignorierte Joshs wütenden Gesichtsausdruck. „Alles, was nicht Schule ist, ist zurzeit nur Ablenkung.“

„Auf keinen Fall gebe ich den Chor auf!“, verkündete Josh mit verschränkten Armen. Mit Mühe gelang es Mark, nicht die Stimme zu erheben und Joshs Gehorsam einzufordern. Nein, er war es ihm schuldig, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Nach dem letzten Teller entfernte er den Stöpsel und ließ das Wasser ab. „Warum ist dir der Chor so wichtig?“

Da Mark sonntagvormittags meist arbeitete, hatte er Josh seit seinem Beitritt letzten Herbst noch nicht im Gottesdienst spielen gehört. Trotzdem konnte er sich sehr gut vorstellen, weshalb er so vernarrt in diesen Chor war. Aber das wollte er aus seinem Mund hören.

„Du weißt doch, wie gern ich Musik mache“, sagte Josh. „Das ist mir einfach wichtig.“

„Ja“, sagte Mark mit einem Grinsen. „So oft, wie du Gitarre spielst, ist das nicht zu überhören.“ Seit Josh vor zwei Jahren die alte Gibson-Gitarre ihres Vaters im Schrank entdeckt hatte, hatte er jedes Interesse am Klavierspielen verloren und war wie versessen auf das neue Instrument. Unermüdlich zupfte er an den Saiten und brachte sich das Spielen selbst bei. Eine Fähigkeit, die Mark, dem jeder Hauch von Musikalität fehlte, schwer beeindruckte. Wenn sein Bruder doch nur halb so viel Energie und Begeisterung für die Schule übrig hätte …

Einen Moment lang wartete Mark und hoffte, dass Josh vielleicht noch etwas anderes sagen würde, doch er schwieg nur stur. „Musik machen ist das eine. Aber warum unbedingt der Chor?“

Es war offensichtlich, dass Josh verärgert war, doch er zuckte bloß mit den Schultern.

Während Mark die Krümel von der Küchenzeile wischte, kam er schließlich auf den Punkt. „Ist da vielleicht ein Mädchen im Spiel?“, fragte er so harmlos wie möglich, obgleich er innerlich unruhig wurde. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie sehr die erste Schwärmerei einen Lernenden ablenken konnte. Vor allem dann, wenn solch eine junge Liebe ihr Ende fand.

Josh blähte die Nasenflügel auf, schwieg aber.

„Das interpretiere ich dann mal als Ja“, erwiderte Mark und trocknete sich die Hände ab. Es war ein heikles Thema. Er erinnerte sich nur zu gut, wie mächtig Gefühle in jungen Jahren sein konnten. Wegen seiner ersten Beziehung wäre er beinahe von der Universität geflogen. „Und ihr … geht miteinander aus?“

Gereizt seufzte Josh. „Nein, wir sind nur Freunde.“

„Aber du wünschst dir mehr?“

„Das geht dich gar nichts an.“

„Wenn sich das auf deine Zukunft auswirkt, tut es das sehr wohl“, entgegnete Mark und zählte innerlich bis zehn, um nicht aus der Fassung zu geraten. „Bitte Josh, lass nicht zu, dass ein Mädchen deine Pläne durchkreuzt. Das kannst du dir im Moment nicht leisten.“

„Du verstehst das nicht“, sagte Josh und stand auf. „Sie hat es gerade nicht leicht und braucht die Unterstützung ihrer Freunde. Ich werde sie ganz sicher nicht hängen lassen.“

Wieder unterdrückte Mark ein Seufzen. Natürlich hatte Josh größtes Verständnis für jemandem, der eine Krise durchmachte. Er selbst war damals dreizehn gewesen, als ihre Eltern ums Leben gekommen waren – ein schrecklicher Zeitpunkt, um die engsten Bezugspersonen zu verlieren und nur mit einem älteren Bruder zurückzubleiben, der mit dem Kopf ganz in seinem Medizinstudium steckte. „Ich verstehe ja, dass du ihr helfen möchtest, aber –“

„Sie hat gerade ihre beiden Eltern verloren. Genau wie …“ Joshs Kiefer zuckte und er sprach nicht weiter.

„Genau wie wir, vor viereinhalb Jahren.“ Gegen die aufkommende Trauer schloss Mark kurz die Augen. Wie sollte er seinem Bruder das Mitgefühl für ein Mädchen versagen, das eine ähnliche Tragödie erlitt? „Also gut, Josh. Hier mein Vorschlag: Wenn du mir versprichst, in diesem letzten Halbjahr noch einmal dein Bestes zu geben, dann darfst du auch weiter den Chor besuchen.“

Joshs Gesicht hellte sich auf. „Wirklich?“

„Ja. Aber sobald du schlechte Noten nach Hause bringst, werden alle außerschulischen Aktivitäten gestrichen. Verstanden?“

Sichtlich erleichtert atmete Josh auf. „Verstanden.“

„Und du gehst auch wieder zum Chemiekurs.“

„In Ordnung“, lenkte Josh ein und ließ den Kopf hängen.

Gerade wollte Mark die Küche verlassen, da drehte er sich noch einmal um. „Müssen wir …“ Die Frage war ihm sehr unangenehm. „Müssen wir darüber reden, wie man richtig mit einem Mädchen umgeht?“

Sofort färbten sich Joshs Wangen tiefrot. „Nein, müssen wir nicht.“

„Gut. Denn wenn sie dir wirklich wichtig ist, verhältst du dich hoffentlich wie ein Gentleman.“

Josh verdrehte nur die Augen.

Mehr konnte Mark im Augenblick nicht erwarten, daher erklärte er das Gespräch für beendet und ging.

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Mit einem tiefen Atemzug stellte Isabelle ihre Tasche neben den Koffer an die Tür und blieb noch einmal stehen. Bisher war es ihr gelungen, stets in Bewegung zu bleiben, um sich nicht von Angst und Sorge überwältigen zu lassen.

Jetzt hielt sie eine Hand an den Bauch, die Unruhe lag ihr schwer im Magen. Gleich würden sie und Marissa ihr Zuhause für immer verlassen, den Ort, an dem sie groß geworden waren. Allen Bemühungen zum Trotz hatte Isabelle keinen Weg gefunden, genug Geld aufzutreiben. Und schon morgen kam jemand von der Bank, um ihr Haus zu beschlagnahmen. Sie waren hier nicht länger willkommen.

Sie schluckte schwer. Marissa war oben, packte noch die letzten Kleinigkeiten zusammen und wollte etwas Zeit für sich. Um sich auf ihre eigene Weise von alledem zu verabschieden. Das verstand Isabelle nur zu gut. So schmerzhaft es auch war, streifte Isabelle noch ein letztes Mal durch die einzelnen Räume hier unten. Der schmuckvoll verzierte Salon und das Esszimmer, in denen ihre Eltern immer gern Gäste willkommen geheißen hatten, waren ausgesprochen schön, doch beim Anblick des gemütlichen Zimmers ihrer Mutter traten Isabelle die Tränen in die Augen. Sie sah sie noch genau vor sich, wie sie am Sekretär saß und Einladungen verfasste oder Briefe schrieb. Mit den Fingern fuhr Isabelle über die kleinen Kratzer und Macken des Tisches. Bitte vergib mir, Mama. Ich wünschte, ich könnte ihn mitnehmen, aber das geht einfach nicht. Ein letztes Mal ließ sie den Blick durch das Zimmer wandern und atmete den vertrauten Geruch ein, dann ging sie seufzend weiter.

Als Nächstes betrat sie die Küche. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als Isabelle sich daran erinnerte, wie sie als Kind von ihrem Hausmädchen das Brot- und Plätzchenbacken gelernt hatte. Jetzt, wo sie und Marissa erstmalig ohne eine Köchin auskommen mussten, kam ihnen das zugute. Über den langen Korridor ging sie bis zur Bibliothek ihres Vaters. Noch immer kochte sie vor Wut bei dem Gedanken daran, wie er sich das Leben genommen hatte. Wie hatte er es nur übers Herz bringen können, sie allein und mittellos zurückzulassen?

In der Hoffnung, irgendein wichtiges Dokument zu finden, hatte sie alles in diesem Raum auf den Kopf gestellt. Irgendein geheimes Bankkonto in einer anderen Stadt. Oder einen Geldumschlag. Obgleich sie tatsächlich einen Umschlag mit Erspartem gefunden hatte, war es angesichts des riesigen Schuldenbergs bloß ein Tropfen auf den heißen Stein. Noch ein letztes Mal sog sie den verblassenden Duft nach Pfeifentabak ein, schluckte den Ärger und die Trauer hinunter und zog schließlich die Tür hinter sich zu. Im Foyer ließ sie die Finger über das Treppengeländer gleiten, während ihr Blick über die imposante zweiläufige Bogentreppe wanderte. Sie erinnerte sich, wie sie und Marissa als Kinder die Balustraden heruntergerutscht waren, und musste lächeln. Es war die Standpauke auf jeden Fall wert gewesen, wenngleich sie es anschließend nie wieder gewagt hatten.

„Sind Sie bereit, Miss Isabelle?“, fragte Fiona, als sie sanft eine Hand auf ihre Schulter legte. „Tom fährt den Wagen vor.“

Schnell blinzelte Isabelle die Tränen weg, bevor sie sich zu der Frau wandte, die ihr wie eine gute Freundin zur Seite stand. „So bereit wie man hierzu wohl sein kann.“

Schritte wurden hörbar. Mit verweintem Gesicht kam Marissa die Treppe herunter, in der Hand eine letzte Tasche. Am Treppenende angekommen blieb sie stehen.

„Darum kümmere ich mich, Miss Marissa“, entgegnete Fiona und nahm eine der größten Taschen an sich. „Wir warten draußen. Aber nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen“, sagte sie voller Mitgefühl. Und ihr Blick verriet, dass sie gut verstand, wie schwierig dieser Moment für die beiden sein musste.

„Danke sehr, Fiona“, erwiderte Isabelle, bevor sie sich umdrehte und ihre Schwester Marissa umarmte. „Brauchst du noch einen Moment?“

Sie schüttelte den Kopf. „Hier unten war ich schon. Mich von meinem Zimmer zu verabschieden ist mir am schwersten gefallen.“

„Das glaube ich“, sagte sie und strich über Marissas honigblondes Haar. „Vieles wissen wir gar nicht zu schätzen, bis es plötzlich nicht mehr da ist“, fuhr sie fort und musste schlucken. „Aber es wird alles wieder gut werden, Rissa. Hab nur ein bisschen Geduld mit mir, dann finde ich eine Lösung.“

Neue Tränen stiegen ihr in die Augen. „Oh, Belle, ich bin so dankbar, dass es dich gibt. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.“

„Das musst du auch nicht. Wir stehen das zusammen durch“, erklärte sie und drückte ihr Mut machend die Hand.

Als die beiden schließlich aus dem Haus traten, sahen sie neben dem schwarzen Sedan den Chauffeur Tom, in voller Montur.

„Die Livree wäre doch nicht nötig gewesen, Tom. Wir fahren in einen eher schlichten Teil der Stadt.“

„Das spielt keine Rolle. Ich mache das aus Respekt vor Mr Hugh. Für seine Töchter hat er immer nur das Beste gewollt“, erklärte Tom und tippte sich an den Hut. „Ich hole noch die letzten Koffer und dann machen wir uns auf den Weg.“

Isabelle nickte, überquerte die kreisrunde Einfahrt und ließ den Blick noch einmal über Haus und Grund schweifen, auf die eindrucksvolle Veranda mit dem Säulenvorbau, die herrschaftlichen Fenster, die nun ausdruckslos über den Hof zu blicken schienen, und die akkurat gestutzten Hecken und Büsche, die das Anwesen umgaben.

Schnell wischte sie sich einige Tränen fort und stieg in den Wagen, der sie aus ihrem gewohnten Leben in eine ungewisse Zukunft fahren würde.

Großer Gott, bitte begleite uns auf dieser Reise und hilf uns, unseren Weg zu finden.