Kapitel 8

Vier Tage später, als Isabelle mit Fiona und Marissa am Frühstückstisch saß, schien ihr Vorhaben, gestärkt aus diesem Schlamassel herauszukommen, sie zu verspotten. Auf der Suche nach einer Arbeit war sie die ganze Stadt auf- und abgelaufen und dem Ziel doch keinen Schritt näher gekommen.

Drei Banken, zwei Kaufhäuser, zwei Damenkonfektionen und vier Büros hatten ihre Anfrage sofort abgelehnt. Dass sie noch nie zuvor in einem entlohnten Arbeitsverhältnis gestanden hat, sprach gegen sie – ganz gleich, wie viel ehrenamtliche Erfahrung sie durch die Wohltätigkeitsarbeit mit ihrer Mutter gesammelt hatte.

Dankbarerweise hatte wenigstens Fiona mehr Glück gehabt. Ihr Vorstellungsgespräch bei Adam Templeton war gut verlaufen und sie hatte die Stelle als neues Dienstmädchen in seinem Haus angenommen. Das Anwesen, so erzählte Fiona, war sehr schön eingerichtet und in einem guten Zustand. Auch die anderen Bediensteten sprachen nur in den höchsten Tönen von ihrem Dienstherrn und Fiona war sich sicher, sie würde sich dort wohlfühlen.

Lediglich in einem waren sie sich uneins: Adam hätte gerne, dass sie genau wie die anderen Angestellten ein Zimmer im Bedienstetenflügel des Hauses bezog, Fiona hingegen bestand darauf, zumindest vorerst außerhalb des Anwesens wohnen zu bleiben. Wenigstens für die ersten Wochen, bis sie sich sicher war, dass die Arbeit ihr zusagte.

„Sobald ich mich etwas eingefunden habe, denke ich noch einmal über ein Zimmer dort nach“, erklärte sie Isabelle. „Aber im Moment ist es mir so lieber.“

Auch Isabelle kam es sehr gelegen, Fiona nicht schon jetzt verschmerzen zu müssen. Mit einem Brotteller trat Tante Rosie an den Tisch heran. „Gestern hat mir eine Freundin erzählt, dass sie im Krankenhaus nach Mitarbeitern suchen“, sagte sie erwartungsvoll und griff nach der Teekanne.

„Für welche Stelle denn?“, hakte Isabelle nach, die sich eine Scheibe Brot nahm.

„In der Wäscherei“, fuhr Rosie mit entschuldigendem Blick fort. „Ich habe Mildred schon gesagt, dass das nichts für dich wäre. Dass du lieber … eine Schreibarbeit übernehmen würdest.“

Widerwillig seufzte Isabelle. „Das stimmt ja, aber … vermutlich kann ich es mir nicht leisten, so wählerisch zu sein.“

Schockiert verzog Marissa das Gesicht. „Oh, nein, Belle. Auf keinen Fall kannst du eine so harte körperliche Arbeit annehmen.“

„Es wäre ja nur vorübergehend, bis ich etwas Besseres finde.“

„Aber das ist einfach nicht gerecht.“

„Das Leben ist nun mal nicht gerecht, Liebes. Das solltest du inzwischen wissen“, konterte Isabelle und unterdrückte tapfer die aufsteigenden Tränen. „So, und jetzt holst du besser schnell deine Bücher, wenn du die Straßenbahn nicht verpassen willst. Sonst kommst du noch zu spät zur Schule.“

„Also gut“, erwiderte Marissa, nahm in ihrer typisch jugendlich-dramatischen Art ihre Schultasche an sich, gab Isabelle zum Abschied einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.

Isabelle machte sich Sorgen um ihre Schwester. Sie hatte den Eindruck, als bedrückte Marissa noch etwas anderes. Ihre sonst so heitere, lebensbejahende Art war verschwunden. Vielleicht lag es aber auch bloß an dem Trubel der letzten Zeit, wer könnte es ihr verübeln.

Mit einem Zug leerte Isabelle ihren Tee und sah wieder zu Rosie. „Welches Krankenhaus meintest du denn?“

„Das Toronto General. Denkst du doch darüber nach?“

„Schaden kann es nicht. Überall sonst hatte ich ja bisher kein Glück.“

Fiona stand auf. „Hm. Ich muss jetzt los. Die Hausdame der Templetons weist mich heute ein“, sagte sie und hielt kurz inne. „Ich weiß nicht, ob ich dir Glück wünschen soll oder nicht – aber in jedem Fall wünsche ich dir einen guten Tag.“

Dass dies ein guter Tag werden würde, wagte Isabelle jedoch zu bezweifeln.

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Eilig lief Mark über den Bürgersteig zum Krankenhauseingang.

Schon wieder zu spät.

In letzter Zeit kam das immer häufiger vor, insbesondere weil Josh so oft verschlief. Eine Tatsache, die er überhaupt nicht ausstehen konnte und die ihn unendlich an seinem Bruder ärgerte.

Gedankenverloren schob Mark sich durch die Tür und marschierte durch die Eingangshalle in Richtung Aufzug, bis er mitten im Gemenge mit einer Frau zusammenstieß. Überrascht ließ er die Aktentasche fallen, deren Inhalt sich nun über dem ganzen Boden verteilte.

„O nein, das tut mir schrecklich leid“, stotterte er schnell, während er insgeheim einen Fluch zurückhielt. Jetzt würde er erst recht zu spät kommen. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich, während er seine Unterlagen einsammelte.

„I-ich denke ja“, sagte die Frau, die nun einen Schritt zurücktrat und mit einer Hand über ihr Kleid fuhr. „Aber Sie sollten nicht so kopflos durch die Gegend marschieren.“

Die Stimme kam ihm erstaunlich bekannt vor und er schaute auf. „Isabelle?“ Er musste schlucken. Warum ausgerechnet sie?

In ihrem blauen Pünktchenkleid und der Hochsteckfrisur unter einem kecken Hut mit Netzteil sah sie einfach bezaubernd aus. Während er sie betrachtete, begann sein Herz zu rasen und ihm fehlten die Worte.

Als sie ihn erkannte, kniff sie die Augen zusammen und blähte die Nasenflügel. „Dr. Henshaw. Warum überrascht mich das nicht? Nur ein Flegel rennt eine Dame um!“

Die Röte schoss ihm ins Gesicht. „Das war nicht meine Absicht, ehrlich nicht. Ich hatte es nur sehr eilig.“ Um dem wütenden Blick zu entgehen, fuhr er fort, seine Papiere zusammenzusammeln. „Was führt Sie ins Krankenhaus?“

„Arbeit“, sagte Isabelle knapp und richtete ihren Ärmelumschlag.

„Ah, eine der Wohltätigkeitsanliegen Ihrer Mutter, nehme ich an“, sagte er und zuckte sofort zusammen. Auf keinen Fall wollte er sie an ihre Mutter oder seine Rolle an ihrem Tod erinnern.

„Nein, darum geht es nicht“, entgegnete sie und biss sich auf die Unterlippe. „Ich war für ein Vorstellungsgespräch hier.“

Eine Arbeit hier im Krankenhaus? Sollte Mark ihr hier etwa noch öfter begegnen? Allein die Vorstellung heiterte ihn auf. „Das klingt ja wunderbar. Und wie ist es gelaufen?“

Sie hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Marks Kehle schien plötzlich wie ausgedörrt.

„Gut. Ich fange gleich am Montag an.“

„Wie schön. In welchem Stockwerk?“ Sicher half sie auf irgendeiner Station mit den Schreibarbeiten. Vielleicht ja sogar in der Notaufnahme – das wäre gleich neben seinem Arbeitsplatz.

„Im Untergeschoss“, sagte sie und errötete.

Unverwandt sah er sie an und ging im Kopf durch, welche der Stationen im Untergeschoss gerade nach Mitarbeitern suchte. „Aber nicht in der Wäscherei, oder?“, fragte er verwundert.

„Doch“, erwiderte sie knapp.

Um nichts in der Welt konnte er sich vorstellen, wie sie sich über die großen Fässer mit kochend heißem Wasser beugte und die Bettwäsche rührte. „Das ist die reinste Knochenarbeit, Isabelle. Würden Sie nicht lieber anderen Aufgaben nachgehen, etwas, das mehr Ihren Fähigkeiten entspricht?“

Niedergeschlagen ließ sie die Schultern hängen. „Das habe ich ja versucht, glauben Sie mir. Doch wie es aussieht, kann ich … nun ja, kann ich eigentlich nichts“, gestand sie und blinzelte schnell.

„Das ist nicht wahr. Sie sind eine sehr begabte Frau.“

Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen.

„Ich habe gesehen, wie tatkräftig Sie Ihre Mutter bei der Sponsorensuche unterstützt haben. Und wie unermüdlich Sie sich während Ihrer Krankheit um sie gekümmert haben.“

Trotzdem schüttelte sie den Kopf. „Bei der Arbeitssuche hilft mir das leider alles nichts. Ich habe es überall versucht – bei Banken, in Kaufhäusern und Büros. Nirgends gibt man mir eine Chance.“

Sanft trat er einen Schritt auf sie zu und rückte ihren Hut zurecht. „Ich bin hier in der Stadt sehr gut vernetzt. Wenn Sie möchten, höre ich mich gern nach einer besseren Stelle für Sie um.“

Für einen winzigen Augenblick flackerte die alte Feindseligkeit in ihrem Blick auf, doch dann senkte sie ergeben die Augenlider. „Wie es scheint, kann ich jede Hilfe brauchen. Danke.“

Stumm nickte Mark und versuchte sich nicht daran zu stören, wie ungern sie seine Hilfe annahm.

„Dr. Henshaw, melden Sie sich bitte sofort im fünften Stock. Dr. Henshaw bitte“, schallte es aus den Lautersprechern.

„Ich muss gehen. Wo kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas in Erfahrung gebracht habe?“, sagte er schnell und fragte sich, ob sie die leise Verzweiflung in seiner Stimme bemerkte.

Zögerlich biss sie sich auf die Unterlippe und seufzte. „Ich wohne zurzeit bei Rosemary O`Grady auf der Gerrard Street. Sie hat leider kein Telefon, aber Sie können bei Mr Sweeny in der Drogerie eine Nachricht für mich hinterlassen.“

„Gut. Passen Sie gut auf sich auf, Isabelle.“

„Sie auch.“

Trotz seiner Verspätung sah Mark ihr noch nach, wie sie das Krankenhaus verließ. Mit Sorgenfalten auf der Stirn wartete er auf den Aufzug. Sweeny’s Drogerie lag in einem sehr kümmerlichen Teil der Stadt, gleich hinter dem Armenviertel, wo viele seiner mittellosen Patienten lebten.

Wie um alles in der Welt war Isabelle bloß dort gelandet?

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Dass sie ausgerechnet mit Dr. Henshaw zusammenstoßen musste – wie demütigend! Es war genauso seine wie ihre Schuld gewesen. Nachdem sie in der Waschküche um eine Anstellung gebettelt hatte, war sie durch das Krankenhausfoyer gestürmt, als wäre ein Rudel Wölfe hinter ihr her gewesen.

„Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas weiß?“

Als sie nun in der Straßenbahn saß, wunderte Isabelle sich über seine Frage. Offensichtlich wusste Dr. Henshaw, dass sie nicht mehr in der Chestnut Hill Road lebte. Hatte sich die Nachricht über ihren Niedergang schon in der Stadt verbreitet? Allein bei der Vorstellung erschauderte sie. Sie malte sich aus, was manche ihrer früheren Freundinnen wohl sagen würden und welche böswilligen Gerüchte bereits über sie kursierten. Sie wusste genau, wie gern und wie gnadenlos die feine Gesellschaft tratschte.

Niedergeschlagen stieg Isabelle aus der Straßenbahn und spazierte die letzten Meter bis zu Tante Rosies Wohnung. Mit jedem Schritt kämpfte sie gegen die wachsende Verzweiflung an. Eigentlich sollte sie sich über ihre neue Stelle freuen. Doch Marks Reaktion hatte sie nur in ihrem Unmut darüber bestärkt, an diesem kerkerähnlichen Ort voll Wasserdampf und dem beißenden Geruch von Bleiche und Waschmittel arbeiten zu müssen. Gewiss hatte er recht und es erwartete sie eine knochenharte Arbeit.

Müde betrat sie die Wohnung, erpicht auf ein kleines Nickerchen vor dem Abendessen. Als sie jedoch Marissa am runden Tisch sitzen sah, klopfte ihr Herz wie wild gegen die Rippen. „Marissa, geht es dir nicht gut? Wieso bist du schon so früh zu Hause?“

„Doch, doch. Aber die Direktorin hat mich nach Hause geschickt“, sagte Marissa, als sie den Blick vom Schulbuch hob.

Isabelle stellte ihre Tasche ab. „Und warum? Hast du etwas angestellt?“

„Nein“, erwiderte Marissa erneut und zwirbelte eine ihrer Locken um den Zeigefinger. Mit einem Seufzen zog sie einen Umschlag zwischen ihren Unterlagen hervor und reichte ihn Isabelle. „Den soll ich dir geben. Das sind aber wahrscheinlich keine guten Nachrichten.“

Isabelle setzte sich und überflog die Zeilen. Das Pochen in ihren Schläfen wurde stärker, sodass sie kurz die Augen schloss. Offensichtlich hatte Vater Marissas letzte Schulgebühr nicht beglichen. Käme Isabelle nicht bis Ende der Woche dafür auf, würde Marissa nicht weiter am Unterricht teilnehmen dürfen. So eine Ungerechtigkeit! Wie konnten sie ihr die letzten Wochen vor der Abschlussprüfung verwehren? „Es geht um die Schulgebühren, nicht?“

Mit einem Nicken steckte Isabelle den Brief zurück in den Umschlag. „Das ist sicher nur eine Verwechslung“, sagte sie schnell. „Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum.“

„Aber wie? Wir haben kein Geld.“

„Das lass meine Sorge sein. Du konzentrierst dich auf deine Prüfungen“, sagte Isabelle und gab Marissa einen Kuss auf die Stirn.

Schnell ging sie in ihr gemeinsames Zimmer und schloss die Tür. Ihre Knie zitterten und sie musste mehrmals tief durchatmen, um sich selbst zu beruhigen. Sie brauchte unbedingt Geld, um diese Gebühren zu begleichen. Das Gehalt von der neuen Arbeitsstelle würde sie erst in ein paar Wochen bekommen – dann wäre es zu spät. Ihr Magen verkrampfte sich. Wie es aussah, blieb ihr nur der Notgroschen: der Geldumschlag, den sie in Vaters Geldschrank gefunden hatte. Nur so konnte Marissa das Schuljahr abschließen.

Insgeheim hatte Isabelle gehofft, mit diesem Geld durchzukommen, bis sie eine angemessene Arbeit und eine Wohnung gefunden hatte. Wenn sie die Ersparnisse nun ausgab, beraubte sie sich um das letzte bisschen Sicherheit und machte sie nur noch verwundbarer.

Aber hatte sie überhaupt eine Wahl?

Bevor sie sich umentschied, griff Isabelle unter die Matratze und holte den Umschlag hervor. Kurz überprüfte sie, dass die Tür weiterhin geschlossen war, und zählte die Scheine. Es reichte. Ein paar wenige Dollar würden übrig bleiben.

Mit finsterer Miene packte sie den Umschlag in ihre Handtasche.

Morgen würde sie Marissa zur Schule begleiten und die offene Summe begleichen. So wäre wenigstens Marissas direkte Zukunft geklärt.

Und sobald Isabelle in der Wäscherei arbeitete, könnte sie etwas Geld für eine eigene Unterkunft beiseitelegen. Das alles war nicht weiter schlimm, beruhigte sie sich – nur ein kleiner Rückschlag. Auf keinen Fall würde sie den Mut verlieren!