Kapitel 9

Mark nahm das Taschentuch von der Nase, als er die Wohnung seines letzten Patienten verließ. Eigentlich hatte er gedacht, sich bereits an den Geruch in diesen Gebäuden gewöhnt zu haben, aber eben, in Mrs Sheas Krankenzimmer, hatte er es kaum aushalten können.

Mit schnellen Schritten stürmte er nun durch das schmutzige Treppenhaus hinaus ins Freie und atmete tief die frische Luft ein.

Wenn er sich nicht irrte, hatte Mrs Shea nicht mehr lange zu leben, und doch ließ sie Mark keinen Ambulanzwagen für sie rufen. Warum hatten so viele Menschen, allen voran die weniger gut betuchten, solche Angst für Krankenhäusern? Es wirkte beinahe so, als wäre er der einzige Arzt, dem sie vertrauten – und das auch nur, weil er Hausbesuche machte und sie nicht in eine krankenhausähnliche Umgebung zwang. Trotzdem musste auch er immer wieder dafür kämpfen, dass er sie überhaupt behandeln durfte.

An der nächsten Kreuzung bog er in Richtung Sweeny’s Drogerie ab und dachte an die guten Nachrichten, die er für Isabelle hatte. Zumindest hoffte er, dass sie sie auch gutheißen würde. Er musste sie nur noch ausfindig machen und sicherstellen, dass es ihr gut ging.

Vier Straßen weiter wechselte er die Bürgersteigseite und betrat das Geschäft. Schon ein paar Mal war er hier gewesen, als er dringend Medizin für seine Patienten aus der Gegend gebraucht hatte. Sweeny’s war ein uriger kleiner Laden und sah genauso aus, wie Mark sich eine alte Apotheke vorstellte. Es roch nach Kräutern und Tabak und auf der Verkaufstheke standen Mörser und mit Pflanzen gefüllte Stößel, die nur darauf warteten, verarbeitet zu werden.

Er ging bis nach hinten durch, die Holzdielen unter ihm knarzten bei jedem Schritt. Mr Sweeny, der Besitzer, war ein freundlicher alter Mann mit krausem, grauem Haar, der Marks Wünschen immer mit größtem Bemühen nachkam.

„Dr. Henshaw. Wie schön, Sie wiederzusehen. Ihr letzter Besuch ist schon eine Weile her“, begrüßte Mr Sweeny ihn fröhlich hinter der Theke.

„Das stimmt, Mr Sweeny. Wie geht es Ihnen?”

„Sehr gut, danke. Die Geschäfte laufen gut, das ist ein wahrer Segen.“

„Da gebe ich Ihnen recht.“

„Nun, was ich kann für Sie tun, Doktor? Brauchen Sie wieder etwas für einen Patienten?“

„Nein, heute nicht. Ehrlich gesagt bin ich auf der Suche nach einer jungen Frau, die zurzeit bei Mrs Rosemary O`Grady in der Gerrard Street wohnt, soweit ich weiß.“

„Ah, ja richtig. Rosie hat kürzlich ihre Nichte und zwei Frauen bei sich aufgenommen. Wirklich reizende junge Damen. Vor allem Miss Isabelle ist eine wahre Schönheit.“

Bemüht, nicht zu erröten, räusperte Mark sich. „Ja, nun, ich habe eine wichtige Nachricht für sie.“ Ob Mr Sweeney wohl Mark die Adresse geben oder wenigstens seine Nachricht überbringen würde? Bei seinem letzten Gespräch mit Isabelle hatte Mark den Eindruck gewonnen, sie wolle ihren aktuellen Wohnort lieber nicht bekannt geben.

Nachdenklich zwirbelte der alte Mann seinen Schnurbart. „Sie kennen Miss Isabelle und Miss Marissa?“

„Ja, Sir. Bis zum Tod ihrer Mutter vor wenigen Monaten war ich der Hausarzt der Familie.“

Bis Isabelle meinen Anblick nicht mehr ertrug.

„Sie hat sicher nichts dagegen, wenn ich Ihnen die genaue Adresse gebe“, mutmaßte der Apotheker und zeigte aus dem Fenster. „Am schnellsten kommen Sie über die Bay Street zur Gerrard Street. Und dann die Hausnummer zweiundzwanzig, die Wohnung im ersten Stock.“

„Vielen Dank, Mr Sweeny.“

„Gern geschehen, und grüßen Sie die Damen von mir.“

„Natürlich.“

Leicht nervös machte sich Mark auf den Weg in die Richtung, die ihm gezeigt worden war. Ob Isabelle zu Hause war? Und wenn ja, würde sie sich freuen, ihn zu sehen? Schließlich war er ein bekanntes Gesicht in dieser neuen Umgebung. Oder würde sie es bereuen, ihm den Straßennamen gesagt zu haben?

Kurz vor dem Gebäude angekommen, verlangsamte er seine Schritte. Wenngleich die Bauten hier bei Weitem nicht so heruntergekommen waren wie manche von denen, die er bei seinen Runden durch das Armenviertel sah, hatten auch sie ihre besten Zeiten bereits hinter sich. Eine wacklige Treppe führte hinauf zu Nummer zweiundzwanzig. Die Farbe der Haustür blätterte bereits ab, doch die schlichten Fenster waren sehr sauber. Vorsichtig stieg Mark die Stufen empor und klopfte an die Tür. Nur wenige Sekunden später öffnete ihm eine ältere Frau in einem verblichenen Kleid.

Etwas überrascht betrachtete sie ihn. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

„Das hoffe ich. Mein Name ist Dr. Henshaw und ich bin auf der Suche nach Miss Isabelle Wardrop.“

Sogleich erhellte sich ihr Gesicht. „Ah, Dr. Henshaw. Wie schön, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel Gutes über Sie gehört.“

Irritiert runzelte Mark die Stirn und überlegte, ob er die Frau womöglich kannte. „Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Madam.“

„Oh, bitte verzeihen Sie. Ich bin Rosemary O`Grady. Bitte kommen Sie doch herein“, sagte sie und wies ihm den Weg in den Wohnbereich im vorderen Teil der Wohnung. Ein Sofa und ein paar Sessel standen um einen Webteppich herum und alles sah sehr aufgeräumt und heimelig aus.

„Danke. Und woher kennen Sie mich, Madam?“ Insgeheim hoffte er, dass er niemanden aus ihrer Familie schon mal behandelt und es einfach vergessen hatte. Aber eigentlich war er sehr gut darin, sich die Namen und Gesichter seiner Patienten zu merken. „Ich kenne Sie nur vom Hörensagen, Doktor. Sie haben dem Sohn einer guten Freundin von mir geholfen, als er die Masern hatte. Sie hat Sie sehr für Ihren Umgang mit dem Jungen gelobt und gesagt, dass er sich dank Ihrer Medikamente schnell erholt hat.“

„Ah, Sie sprechen sicher von Mrs Simpson und Ihrem Sohn Liam.“ Die Frau und ihre drei Kinder lebten leider unter ganz fürchterlichen Bedingungen nur ein paar Straßen westlich von hier.

„Genau. Alice ist mir sehr ans Herz gewachsen. Meine Tochter Noreen hat sich früher um ihre Kinder gekümmert, wenn sie einen Termin hatte“, erklärte Mrs OˋGrady mit einem Lächeln. „Aber Sie sind nicht gekommen, um sich mit mir über die Nachbarn zu unterhalten. Sie wollten zu Isabelle, richtig?“

„Genau“, bejahte er ihre Frage und errötete fast unter ihrem neugierigen Blick. „Ich habe vielleicht eine Arbeit für Sie gefunden.“

„Nun, setzen Sie sich doch und wir trinken eine Tasse Tee. Isabelle sollte jeden Moment wieder hier sein, sie holt Marissa von der Haltestelle ab.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke“, sagte Mark, nahm den Hut ab und folgte ihr an den kleinen Küchentisch.

Mit einem Geschirrtuch hob Mrs O`Grady eine große Teekanne vom Herd und schenkte ihnen zwei Tassen ein. Nur wenig später öffnete sich die Wohnungstür.

Unbeholfen erhob sich Mark, als Isabelle lachend mit Marissa hereinkam. Ihr Anblick rührte ihn, doch sobald Isabelle ihn sah, verschwand ihr Lächeln.

„Hallo Isabelle, Marissa.“

„Dr. Henshaw!“ Ganz ungleich der eher steifen Reaktion ihrer Schwester trat Marissa froh auf ihn zu und umarmte ihn. „Wie schön, Sie wiederzusehen!“

Etwas unbehaglich legte er eine Hand auf ihre Schulter. „Ja, ich freue mich auch, Marissa.“

„Warum sind Sie her? Ist jemand krank?“

Mit einem sanften Lächeln schüttelte er den Kopf. „Nein, es geht allen gut. Ich habe nur vielleicht eine Arbeitsstelle für Ihre Schwester gefunden“, sagte er und hob den Blick zu Isabelle. „Etwas Angemesseneres als die Wäscherei.“

Isabelles Gesicht entspannte sich und sie kam einen Schritt näher. „Tatsächlich?“

Mark nickte. Plötzlich wurde er sich der unverhohlenen Neugierde der anderen zwei Frauen bewusst und räusperte sich. „Sollen wir vielleicht kurz unter vier Augen darüber sprechen?“

„Ja, natürlich. Gehen wir doch ein paar Schritte“, schlug Isabelle vor und öffnete die Tür.

„Vielen Dank für den Tee, Mrs O`Grady“, bedankte sich Mark und nahm den Hut wieder an sich.

„Gern geschehen“, erwiderte diese mit einem sanften Lächeln. „Sie sind hier immer willkommen.“

Draußen atmete Mark tief durch. Isabelle stand mit dem Rücken zu ihm.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Mark vorsichtig.

„Den Umständen entsprechend, denke ich“, sagte sie und ließ die Schultern hängen, als sie sich zu ihm drehte. „Ich nehme an, dass Sie von der Zwangsvollstreckung unseres Hauses gehört haben?“

„Ja. Und es tut mir schrecklich leid, Isabelle. Das haben Sie nicht verdient.“

„Niemand verdient so ein Unglück“, erwiderte sie und zuckte die Schultern. „Aber wie dem auch sei. Sie haben gesagt, Sie hätten Neuigkeiten für mich?“

„Ja“, sagte er und holte ein Stück Papier aus seiner Jackentasche. „Ich habe mit meinem Freund Mr Johnson gesprochen. Er ist Direktor des Royal York Hotel und ich habe nachgefragt, ob er zufällig freie Stellen hat. Tatsächlich suchen sie im Moment zwei neue Zimmermädchen und eine Telefonistin. Ich habe Sie weiterempfohlen und ihm gesagt, dass Sie sich bei ihm melden werden“, sagte er und hielt ihr das Papier hin. „Das ist seine Nummer. Meine habe ich auch dazugeschrieben, falls Sie sie mal brauchen sollten.“

„Danke“, erwiderte Isabelle und trat einen Schritt näher, um den Zettel entgegenzunehmen. „Das ist sehr nett von Ihnen, Dr. Henshaw.“

„Einfach Mark, bitte.“

Verwirrt sah sie zu ihm auf. „Hm?“

„Mein Name. Nennen Sie mich gerne Mark.“

Jetzt lächelte sie. „Ein schöner Name“, sagte sie und erwiderte seinen Blick einen Moment lang. Lange genug für Mark, um sich beinahe in ihren tiefblauen Augen zu verlieren. „Und danke noch mal“, sagte sie und verstaute den Zettel in ihrer Tasche. „Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.“

„Noch brauchen Sie mir nicht zu danken. Erst, wenn Sie die Stelle haben.“

Sie lachte. „Also gut. Aber wenn es klappt, lade ich Sie auf einen Kaffee ein.“

Ein Lächeln umspielte Marks Lippen. „Ich nehme Sie beim Wort“, versicherte er ihr und mit einem Nicken setzte er den Hut auf. „Viel Erfolg auf jeden Fall. Und lassen Sie mich wissen, wie es gelaufen ist.“

„Das werde ich. Bis bald, Mark.“

„Bis bald.“

Mit einem heimlichen Lächeln machte er sich auf den Weg. Wie schön es klang, wenn sie seinen Namen sagte.

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„Vielen Dank, Mr Johnson“, sagte Isabelle und schüttelte dem Hoteldirektor die Hand. „Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir eine Chance geben.“

„Nun, Dr. Henshaw ist niemand, der ohne Weiteres Empfehlungen ausspricht. Und von Ihnen hat er nur in den höchsten Tönen gesprochen.“

Röte stieg ihr in die Wangen. „Auf keinen Fall werde ich Sie enttäuschen, das verspreche ich Ihnen.“

„Hoffentlich. Und bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen die Stelle als Telefonistin nicht anbieten kann. Bei den aufwendigen Einweisungen dafür muss ich einfach sicher sein, dass Sie für die Arbeit geeignet sind. Aber sollten Sie sich als Zimmermädchen bewähren, bin ich gern bereit, Sie zu einem späteren Zeitpunkt auch als Telefonistin in Betracht zu ziehen.“

Isabelle nickte. Vor ihrem Gespräch hatte sie angenommen, dass es deutlich einfacher wäre, den ganzen Tag Telefonanrufe entgegenzunehmen als Zimmer zu reinigen. Doch nachdem sie den riesigen Saal mit mehreren Dutzend Telefonistinnen gesehen hatte und darüber aufgeklärt worden war, dass die Einarbeitung fast ein ganzes Jahr dauerte, begriff sie, wie sehr sie die Arbeit unterschätzt hatte. „Das verstehe ich, Sir. Und ich bin einfach nur dankbar, bei Ihnen arbeiten zu dürfen.“

„Sehr gut, Miss Wardrop. Melden Sie sich bitte am Montagmorgen um sieben Uhr zur Einweisung bei Mrs Herbert. Sie ist verantwortlich für die Zimmermädchen und wird Sie erwarten.“

„Wunderbar. Und noch einmal vielen Dank, Mr Johnson.“

Beschwingt schritt Isabelle durch die elegante Lobby nach draußen. Sie hatte es geschafft! Ab Montag erwartete sie etwas Besseres als die Krankenhauswäscherei. Zugegeben, Zimmer zu putzen war natürlich noch immer nicht die Arbeit, der sie eigentlich nachgehen wollte, aber sie lernte sicher schnell. Und hoffentlich war auch das nur eine vorübergehende Lösung, bis man sie in einem Büro oder bei der Bank anstellte. Vielleicht würde sie sich auch für Abendkurse einschreiben können, um sich dafür zu qualifizieren. Sie könnte zum Beispiel Maschinenschreiben lernen und später einmal als persönliche Sekretärin arbeiten. Das wäre eine anständige Arbeit. Etwas, auf das Marissa stolz sein konnte.

Und wenn sie sehr sparsam wäre, könnte sie Marissa vielleicht sogar ein Studium ermöglichen – falls noch nicht diesen Herbst, dann sicher im nächsten. Marissa würde eine gute Ausbildung genießen und könnte später jeden Beruf ergreifen, der ihr vorschwebte. Natürlich bedeutete das harte Arbeit, aber undenkbar war es nicht. Sie würden sich auch trotz der Fehler ihres Vaters eine gute Zukunft erarbeiten können.

Auf dem Weg zum Bus summte Isabelle heiter vor sich hin. Am besten hielte sie gleich bei Mr Sweeny, um im Krankenhaus anzurufen und zu kündigen.

Ihr fiel ein, dass sie Mark nun einen Kaffee schuldete, und dass sie das, ganz anders als noch vor wenigen Wochen, überhaupt nicht störte. Schließlich war er seinem Versprechen treu geblieben und hatte ihr geholfen, eine viel bessere Arbeit zu finden als die schreckliche Schufterei in der Waschküche. Und ohne seine Empfehlung hätte ihr diese Tür definitiv nicht offen gestanden.

„Und von Ihnen hat er nur in den höchsten Tönen gesprochen“, kamen ihr Mr Johnsons Worte wieder in den Sinn. Was mochte Mark über sie erzählt haben? Im Grunde kannte er sie kaum und ehrlich gesagt war sie ihm meist sehr kühl, ja sogar abweisend begegnet. Er hingegen war stets hilfsbereit und freundlich geblieben. Viel freundlicher, als sie es verdient hatte. Und jetzt hatte sie ihm auch noch ihre Anstellung zu verdanken.

Einen Moment lang zögerte sie. Was, wenn sie es nicht schaffte? Wenn man ihr schon nach den ersten Tagen kündigte?

Wieder dachte Isabelle an Marks freundlichen Blick und wie sehr er sich für sie eingesetzt hatte, und schüttelte die Zweifel ab.

Sie würde ihr Bestes geben und ihm beweisen, dass er sich nicht in ihr getäuscht hatte.