„Das wäre nicht nötig gewesen“, sagte Mark mit einem amüsierten Blick über die Kaffeetasse. Nach seiner Schicht hatten er und Isabelle sich in einem kleinen Bistro in der Nähe des Krankenhauses getroffen. Es fühlte sich etwas komisch an, ihre Einladung trotz ihrer offensichtlichen finanziellen Schwierigkeiten anzunehmen, aber wiedersehen wollte er sie nur zu gern.
„Es ist doch das Mindeste, das ich tun konnte“, sagte sie mit einem Lächeln, das ihr warmes Gesicht zum Strahlen brachte. „Die Arbeit im Hotel habe ich schließlich allein Ihnen zu verdanken. Ohne Ihre Empfehlung hätte Mr Johnson mich sicher nicht eingestellt.“
Das goldene Haar hatte Isabelle heute unter einem kecken schwarzen Hut hochgesteckt, der zu dem Kragen ihres grünen Kleids passte. Sie sah wunderschön aus und so elegant. Als Dienstmädchen konnte Mark sie sich überhaupt nicht vorstellen.
Er bewunderte Isabelle dafür, dass sie nicht gleich nach der ersten Woche gekündigt hatte. „Es freut mich, dass er Sie eingestellt hat. Wie ist die Arbeit denn?“
Sie rümpfte die Nase. „Viel härter als gedacht, wenn ich ehrlich bin. Aber allmählich gewöhne ich mich daran.“
„Ich bin stolz auf Sie, Isabelle. Es braucht viel Mut, in einer so schwierigen Lebensphase nicht einfach den Kopf hängen zu lassen.“
„Nun ja, aufgeben stand außer Frage“, sagte sie ruhig, aber entschieden. „Ich werde tun, was nötig ist, um meiner Schwester eine gute Zukunft zu ermöglichen.“
Mark hielt inne. „Und Ihnen selbst auch, hoffe ich.“
„Ach, ich komme schon zurecht. Um Marissa mache ich mir mehr Sorgen. Ich möchte, dass sie wie geplant studieren und etwas aus sich machen kann.“
„Das verstehe ich nur zu gut“, sagte Mark und stellte seinen Kaffee ab. „Mit meinem Bruder geht es mir genauso.“ Als er das Fragezeichen in Isabelles Gesicht sah, sprach er gleich weiter. „Vor fünf Jahren sind unsere Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seither kümmere ich mich um ihn.“
„Oh, Mark. Wie fürchterlich. Das tut mir leid.“
„Danke“, entgegnete er und senkte den Kopf. „Es war ein großer Schock. Ich war damals fast fertig mit meinem Medizinstudium und habe kurz darauf mit meinem Praxisjahr begonnen. Inzwischen fällt es mir sehr schwer, bei den langen Schichten im Krankenhaus und dann noch im Armenviertel genug Zeit für Josh für finden.“
„Das glaube ich. Haben Sie gleich nach dem Studium im Krankenhaus angefangen?“
„Ja. Der ursprüngliche Plan war, dass ich in die Praxis meines Vaters einsteige, aber nach dem Unfall kam alles anders.“
Isabelle nickte und betrachtete Mark genauer. „Deshalb können Sie so gut nachempfinden, wie es mir gerade geht, nicht wahr?“
„Ja, genau. Auch wenn Josh und ich wenigstens in einer Hinsicht mehr Glück hatten – wir mussten nicht umziehen.“
„Das heißt, Sie leben noch in Ihrem Elternhaus?“
„Richtig. Mein Bruder war damals ja erst dreizehn, da habe ich es für das Beste gehalten, ihn nicht aus der vertrauten Umgebung herauszurei…“, Mark brach ab und verzog das Gesicht. „Verzeihung, das war wirklich unbedacht.“
„Nein, ist schon in Ordnung“, sagte Isabelle kopfschüttelnd, wenngleich ihr Tränen in die Augen stiegen. „Wir hätten das Haus vermutlich ohnehin verkauft. Für uns beide wäre es viel zu groß gewesen.“
Vorsichtig legte Mark seine Hand auf die ihre. „Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen: Ich bin immer für Sie da.“
Dankbar hob sie den Blick. „Das ist sehr freundlich, danke.“
Einige Augenblicke lang sahen sie sich an, dann schüttelte Isabelle den Kopf.
„Ich … ich muss mich noch bei Ihnen entschuldigen“, sagte sie leise, den Blick gesenkt. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich Ihnen schreckliche Dinge an den Kopf geworfen. Das war furchtbar ungerecht“, räumte sie ein und wagte es vorsichtig, den Blick wieder zu heben. „Können Sie mir verzeihen?“
Die Aufrichtigkeit in ihren Worten berührte ihn. Noch nie hatte sie sich so ehrlich, so verletzlich gezeigt.
Mark lächelte sanft. „Da gibt es nichts zu verzeihen. Sie haben ein Ventil für den Ärger und die Trauer gebraucht. Und ich stand gerade zur Verfügung.“
Erleichterung legte sich auf ihr Gesicht. „Danke schön. Das bedeutet mir sehr viel.“
„So etwas habe ich nicht zum ersten Mal erlebt. Und gewiss auch nicht zum letzten Mal.“ Übel nehmen konnte er es Isabelle erst recht nicht. Genauso wenig, wie er Josh seine Reaktion auf den Tod ihrer Eltern übel genommen hatte. „Trauer ist etwas sehr Merkwürdiges. Menschen in Trauer handeln ganz anders als sonst. Auch ich bin damals so manches Mal aus der Rolle gefallen.“
„Es tut gut zu wissen, nicht allein damit zu sein. Solche Momente hatte ich auch schon.“
„Und vermutlich werden auch noch einige folgen. Seien Sie nicht so hart mit sich. Und auch nicht mit Marissa. Wenn sie auch nur im Geringsten so reagiert wie mein Bruder, dann machen Sie sich auf viel Wut und Rebellion gefasst. Aber versuchen Sie es nicht persönlich zu nehmen“, riet Mark ihr und musste etwas lachen. „Wahrscheinlich sollte ich mir das auch mal selbst sagen.“
„Ich weiß genau, was Sie meinen. Marissa ist wie ausgewechselt seit … nun ja, seit alledem. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes im Argen liegt. Sie ist in letzter Zeit so verschlossen und furchtbar in sich gekehrt. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Normalerweise spricht sie immer mit mir“, sagte Isabelle und Mark hörte, wie es sie verletzte.
„Vielleicht hat sie das Gefühl, dass Sie im Moment schon genug Sorgen haben, und hält sich deshalb zurück“, mutmaßte Mark. So bedrückt, wie Isabelle nun dreinblickte, wünschte er sich, all ihre Probleme für sie lösen zu können. „Geben Sie ihr noch etwas Zeit. Sie wird sich sicher wieder öffnen.“
Isabelle schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Wie lange hat es gedauert, bis Ihr Bruder sich wieder einigermaßen erholt hatte?“
Mark trank den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. Natürlich sollte er ihr keine falschen Hoffnungen machen, gleichzeitig wollte er sie auch nicht weiter entmutigen. „Nun ja, das war ein langer Prozess und vermutlich steckt er noch immer mittendrin. Es gibt gute Tage und schlechte Tage. Aber im Großen und Ganzen geht es ihm heute deutlich besser.“
„Das freut mich. Was macht Ihr Bruder gerade?“, hakte sie nach und in ihren Augen flackerte ehrliches Interesse auf.
„Er steht kurz vor seinem Schulabschluss. Und dann kann er hoffentlich an die Universität, Medizin studieren.“
„Oh, er will also in Ihre Fußstapfen treten?“
„Das ist zumindest der Plan. Und eines Tages können wir hoffentlich unsere eigene Praxis eröffnen. Das hatte sich schon mein Vater gewünscht“, erzählte Mark und hielt kurz inne. „Obwohl sich Josh im Moment deutlich mehr für seine Gitarre interessiert als fürs Lernen.“
Isabelle lachte. „Das klingt ganz nach Marissa. Zu ihren Lieblingsablenkungen gehört, sich in romantischen Tagträumen zu verlieren. Der Nachteil einer Mädchenschule.“
Dass Josh zurzeit vermutlich auch romantische Träume hegte, behielt Mark für sich. Neugierig, wie es in dieser Hinsicht wohl um Isabelle stand, musterte er sie. „Haben Sie sich in Marissas Alter auch so viel aus Jungen gemacht?“
Laut lachte Isabelle. „Ach, die eine oder andere Geschichte könnte man da sicher auch erzählen. Aber alles in allem habe ich immer versucht, es meinen Eltern recht zu machen. Schließlich wollte ich nach der Schule auch in die Wohltätigkeitsarbeit einsteigen, wie meine Mutter.“
Und jetzt legte sie ihr eigenes Leben aufs Eis, um für ihre Schwester aufzukommen. Mark hatte große Achtung vor Isabelles Mut und ihrer Aufopferungsbereitschaft.
„Es hat also nie einen ernsthaften Verehrer gegeben?“ Bei einer so wunderschönen jungen Frau wie Isabelle? Das konnte Mark nicht glauben. Warum sie noch nicht verheiratet war, war ihm ohnehin ein Rätsel. Nicht, dass es ihn störte! Im Gegenteil, so bestand wenigstens die Hoffnung, dass sie ihn eines Tages vielleicht doch noch mit anderen Augen sehen würde …
„Einen schon“, gestand sie mit traurigem Gesicht. „Roger Noland. Er arbeitete für meinen Vater und wollte eigentlich um meine Hand anhalten, als …“ Sie hielt inne und legte die Stirn in Falten. Ein kurzes Räuspern. „Wie dem auch sei. Als Wardrop Real Estate bankrottgegangen ist, hat auch Roger seine Arbeit verloren. Und dann hat er eine neue Stelle in British Columbia angenommen.“
Jetzt runzelte Mark die Stirn. „Und er hat Sie nicht gebeten, mit ihm zu gehen?“
Achselzuckend spielte sie an dem Henkel ihrer Tasse. „Seine Worte waren, dass er mir jetzt nichts mehr zu bieten hätte und er mich unmöglich bitten könne, auf ihn zu warten. Das sei nicht fair.“
„Das tut mir leid, Isabelle. Das muss sehr hart gewesen sein.“ Noch eine Enttäuschung in dem ganzen Schlamassel.
„Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass es schon ganz gut so war“, sagte sie und hob den Kopf. „Ich hätte zwar Ja gesagt, aber tatsächlich habe ich im Nachhinein nun festgestellt, dass ich Roger gar nicht wirklich geliebt haben kann. Sonst hätte mich der Abschied viel mehr treffen müssen.“
Tief beeindruckt ruhte Marks Blick auf ihr, er verlor sich beinahe in Isabelles klarblauen Augen. In den letzten Wochen hatte sie so viel ertragen müssen und doch war sie nie ins Wanken geraten, hatte sich nicht in Selbstmitleid gebadet. „Also wäre ich an seiner Stelle gewesen“, entgegnete Mark heiser, „hätte ich Sie niemals allein zurückgelassen.“
Leicht öffnete sich Isabelles Mund, doch sie sagte nichts. Schnell senkte sie den Blick, um ihre Verwirrung über diesen Kommentar zu verbergen. „Das ist sehr nett von Ihnen. Vor allem, da Sie mich in meinen schlimmsten Momenten erlebt haben“, erwiderte sie und eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen.
Errötete sie etwa wegen ihm? Sofort schnellte Marks Puls in die Höhe. War es tatsächlich möglich, dass sich Isabelles Gefühle ihm gegenüber vielleicht geändert hatten? Doch selbst wenn dem so wäre, wollte Mark es auf keinen Fall überstürzen. Zunächst war er einfach dankbar, dass Isabelle jedwede Feindseligkeit ihm gegenüber abgelegt hatte.
Kurz blickte er auf seine Armbanduhr. Nur zu gern hätte er noch mehr Zeit mit ihr verbracht, doch die Pflicht rief. „Ich muss jetzt leider los. Aber vielen Dank noch mal für den Kaffee und die nette Gesellschaft.“
„Sehr gern.“
„Ich bete, dass es für Sie und Marissa aufwärtsgeht. Und bitte, melden Sie sich, wenn ich irgendwie behilflich sein kann.“
„Das werde ich. Danke.“
Der Anblick ihres zarten Lächelns begleitete Mark noch den ganzen restlichen Tag.
Isabelle bezahlte und warf einen Blick auf die Uhr. Marissas Schule lag nur unweit vom Bistro entfernt und gleich hatte sie Schulschluss. Kurzerhand entschied Isabelle, ihre Schwester zu überraschen und ihr auf dem Nachhauseweg Gesellschaft zu leisten.
Es war ihr erster freier Tag und es kam ihr sehr gelegen, dass Dr. Henshaw – bzw. Mark, wie sie ihn ja jetzt nannte – Zeit für einen Kaffee gehabt hatte. Sie war sehr froh, ihren Missmut ihm gegenüber abgelegt zu haben. Nachdem sie sich nun auch bei ihm entschuldigt hatte, konnte aus dieser Bekanntschaft ja vielleicht sogar eine Freundschaft werden. Es war ein gutes Gefühl, jemanden an seiner Seite zu wissen. Jemand, der genau wusste, was sie durchmachte, und sich für sie interessierte.
Immer mehr wurde Isabelle klar, dass man den wahren Wert eines Menschen daran erkannte, wie er anderen begegnete. Vor allem in schweren Zeiten. All jene, die einem ihre Unterstützung anboten oder ein freundliches Wort übrig hatten, waren von unschätzbarem Wert. Aber die, die sich von einem abwendeten, waren niemals echte Freunde gewesen.
Mark Henshaw hatte immer wieder bewiesen, dass er sich um seine Mitmenschen sorgte. Es schien ihm aufrichtig leidgetan zu haben, dass er ihrer Mutter nicht hatte helfen können. Rückblickend sah Isabelle ein, dass er den Tod selbst bei rechtzeitigem Erscheinen nicht hätte aufhalten können.
Entschieden schob Isabelle alle negativen Gedanken beiseite und genoss den Spaziergang. Das Wetter war ausgezeichnet, ein herrlicher Frühlingstag. Aus der Ferne hörte sie bereits die Schulklingel, dicht gefolgt von Stimmengewirr. Sie beschleunigte ihren Schritt, um Marissa nicht zu verpassen.
Schon ein kurzes Stück vor der Schule kam Isabelle ein ganzes Meer an uniformierten Mädchen über die Haupteinfahrt entgegen. Es war kaum möglich, ein Mädchen von dem anderen zu unterscheiden.
Auf dem Bürgersteig unweit der Backsteinmauer blieb Isabelle stehen und ließ den Blick über die immer kleiner werdende Menge wandern. Als bloß noch eine Handvoll Schülerinnen übrig waren, fürchtete Isabelle schon, Marissa doch verpasst zu haben. Vielleicht war sie aber auch noch im Schulgebäude und sprach mit einem der Lehrer? Isabelle entschied sich, drinnen nach ihr zu suchen.
Gerade ging sie über die Einfahrt in Richtung Schulgebäude, da entdeckte sie zwei Menschen dicht beieinanderstehen, halb verborgen hinter der Backsteinmauer. Als Isabelle näherkam, verlangsamte sie ihren Schritt, ihr Herz jedoch begann zu rasen. Das war Marissa! Aber wer war der Junge neben ihr? Und was hatte er hier zu suchen, auf dem Hof einer Mädchenschule?
Offensichtlich führten die beiden ein aufwühlendes Gespräch. Marissa gestikulierte eifrig mit den Händen und in ihrem Blick lag Enttäuschung. Isabelle zögerte, sie wollte sich nicht einmischen. Aber vielleicht erhielt sie ja durch ihre Beobachtung aus der Ferne einen Hinweis, was ihre Schwester bedrückte. Wenn sie doch bloß hören könnte, was die beiden sagten …
Resigniert ließ Marissa erst die Schultern hängen, dann den Kopf. Der junge Kerl zog sie daraufhin in eine sanfte Umarmung.
Isabelle wurde flau im Magen. Was ging hier vor sich?
Mit besorgtem Gesicht reichte der Junge Marissa ein Taschentuch. Sie nahm es, wischte sich über die Wangen und lauschte anscheinend seinen Worten. Mit einem Nicken gab sie ihm das Taschentuch zurück und er verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange, bevor er in die entgegengesetzte Richtung ging.
Eilig lief Isabelle auf ihre Schwester zu, doch sie konnte nur noch die Rückseite der Jacke des jungen Mannes ausmachen.
„Marissa! Wer war das?“
Überrascht und mit vor Schreck geweiteten Augen sprang Marissa ein Stück zur Seite. „Isabelle. Ich … w-was machst du denn hier?“
„Ich war gerade zufällig in der Gegend und dachte, wir könnten ja gemeinsam nach Hause fahren. Aber zurück zu meiner Frage, wer war das?“
„Ach, ähm … niemand. Nur ein Freund aus dem Kirchenchor.“
Ungläubig sah Isabelle sie an. „Und hat dieser Freund auch einen Namen?“
Unsicher sah Marissa ihm nach. „Das ist … Josh. Er ist nur kurz vorbeigekommen, um zu fragen, wann die nächste Probe ist. Er war letzte Woche nicht da.“
Diese kleine Lüge durchschaute Isabelle sofort. Der Chor traf sich jeden Donnerstag zur gleichen Zeit. „Das hat aber ganz anders ausgesehen. Und warum hast du so rote Augen? Hast du geweint?“
Mit einem Stöhnen setzte Marissa sich in Bewegung. „Mir geht’s gut.“
Mit wenigen Schritten hatte Isabelle sie eingeholt. „Sind Jungs auf dem Schulgelände überhaupt erlaubt? Ich glaube nicht, dass die Direktorin erfreut darüber wäre.“
Sofort schoss Marissas Kopf hoch. „Genau genommen hat er das Schulgelände überhaupt nicht betreten, Belle. Und jetzt hör endlich auf so zu tun, als hätte ich ein Verbrechen begangen“, erwiderte sie wütend und ihre bernsteinfarbenen Augen verdunkelten sich.
Isabelle atmete tief ein und versuchte, sich nicht von ihrem aufsteigenden Ärger beherrschen zu lassen. Einige Momente gingen die beiden schweigend nebeneinanderher, bis Isabelle erneut in ruhigem Tonfall ansetzte: „Es sind nur noch wenige Wochen Schule. Bitte stell jetzt nichts an, womit du deinen Abschluss gefährdest, Marissa.“
Abrupt blieb Marissa stehen. „Hast du schon mal jemanden so richtig gern gehabt?“, wollte sie wissen. „Und gehofft, dass er dich auch mag?“
Aha! Sie mochte den Jungen also – wenigstens räumte sie das ein.
Einen Moment lang überlegte Isabelle. „Bis vor Kurzem hätte ich das wahrscheinlich über Roger gesagt. Aber wenn er meine Gefühle erwidert hätte, wäre er wohl nicht so weit weggezogen“, sagte Isabelle, den Blick gesenkt. Es behagte ihr nicht, darüber zu sprechen. „Ich habe auf jeden Fall gelernt, meine Entscheidungen nicht von einem Mann abhängig zu machen.“
Einfühlsam legte Marissa ihre Hand auf den Arm ihrer Schwester. „Aber du kannst die Liebe doch nicht einfach aufgeben, bloß weil Roger ein Dummkopf war“, wandte sie ein. „Oder willst du nicht heiraten?“
Isabelle schnaubte ein unschönes Lachen. „Welcher Mann möchte denn eine Putzfrau heiraten?“
„Belle, du bist eine wunderschöne und intelligente Frau. Das bleibt nicht lange unbemerkt.“
Entschieden schüttelte Isabelle den Kopf. „Wie dem auch sei. Ich mache mir viel mehr Sorgen um dich als um mich. Ich möchte, dass dir alle Türen offenstehen. Auf keinen Fall werde ich zulassen, dass du dir deine Zukunft verbaust – und schon gar nicht wegen eines Jungen.“
Für einen Moment lang sah es so aus, als würde Marissa etwas einwenden, doch stattdessen füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie zog Isabelle in eine Umarmung. „Und ich möchte doch nur, dass du stolz auf mich sein kannst“, flüsterte sie.
„Das bin ich, keine Frage“, erwiderte Isabelle, während sie ihre Schwester fest an sich drückte und spürte, wie ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihr aufblitzte. Vielleicht war sie endlich zu Marissa durchgedrungen.