Kapitel 14

In der Notaufnahme war es unnatürlich still, nichts als Marks angestrengte Atmung war zu hören. Selbst die üblichen Hintergrundgeräusche waren wie stummgeschaltet, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Eine Schweißperle tropfte Mark vom Gesicht.

„Ich fürchte, wir haben ihn verloren, Doktor“, sagte eine der Schwestern schließlich.

Nur widerwillig entfernte sich Mark einen Schritt von dem Körper auf der Liege. Dann stellte sich Resignation bei ihm ein. All seine Bemühungen, den jungen Mann wiederzubeleben, waren vergeblich gewesen. Er sah auf die Uhr. „Todeszeitpunkt: 14.23 Uhr“, sagte er, als er die blutverschmierten Handschuhe auszog und in die nächstgelegene Mülltonne warf. Er drehte sich mit dem Rücken zu den anderen, kniff angestrengt die Augen zusammen und massierte seinen Nasenrücken.

Der junge Mann war erst vor wenigen Minuten in die Notaufnahme gebracht worden. Offensichtlich hatte ihn beim Überqueren der Straße ein Auto erfasst. Um die inneren Blutungen zu stoppen, hätte man sofort operieren müssen, aber dazu hätten sie ihn erst stabilisieren müssen. Die Verletzungen waren zu schwerwiegend, der Versuch, ihn zu retten, erfolglos.

Jemand trat von hinten an Mark heran.

„Dr. Henshaw, die Familie wartet draußen“, sagte eine Schwester.

Mark nickte, straffte seine Schultern und setzte ein professionelles Gesicht auf. Dann drehte er sich zu ihr. „Ja, ich gehe jetzt zu ihnen. Können Sie und Schwester Hart hier so lange sauber machen und den Körper vorbereiten? Sicher wollen sie ihren Sohn noch einmal sehen.“

„Natürlich, Doktor.“

Routiniert zog er Gesichtsmaske und Kittel aus und war dankbar, dass die Kleidung darunter nur ein wenig verschwitzt, aber sonst sauber geblieben war. Vor der bevorstehenden Aufgabe graute es ihm.

Sobald er den Wartebereich betrat, sprangen zwei Menschen auf. Ein Mann und eine Frau, Arm in Arm, die Gesichter zu gleichen Teilen erfüllt von Hoffnung und Furcht.

Je näher Mark ihnen kam, desto unwohler wurde ihm. „Mr und Mrs Brower?“

„Ja, das sind wir. Wie geht es unserem Sohn, Doktor?“

Kurz zögerte Mark. Dieser Moment würde das Leben der beiden für immer verändern. Aber es half nichts. „Es tut mir sehr leid, aber er hat es leider nicht geschafft.“

Der Frau entfuhr ein fürchterlicher Klagelaut, während sie in den Armen ihres Mannes zusammensank. Er hingegen reagierte mit stoischer Ruhe, wenngleich auch in seinen Augen unsagbarer Schmerz lag.

„Es tut mir wirklich leid“, entschuldigte Mark sich noch einmal. „Ich habe alles versucht, aber die Verletzungen waren zu schwerwiegend.“

Das Paar hielt sich fest in den Armen, die Gesichter erfüllt von Kummer.

„Können wir ihn noch einmal sehen?“, fragte der Herr.

„Ja, natürlich. Folgen Sie mir.“

Noch den ganzen Tag über hatte Mark das herzzerreißende Schluchzen der Frau im Ohr. Selbst im Laufe des Abends, als er wieder zu Hause war, ging ihm der Patient nicht aus dem Kopf. Der junge Mann war erst einundzwanzig Jahre alt gewesen – und irgendein Autofahrer hatte ihm das Leben genommen. Es hätte genauso gut Josh dort auf dem Behandlungstisch sein können. Bei der Vorstellung lief es Mark kalt den Rücken runter und er schwor sich, seine Bemühungen um eine gute Beziehung zu ihm zu verstärken.

Das Leben war kurz und nichts daran war selbstverständlich.

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Um Punkt drei Uhr stempelte Isabelle aus. Nur selten konnte sie so pünktlich Schluss machen. Sonst verlangte meist noch irgendein Gast nach mehr Handtüchern oder einem zusätzlichen Kissen, woraufhin sie sich auf den langen Weg zum Vorratsschrank begeben musste.

Wenn sie sich jetzt beeilte, schaffte sie es vielleicht, den Bus um halb vier zu bekommen und Rosie mit dem Abendessen helfen zu können.

Auf dem Weg zur Haltestelle schien ihr die warme Nachmittagssonne ins Gesicht. Tief atmete Isabelle durch und versuchte, den Tag hinter sich zu lassen. Die Arbeit war anstrengend, ja, aber was sie noch viel mehr störte, war die Unverfrorenheit der Hotelgäste. Heute hatte eine Frau sie mitten im Gang aufgehalten und gefordert, dass Isabelle unter ihr Bett kroch, um einen heruntergefallenen Ohrring aufzuheben. Nur mit größter Mühe hatte sie sich den Kommentar verkniffen, dass sie gefälligst selbst nach ihrem Ohrring suchen solle. Allein wegen Mrs Herberts Warnung, der Kunde sei König, hatte sie widerwillig nachgegeben.

An einer roten Ampel kam Isabelle zum Stehen und hielt unruhig nach dem Bus Ausschau.

„Isabelle!“, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr. „Isabelle, warten Sie.“

Als sie sich umdrehte, erblickte sie Elias. O nein!

Seine Rettung letzte Woche wusste sie sehr zu schätzen, aber wiedersehen wollte sie ihn eigentlich nicht. Nur ihre guten Manieren belehrten sie eines Besseren und sie setzte ein Lächeln auf. „Hallo Elias. Kann ich etwas für Sie tun?“

Er wartete kurz, um wieder zu Atem zu kommen. „Ich hatte gehofft, wir könnten vielleicht einen Kaffee trinken gehen und … uns kurz unterhalten.“

Isabelle machte große Augen. Was in aller Welt sollten sie beide zu besprechen haben? „Hm … ich habe es etwas eilig, der Bus kommt jeden Moment. Vielleicht ein ander Mal?“

„Ich fahre Sie anschließend auch gern nach Hause. Das ist sicher noch schneller als mit dem Bus.“

Isabelles Magen zog sich zusammen. Auf keinen Fall wollte sie, dass ein ehemaliger Verehrer sah, in welchen Umständen sie und Marissa zurzeit wohnten. Doch kaum war ihr der Gedanke gekommen, hatte sie Gewissensbisse – wüsste Rosie davon, wäre sie sicher verletzt.

„Bitte, Isabelle. Es ist wichtig.“

Tatsächlich schien es Elias sehr ernst zu sein, sodass Isabelle mit sich debattierte. Schließlich hatte er noch etwas gut bei ihr. Es wäre nur fair, ihn wenigstens anzuhören. „Also gut.“

„Danke“, erwiderte er erleichtert. „Nur eine Straße weiter gibt es ein Café“, sagte er und führte sie mit einer Hand am Rücken in die genannte Richtung.

Auf dem Weg machte sich eine unangenehme Stille zwischen ihnen breit, die nur durch die Verkehrsgeräusche unterbrochen wurde. Am Ziel angekommen entschied sich Elias für einen Tisch am Fenster. Binnen kürzester Zeit kam eine Kellnerin zu ihnen und sie bestellten zwei Tassen Kaffee und für Elias noch ein Stück Apfelkuchen.

Sobald die Kellnerin wieder gegangen war, fragte Isabelle: „Also, Elias, worüber wollten Sie mit mir sprechen? Geht es um den Vorfall im Hotel?“

„Nein, eigentlich nicht“, sagte er und zog die blonden Brauen zusammen, während er die Serviette auf dem Schoß ausbreitete. „Die Wahrheit ist, dass Sie mir seither nicht mehr aus dem Kopf gehen. Was Sie durchgemacht haben, Isabelle – erst der Verlust Ihrer Eltern und dann mussten Sie auch noch Ihr Zuhause aufgeben – das tut mir schrecklich leid. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig das für Sie sein muss.“

Sie erwiderte seinen Blick, unterdrückte jedoch die Bemerkung, die ihr sogleich in den Sinn kam: Wenn es ihm so schrecklich leid tat, warum hatte er seit dem Tod ihres Vaters nichts von sich hören lassen? „Ja, es ist gerade nicht einfach. Aber wir kommen schon wieder auf die Beine.“

Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. „Ich … muss mich noch bei Ihnen entschuldigen. Dafür, dass ich mich seit dem Tod Ihres Vaters nicht mehr bei Ihnen gemeldet habe.“

Ah, vielleicht gestand er ihr nun den wahren Grund?

„Ich wollte Sie sehr wohl besuchen, zwei Mal sogar. Aber beide Male kam mir Roger Noland zuvor. Beide Male stand sein Auto in Ihrer Einfahrt, und da habe ich angenommen, er habe schon um Ihre Hand angehalten. Deshalb wollte ich mich nicht aufdrängen und habe lediglich eine Trauerkarte geschickt. Ein sehr dürftiger Ersatz, ich weiß.“

Einen Moment lang schwieg Isabelle und ließ seine Entschuldigung auf sich wirken, während die Kellnerin mit Kaffee und Kuchen wiederkam. „Danke, dass Sie mir das erzählt haben“, sagte sie, sobald sie wieder allein waren. „Das bedeutet mir viel. Ich dachte, Sie wären uns wie so viele andere einfach aus dem Weg gegangen. Aus Scham vielleicht oder aus Missmut über den Tod meines Vaters.“

„Nein, überhaupt nicht. Leider waren meine Motive noch egoistischer – ich wollte mir nur den Herzschmerz ersparen.“

Herzschmerz? Hegte er etwa echte Gefühle für sie?

Elias griff über den Tisch nach Isabelles Hand. „Ich hasse es, Sie so leiden zu sehen, Isabelle. Arbeiten zu müssen, auch noch in einer so niederen Position, wo sie den Behelligungen widerlicher Männer ausgesetzt sind“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Sie verdienen etwas Besseres.“

Isabelle erstarrte. Natürlich entsprach das Zimmermädchendasein auch nicht ihrem Ideal, dennoch missfiel ihr, wie demütigend er darüber sprach. „Zugegeben, es ist nicht mein Traumberuf, aber es ist gute, ehrliche Arbeit, Elias“, sagte sie und erschrak über sich selbst. Noch vor einem Jahr hätte sie diese Worte niemals in den Mund genommen.

„Entschuldigung, ich wollte nicht respektlos sein“, erwiderte er. Als ihre Blicke sich trafen, spiegelte sich eine Vielzahl von Emotionen in seinen grauen Augen: Sorge, Bewunderung – und vielleicht auch ein Hauch von Nervosität?

Sie wurde nicht schlau aus ihm.

„Isabelle, dürfte ich Ihnen noch einmal den Hof machen?“

Ihr Herz begann zu rasen. Was dachte er sich nur? In der einen Sekunde machte er ihre Arbeit schlecht und in der nächsten wollte er wieder um sie werben! „Ich … ich weiß nicht so recht.“

Ein Schweißfilm zeichnete sich auf seiner Stirn ab. „Ich schätze Sie sehr, Isabelle. Immer schon. Selbst als mir klar wurde, dass Sie Roger lieber mochten als mich. Nur deshalb habe ich mich zurückgehalten. Aber jetzt, wo ich die wahren Hintergründe kenne, würde ich uns gern noch eine Chance geben.“

Isabelle zögerte, ihr schwirrte der Kopf. Elias war ein angesehener, wohlhabender Mann. Ehrlich und anständig. Und sie mochte ihn. Warum also nicht mit ihm ausgehen und sehen, was daraus wird?

„Gut“, sagte sie langsam, „probieren wir es.“

„Sehr schön“, erwiderte er sichtlich erleichtert und lächelte. „Wollen wir morgen Abend zusammen essen gehen?“

„Ja, gern. Wie wäre es um fünf? Oder ist das zu früh?“

„Fünf Uhr ist gut“, sagte er. „Ich habe allerdings vor, Sie abzuholen, wie sich das für eine Verabredung gehört. Also, wie ist Ihre aktuelle Adresse?“

Zögerlich biss sie sich auf die Lippe. Auf keinen Fall sollte er sehen, wie tief sie gesunken war. „Meine Schwester und ich sind bei Freunden untergekommen. Aber es wäre mir lieber, wenn Marissa vorerst noch nichts von uns erfährt.“

„Ach so, ja, das verstehe ich. Wie wäre es, wenn wir uns im Grange Park verabreden? Ich dachte, bei gutem Wetter könnten wir picknicken.“

„Ja, das klingt wundervoll“, erwiderte sie erleichtert. „Und der Grange Park ist auch überhaupt nicht weit weg.“ Sollten die Dinge sich gut entwickeln, würde sie Elias letztlich einweihen. Aber vorerst noch nicht.

„Sehr gut. Dann sehen wir uns morgen um fünf am Parkeingang auf der Beverly Street.“

„Einverstanden“, sagte sie mit einem ehrlichen Lächeln.

„Sie haben mich gerade sehr glücklich gemacht“, sagte Elias und gab ihr einen Handkuss. „Bis morgen.“