Kapitel 15

Was nun?

Unruhig tigerte Mark vor dem Büro des Oberarztes auf und ab. Dr. Shriver hatte ihn zu sich gebeten – eine äußerst ungewöhnliche Einladung.

Marks Magen rumorte und er wünschte sich, er hätte auf den zweiten Kaffee verzichtet. Ging es um den verstorbenen Patienten? Hatten die Eltern des Jungen vielleicht die Untersuchung der Todesursache eingefordert? Eigentlich wusste Mark: Er hatte alles versucht, um das Leben des Jungen zu retten. Dennoch nagte der Zweifel an ihm; hätte er mehr tun können?

Lautes Absatzklackern holte Mark aus seinen Gedanken. „Sie können jetzt zu Dr. Shriver durchgehen, Dr. Henshaw“, verkündete die Sekretärin.

„Danke“, erwiderte Mark kurz und bat Gott auf dem Weg hinein um Weisheit.

Als Mark das Büro betrat, hob Dr. Shriver kurz den Blick. Er war ein kräftiger Mann mittleren Alters, bekannt für seine Unverblümtheit, mit der er sich nicht nur Freunde machte.

„Sie wollten mich sprechen, Sir?“

„Ja. Setzen Sie sich doch“, sagte Dr. Shriver mit einer Geste zum Stuhl. Während Mark Platz nahm, versuchte er seine Stimmung einzuschätzen: Verärgert sah er nicht aus.

„Ich komme gleich zum Punkt“, sagte er und sein Gesicht blieb ungerührt, lediglich sein Kiefermuskel zuckte kurz. „Mir sind einige Beschwerden zu Ohren gekommen und ich wurde gebeten, Sie darauf anzusprechen.“

Das wiederum klang gar nicht gut. Unbehaglich wandte Mark sich auf dem Stuhl. „Was denn für Beschwerden?“

„Zunächst einmal gab es Bedenken über Ihr Engagement im örtlichen Mütterheim. Das Krankenhaus befürchtet, dass es dadurch so aussehen würde, als duldeten wir solch eine Lebensweise und unterstützten die Frauen, die diese Einrichtung aufsuchen“, begann Dr. Shriver, ohne den Blick von Mark zu nehmen.

Wütend biss Mark die Zähne zusammen, um sein Entsetzen zu verbergen und nach einer angemessenen Antwort zu suchen.

„Außerdem“, fuhr Dr. Shriver fort, „besteht die Sorge, dass Sie durch Ihre Besuche im Armenviertel womöglich unerwünschte Krankheiten zu uns bringen. Sie haben sicherlich davon gehört, dass dort zurzeit Polio und rheumatische Fieber kursieren.“

„Durchaus, Sir. Genau aus diesem Grund fahre ich ja in dieses Viertel, anders würden die Menschen keine medizinische Versorgung erhalten.“

„Das ist eine sehr ehrenwerte Haltung, keine Frage. Aber Sie dürfen nicht vergessen, welchem Risiko Sie die anderen Mitarbeiter und natürlich unsere Patienten damit aussetzen.“

„Ich achte sehr genau darauf, die Ansteckungsgefahr möglichst gering zu halten. Genau wie bei meiner Arbeit hier im Krankenhaus. Und was meine Patientinnen im Mütterheim anbetrifft: Ich heiße ihre Handlungen weder gut noch verurteile ich sie dafür. Für mich sind es lediglich Schwangere, die ärztliche Hilfe benötigen. Diese Frauen – und mehr noch ihre Kinder – verdienen die gleiche Fürsorge wie jeder andere auch“, verteidigte sich Mark und atmete leise aus. „Wenn ich mich nur um Menschen kümmern würde, die es in meinen Augen wert wären, wäre meine Patientenliste schrecklich kurz.“

Nachdenklich trommelte Dr. Shriver mit den Fingern auf dem Tisch und studierte Mark. Schließlich lehnte er sich vor und sagte: „Ihre Leidenschaft für die Bedürftigen ist bewundernswert, Dr. Henshaw. Ich gebe Ihnen auch nur weiter, welche Bedenken der Krankenhausvorstand und einige Kollegen geäußert haben. Es liegt mir fern, Ihnen vorzuschreiben, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Ihr Engagement nicht unbedingt zuträglich für Ihren Werdegang bei uns sein könnte. Bitte glauben Sie mir – das ist nicht die Art der Aufmerksamkeit, die Sie erregen wollen.“

Mit geballten Fäusten rang Mark nach innerer Ruhe.

„Und dann ist da noch etwas, das vermutlich auch in gewisser Weise mit den anderen zwei Punkten zusammenhängt. Manche Ihrer Kollegen haben erwähnt, dass Sie in letzter Zeit sehr müde und abgelenkt wirken. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sich zu viel aufbürden.“

Wieder presste Mark die Lippen fest aufeinander, um nichts zu sagen, was er nicht zurücknehmen konnte. Obgleich Dr. Shriver zumindest in dieser Hinsicht recht hatte: In den letzten Wochen hatte Mark zu viele Überstunden gemacht und zu wenig geschlafen.

„Eine der Schwestern meinte, dass gestern, als der junge Brower in die Notaufnahme kam, nicht gerade Ihr bester Tag gewesen sei“, sagte er mit leicht vorwurfsvollem Unterton.

Sofort schoss Marks Kopf hoch. „Spielt sie etwa darauf an, dass ich zu seinem Tod beigetragen habe?“

„Nicht direkt, nein. Nur, dass Sie nicht in Bestform waren.“

Mark umklammerte fest seine Armlehne und kämpfte dagegen an, sich nicht verraten zu fühlen. Hatten sich jetzt etwa alle gegen ihn verschworen?

„Im Grunde kann Ihnen das Krankenhaus nicht vorschreiben, was Sie in Ihrer Freizeit tun, Dr. Henshaw. Es sei denn, es wirkt sich auf Ihre Leistung bei uns aus“, fuhr Dr. Shriver fort und legte die Stirn in Falten. „Deshalb fürchte ich, ich muss Sie dazu auffordern, wenigstens die Arbeit im Mütterheim aufzugeben.“

Jetzt verlor Mark endgültig die Fassung. „Andere Ärzte gehen auch anderen Tätigkeiten nach, manche haben sogar eigene Praxen! Stellen Sie die auch vor derlei Ultimaten?“

„Sobald ihre Arbeit darunter leidet, ja. Doch den meisten Ihrer Kollegen gelingt es sehr gut, ihre Praxisaufgaben mit ihren Krankenhausverpflichtungen zu vereinen. Bitte verzeihen Sie mir meine Direktheit, Dr. Henshaw, aber ich fürchte, Ihr Leben ist zurzeit etwas aus dem Gleichgewicht geraten.“

Unverwandt sah Dr. Shriver ihn an. „Im Krankenhaus gehört es einfach dazu, dass Sie nach den Regeln spielen. Wir erwarten Höchstleistungen.“

Als Mark in das steinerne Gesicht seines Gegenübers blickte, wusste er, dass jede Diskussion vergebens war. „Ich verstehe.“

„Ich gebe Ihnen eine Woche frei, damit Sie alles in die Wege leiten können. Oder um sich auszuruhen, das liegt bei Ihnen. Aber das sollte genug Zeit sein, um … sich über Ihre Prioritäten klar zu werden“, sagte Dr. Shriver und nahm einen Stift zur Hand. Damit war das Gespräch beendet.

Mark stand auf und nickte. „Ich habe verstanden.“

Völlig aufgewühlt verließ Mark das Büro in Richtung Treppenhaus. Schon länger hatte er das Gefühl gehabt, dass man seine Arbeit außerhalb des Krankenhauses nicht begrüßte. Es missfiel ihm sehr, dass die Klinik ihm in sein Privatleben hineinredete.

Grummelnd stieß Mark die Tür auf. Wie sollte er das nur Olivia und Ruth vom Mütterheim erklären? Und seinen Patienten im Armenviertel, die auf seine Hilfe angewiesen waren?

Sein Traum von einer eigenen Praxis, in der er jeden behandeln konnte, ohne Einmischung oder Verurteilung von außen, war inzwischen in weite Ferne gerückt. Er hatte kein Geld für solch eine Investition, nicht, wenn er in den nächsten Jahren für die Studiengebühren aufkommen musste. Erst wenn Josh sein Studium beendet hatte, konnten sie wieder darüber nachdenken.

Er hatte keine Wahl: Seine eigenen Träume mussten warten, Dr. Shrivers Anordnungen gingen vor.

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Nachdenklich stand Isabelle am Montag nach der Arbeit vor dem Kleiderschrank. Was trug man zu einem Picknick im Mai?

Natürlich durfte es nicht zu schick sein, schließlich würden sie auf einer Decke auf dem Boden sitzen. Schlicht musste es sein und so lang, dass es ihre Beine bedeckte. Letztlich entschied sie sich für ein blaues Kleid mit kleinen gelben Blüten und einer passenden Strickjacke, falls es etwas kühler würde.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer wappnete Isabelle sich für die vielen Fragen, die sicher gleich auf sie einprasseln würden.

Marissa schaute von ihrem Schulbuch auf. „Hübsch siehst du aus, Belle. Gehst du aus?“

„Ich treffe mich mit einem Freund aus dem Hotel zum Abendessen“, sagte sie und die eingeübten Worte kamen leichter über die Lippen als gedacht. Immerhin hatte sie nicht direkt gelogen – im Grunde war Elias ein Freund und im Hotel war sie ihm zuletzt begegnet.

„Wie schön“, sagte Tante Rosie, als sie vom Herd auf sie zukam. „Das hast du dir verdient, Isabelle. Wohin geht es denn?“

„Wir wollen picknicken“, erklärte sie, während sie etwas in ihrer Handtasche suchte, um den Blicken der beiden zu entgehen. Dann klappte sie sie zu und sagte: „Also, ich bin dann jetzt weg.“

„Viel Vergnügen“, wünschte Tante Rosie und winkte zur Verabschiedung mit dem hölzernen Kochlöffel.

Froh, dass Fiona um diese Zeit in der Regel noch nicht zu Hause war, verließ Isabelle das Haus. Sie hätte Isabelles Absichten bestimmt durchschaut.

Der zehnminütige Spaziergang zum Park vertrieb Isabelles übrige Sorgen, sodass sie deutlich entspannter war, als sie Elias erblickte. Er trug eine graue Hose und ein weißes Hemd. In der einen Hand hielt er einen Picknickkorb, in der anderen eine Decke.

„Gut sehen Sie aus“, sagte er und begrüßte sie lächelnd.

„Danke. Und Sie scheinen gut vorbereitet zu sein.“

„Das hoffe ich. Und das Wetter ist auch auf unserer Seite.“

Gemeinsam bogen sie in einen Pfad ein, der in den Park führte. An einem lauschigen Plätzchen stellte er den Korb ab, breitete die Decke aus und half Isabelle, Platz zu nehmen.

Es war ruhig genug, um sich gut zu unterhalten und doch nicht zu weit weg von anderen Spaziergängern.

„Ich habe uns etwas aus Schmidts Delikatessengeschäft mitgebracht“, erklärte er mit einem nervösen Lachen und packte mehrere Sandwiches, eine Flasche Limonade und Stoffservietten aus.

„Wie köstlich!“ Isabelle legte sich eine Serviette auf den Schoß und nahm eins der Sandwiches.

„Das ist mit Räucherschinken und Käse. Meine Lieblingssorte.“

„Die mag ich auch sehr gern.“

Einen Moment lang aßen sie in angenehmer Stille, dann erzählte Elias ihr von seiner Arbeit.

„Und wie geht es Ihrer Familie?“, erkundigte sich Isabelle, als sie die selbst gemachten Apfeltörtchen zum Nachtisch verspeiste. Sie erinnerte sich, dass er mit seiner verwitweten Mutter und seiner Schwester zusammenlebte.

„Sehr gut, danke der Nachfrage. Meine Mutter ist mit ihrer Wohltätigkeitsarbeit und ihren Aufgaben in der Kirche gut beschäftigt. Und meine Schwester Christina hat sich kürzlich verlobt. Sie hofft, noch vor Weihnachten heiraten zu können.“

„Wie schön“, erwiderte Isabelle höflich. Seine Mutter hatte Isabelle erst selten getroffen, meist in der Kirche oder auf einer Feier. Sie wirkte nett, wenn auch etwas reserviert.

„Wo wir gerade dabei sind“, sagte er und sah Isabelle tief in die Augen. „Ich hatte eigentlich gehofft, noch etwas warten zu können, aber jetzt, mit der Verlobung meiner Schwester, rennt mir die Zeit davon.“ Er nahm Isabelles Hand in die seine. „Isabelle, ich bewundere Sie schon seit Jahren. Und ich glaube, dass wir gut zueinanderpassen. Wir würden ein schönes Paar abgeben“, sagte er und holte einmal tief Luft. „Hoffentlich finden Sie das jetzt nicht schrecklich unangemessen, aber … ich würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie in Betracht ziehen könnten, mich zu heiraten.“

„Heiraten?“, wiederholte sie und blinzelte verblüfft.

„Ja“, sagte Elias mit ernstem Blick und rückte etwas näher. „Ich könnte Ihnen das Leben bieten, das Sie und Ihre Schwester gewohnt sind. Sie müssten nicht mehr arbeiten oder sich darum sorgen, wo Sie wohnen. Und auch Marissa könnte von unserem guten Namen profitieren. Ihre Zukunft wäre wieder gesichert.“

Bei dem Gedanken an ein Leben als Elias’ Ehefrau begann Isabelles Herz zu rasen. Elias Wheatherby war von Beruf Börsenmakler und ein sehr angesehener Mann in der Stadt. Mit ihm würde sie zu einem ähnlichen Lebensstil zurückkehren können wie vor dem Tod ihrer Eltern. Elias wäre der Versorger und sie die Frau an seiner Seite, die luxuriöse Feiern organisierte und ihn auf zahlreiche gesellschaftliche Anlässe begleitete. Außerdem könnte sie das Versprechen an ihre Mutter einhalten und ihre Wohltätigkeitsarbeit fortführen.

Das Allerbeste wäre jedoch der Vorteil für Marissa: Sie wäre nicht länger auf ein Stipendium angewiesen, um studieren zu können, und könnte tun, wonach ihr beliebte. All das ginge mit der Ehe mit Elias einher und hing somit von Isabelle ab – wie sollte sie da Nein sagen?

Vorsichtig hob sie den Blick in Elias’ erwartungsvolles Gesicht. Besonders schön war er nicht, aber freundlich. Und obwohl er ein ganzes Stück älter war als Isabelle, hatte ihr Vater die beiden auch immer für ein gutes Paar gehalten. Andererseits hegte sie keine romantischen Gefühle für ihn, nicht so wie für Roger. Aber sie mochte Elias. Das wäre doch ein guter Anfang für eine Ehe, oder? Aus Zuneigung konnte Liebe erwachsen, nicht wahr?

„I-ich, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Elias. Das kam jetzt sehr überraschend.“

„Sie müssen sich auch nicht sofort entscheiden. Aber bitte versprechen Sie mir, darüber nachzudenken“, sagte er und hob mit hoffnungsvollem Blick ihre Hand an seine Lippen.

„Ich werde wohl kaum mehr über etwas anderes nachdenken können.“

„Sind ein paar Tage Bedenkzeit genug?“, fragte er abwägend.

„Ja, ich glaube schon“, erwiderte Isabelle. Sie griff nach ihrer Handtasche und stand auf.

Schnell sprang auch er auf die Beine. „Bitte erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu fahren.“

„Hm, ehrlich gesagt würde ich gern laufen. Sie haben mir einiges zu bedenken gegeben.“

„Natürlich, das verstehe ich“, erwiderte er und verbeugte sich kurz, ganz der Gentleman. „Ich warte auf Ihre Nachricht. Aber bitte lassen Sie mich nicht zu lange im Ungewissen.“ Er lächelte, doch seine Augen verrieten seine Unsicherheit.

„Bestimmt nicht. Und vielen Dank für das schöne Picknick“, entgegnete sie mit einem Lächeln, bevor sie sich umdrehte und ging.

Ihre Hände zitterten und ihr schwirrte der Kopf.

Sollte sie Elias heiraten, müsste sie nie wieder Bäder putzen oder sich mit mürrischen Hotelgästen herumschlagen. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen, wenn sie über das Für und Wider seines Antrags nachdachte.