Kapitel 16

Missmutig trat Mark die Eingangsstufen von Bennington Place empor und fühlte sich wie auf dem Weg zum Galgen. In der Hoffnung, dass sich die meisten der Frauen um diese Zeit bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, hatte er bewusst bis nach dem Abendessen gewartet. Nachdem Josh zum Chor aufgebrochen war und es keine andere Ausrede mehr gab, hatte er angerufen und um einen kurzen Besuch gebeten.

Im Hinblick auf das Gespräch bekam er vorhin kaum einen Bissen herunter. Es graute ihm davor, den beiden Direktorinnen von den Neuigkeiten zu berichten. Er wollte sie nicht im Stich lassen. Ruth Bennington war eine seiner Privatpatientinnen und mit ihrem guten Ruf in der Stadt hatte sie ihm schon so manche Tür geöffnet. Trotzdem musste er sie nun auf sich allein gestellt zurücklassen. Wäre ein anderer Arzt bereit, seine Arbeit für das Mütterheim zu übernehmen?

Die Tür öffnete sich. „Hallo, Mark“, grüßte Ruth ihn mit einem verhaltenen Lächeln. „Komm herein.“ An ihrem Blick erkannte er, dass sie bereits etwas ahnte.

„Danke, dass ich so spontan vorbeikommen darf.“

„Mir macht das nichts aus, ich wohne ja hier. Und zum Glück hatte Olivias Mann heute Abend nichts vor und kümmert sich um die Kinder“, sagte sie und führte ihn den langen Korridor entlang. „Ich dachte, wir setzen uns in den Wintergarten. Da haben wir etwas mehr Platz als im Büro.“

„Gut.“ Noch nie war Ruth ihm so förmlich begegnet.

Olivia saß bereits auf dem Korbsofa. Der beginnende Sonnenuntergang tauchte das Zimmer in ein warmes Orange.

„Hallo“, grüßte sie mit einem zaghaften Lächeln.

Er nickte bloß, zu überwältigt von seinen Gefühlen, um zu sprechen, und setzte sich ihr gegenüber. Ruth gesellte sich zu Olivia auf das Sofa.

„Verschwenden wir keine Zeit mit dem Austausch von Höflichkeiten. Ich kann spüren, dass es dir um etwas Ernstes geht“, sagte Ruth.

Beunruhigt wanderte Marks Blick von ihrem erhabenen zu Olivias besorgtem Gesicht. „Leider hast du recht“, begann er und erzählte den beiden in Kürze von dem Ultimatum seines Chefs.

„Oh, Mark. Das tut mir so leid“, zeigte sich Olivia besonders bedrückt. „Ich habe so oft befürchtet, dass sich deine Arbeit für uns negativ auf dich auswirken könnte. Und jetzt ist es tatsächlich so gekommen.“

„Und was ist mit deinen Privatpatienten?“, fragte Ruth. „Musst du die auch aufgeben?“

„Das hat Dr. Shriver nicht gesagt. Die meisten Ärzte in der Klinik haben auch eigene Praxen und behandeln andere Patienten. Aber er hat erwähnt, dass ein paar meiner Kollegen meine Arbeit im Armenviertel missfällt.“

Olivia runzelte die Stirn. „Dabei ist gerade das, die Hilfe für die Bedürftigen, dir doch so ein großes Anliegen. Was hast du nun vor?“

„Ich weiß es noch nicht“, sagte er, stand auf und ging mit den Händen in den Hosentaschen im Raum auf und ab. „Wenn ich nicht so auf das Krankenhaus angewiesen wäre, würde ich einfach kündigen und meine eigene Praxis eröffnen. Aber das geht nicht. Nicht, bis Josh mit seinem Studium fertig ist. Um seine Gebühren bezahlen zu können, brauche ich das sichere Klinikgehalt.“

„Wo würdest du deine Praxis denn gern eröffnen?“, fragte Ruth. Bei dem veränderten Tonfall merkte Mark auf und drehte sich zu ihr um.

„Am liebsten in der Nähe des Armenviertels, damit meine bisherigen Patienten sich nicht unwohl fühlen.“

„Aber wäre das nicht ungeschickt für andere Menschen, die sich nicht so gern in diesen Stadtteil begeben wollen?“, fragte Olivia.

„Im Idealfall würde die Praxis am Stadtrand liegen, das wäre für alle am besten. Und für meine wohlhabenderen Patienten kann ich ja weiterhin Hausbesuche anbieten.“

„Ja, das wäre wahrlich ein Geschenk des Himmels“, erwiderte Ruth und sah, dass sie nachdachte. „Und was würdest du sagen, wenn ich einen Geldgeber wüsste, der dich bei dieser Unternehmung unterstützt?“

Überrascht blickte Mark sie an. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Hast du denn jemanden im Sinn?“

„Das möchte ich jetzt noch nicht sagen. Ich werde morgen mal etwas telefonieren und sehen, was sich tun lässt“, sagte sie und warf ihm einen bedeutungsschweren Blick zu. „Und du hältst in der Zwischenzeit nach einer passenden Immobilie Ausschau.“

Marks Gedanken überschlugen sich. Geschah das hier gerade wirklich?

„Und bis wir mehr wissen, kannst du deinen Chef im Krankenhaus beruhigen. Ich nehme deine vorübergehende Kündigung an“, sagte sie mit einem Zwinkern.

Ungläubig schüttelte Mark den Kopf. „Mir fehlen die Worte.“

Freudestrahlend faltete Olivia die Hände und stand auf. „Oh, Mark. Ich weiß, dass du schon so lange von einer eigenen Praxis träumst. So wird dein Traum vielleicht wahr.“

„Ja, vielleicht“, erwiderte er lächelnd. Was sich zuletzt wie ein sehr vager Zukunftstraum angefühlt hatte, war plötzlich wieder in greifbare Nähe gerückt. „Ich melde mich, sobald ich geeignete Räume gefunden habe. Und ich bin gespannt, ob du tatsächlich einen Geldgeber findest“, sagte er dankbar. „Danke euch beiden. Mir war vorhin so unwohl zumute – aber dank euch darf ich wieder hoffen.“

„Es war mir eine Freude. Du weißt doch, wie gern ich andere davon überzeuge, ihr Geld auszugeben“, sagte Ruth und zwinkerte erneut.

In einem Zustand freudiger Fassungslosigkeit verließ Mark das Mütterheim. Das Gespräch war vollkommen anders verlaufen als erwartet: Statt eines schlechten Gewissens hatte er nun ein neues Ziel vor Augen.

Er konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und Josh davon zu erzählen.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr stieg er in den Wagen. Die Chorprobe sollte bereits vorüber sein, das heißt Josh wäre schon wieder zu Hause. Hoffentlich freute er sich genauso über die Planänderung wie Mark.

Das Haus kam ihm ungewöhnlich still vor. Merkwürdig, dass in der Küche kein Licht brannte. Eigentlich ließ Josh es immer an – er war nicht gern allein im dunklen Haus.

Als Mark den Lichtschalter betätigte und sich umsah, wirkte die Küche seltsam sauber. Keine Spur von dreckigem Geschirr oder liegen gebliebenen Brotkrümeln auf der Küchenzeile. Dabei gönnte sich Josh für gewöhnlich immer zuerst einen kleinen Happen, wenn er nach Hause kam.

Auf dem Weg nach oben überkam Mark ein ungutes Gefühl. Joshs Zimmertür war geschlossen, er klopfte zweimal. „Josh, bist du da?“

Keine Antwort. Mark öffnete die Tür und schaltete das Licht ein.

Ebenso leer wie die Küche. Langsam wanderte Marks Blick durch das Zimmer – als er die Gitarrentasche in einer Ecke sah, begann sein Herz zu rasen.

Die Gitarre! Niemals ging Josh zur Probe ohne seine Gitarre.

Irgendetwas stimmte hier nicht!

All die Euphorie über seine guten Neuigkeiten löste sich in Luft auf. Ohne weiter darüber nachzudenken, stürmte Mark zurück zum Wagen und fuhr auf direktem Weg zur Kirche. Mit etwas Glück war Josh dort und unterhielt sich bloß noch etwas mit seinen Freunden aus dem Chor. Sicher gäbe es eine absolut unschuldige Erklärung dafür.

Erleichtert stellte Mark an der Kirche fest, dass die Tür nicht verschlossen war, und als er einige Stimmen hörte, atmete er laut aus. Sie waren noch da. Alles war in Ordnung.

Eilig stieg er hinab in den Probenraum. Als Erstes sah er den Chorleiter, der sich mit einigen der Jugendlichen unterhielt. Josh entdeckte er allerdings nicht unter ihnen.

Mr Henchley nahm Marks Schritte wahr und drehte sich zu ihm um. „Oh, Dr. Henshaw. Wie gut, dass Sie hier sind. Ich hatte vorhin ein paar Mal bei Ihnen angerufen, Sie aber nicht erreicht. Ist alles in Ordnung mit Josh?“

Beinahe blieb Mark das Herz stehen. „Was soll das heißen? Ist Josh etwa nicht hier?“

„Nein, er ist heute nicht zur Probe gekommen. Deshalb habe ich Sie angerufen. Doch als niemand ans Telefon ging, konnte ich nur hoffen, dass es irgendeine simple Erklärung gibt.“

„Das heißt, Sie haben Josh heute weder gesehen noch gehört?“, hakte Mark noch einmal nach.

„Nein, leider nicht.“

Mit einem Mal hatte Mark wieder das Bild des verwundeten Jungen in der Notaufnahme vor Augen und musste sich mit einer Hand an der Wand festhalten. Wo um alles auf der Welt steckte Josh?

„Ich bin eben erst nach Hause gekommen und als Josh nicht da war, habe ich angenommen, dass er noch hier sei. Mir ist völlig schleierhaft, wo er sonst sein könnte“, räumte Mark ein, hielt die Hände vors Gesicht und holte tief Luft.

„Machen wir uns besser keine zu großen Sorgen. Junge Männer brauchen manchmal einfach einen Ort, um etwas Dampf abzulassen.“

Was sollte das heißen? Mark hatte noch nie das Bedürfnis gehabt, Dampf abzulassen. Unruhig raufte sich Mark die Haare. So viel zum Thema Freiraum lassen. Da reichte er Josh den kleinen Finger und er schnappte sich gleich die ganze Hand?

„Vielleicht sind er und Marissa ja zusammen durchgebrannt“, scherzte eines der Mädchen.

Ein anderer Junge schnaubte. „Ja, genau, davon träumt er vielleicht.“

„Na ja, es ist ja offensichtlich, dass er sich in Marissa verguckt hat.“

Ein weiteres Mädchen kicherte.

Mark konnte kaum glauben, was er da hörte. Nicht nur Josh hatte heute gefehlt, sondern … „Marissa war auch nicht hier?“

„Nein“, erwiderte Mr Henchley mit finsterer Miene. „Und da sie erst kürzlich umgezogen ist, weiß ich leider nicht, wie ich ihre Schwester erreichen kann.“

Mit Mühe unterdrückte Mark ein Stöhnen. Isabelle war sicher außer sich vor Sorge! Es sei denn, Marissa wäre einfach zu Hause geblieben. So oder so, Mark musste dem Ganzen auf den Grund gehen. Falls Marissa tatsächlich zu Hause war, wüsste sie ja vielleicht, wo Josh steckte.

„Danke für Ihre Zeit, Mr Henchley. Bitte entschuldigen Sie die Umstände.“

„Viel Glück bei der Suche.“

Seine Worte hallten in Marks Ohren nach. O Herr. Bitte, zeig mir, wo ich nach ihnen suchen soll, und sei du bei ihnen, bis ich sie gefunden habe.