Eiskalt lief es Mark den Rücken herunter. „Ein Heiratsantrag?“, würgte er nur hervor.
Isabelle nickte und einen Moment lang hatte er den Eindruck, sie würde nicht weitersprechen. Dann seufzte sie. „Letzte Woche bin ich Elias, einem alten Bekannten, im Hotel über den Weg gelaufen. Er hat mich vor einer sehr unangenehmen Situation mit einem Hotelgast bewahrt“, sagte sie und zog dabei die Brauen zusammen. „Und als er mich kurz darauf zum Essen eingeladen hat, konnte ich einfach nicht Nein sagen. Das war ich ihm schuldig.“
Mark erstarrte. Was für eine unangenehme Situation mochte das gewesen sein? „Ich verstehe, und dann?“
„Nun ja, nach dem Essen hat er davon gesprochen, wie gut wir zusammenpassen würden und mir plötzlich einen Antrag gemacht. Das kam mehr als überraschend.“
Mit einem Mal kam es Mark im Wagen ausgesprochen heiß vor. Er kurbelte das Fenster einen Spaltbreit herunter und ließ einen Moment verstreichen, bevor er fragte: „Und, hast du geantwortet?“
„Nein. Ich habe ihn um etwas Bedenkzeit gebeten.“
Das war wenigstens etwas. Aber am liebsten wäre ihm natürlich gewesen, Isabelle hätte diesen anderen Mann direkt abgewiesen.
„Willst du mir gar keinen Rat geben?“, fragte Isabelle und sah ihn verwundert von der Seite an.
„Da ich weder den Mann kenne noch weiß, wie du zu ihm stehst, bin ich nicht gerade der beste Ratgeber, fürchte ich.“
„Hm, da hast du recht“, sagte sie mit einem erneuten Seufzen. „Aber Elias zu heiraten, würde gleich mehrere Probleme lösen.“
„Nicht gerade der beste Grund für eine Ehe“, erwiderte Mark und bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte.
„Ich wäre nicht die erste, die aus Vernunft heiratet“, entgegnete Isabelle selbstsicher. „Elias würde Marissa die Sicherheit bieten, die sie gerade so dringend braucht.“
„Das stimmt, aber was ist mit dir?“, fragte Mark und umklammerte das Lenkrad noch fester. „Auf keinen Fall solltest du deine eigenen Träume aufgeben, nur um Marissa das Leben einfacher zu machen.“ Die Ironie dieser Worte traf Mark tief im Innern. Tat er nicht gerade genau das Gleiche für Josh?
„Gedanken an mich kann ich mir nicht leisten, Mark“, sagte Isabelle leise. „Ich muss tun, was für Marissa gut ist.“
So gern er ihr auch weiter widersprechen wollte, ihm fehlten die Argumente. Würde Mark in ihrer Situation nicht genauso reagieren?
„Aber bitte versprich mir, nichts zu überstürzen, Isabelle. Denk gut nach, bevor du eine Entscheidung triffst. Und bitte Gott um Weisheit und Führung.“
„Das tue ich. Noch nie zuvor habe ich so viel und so intensiv für etwas gebetet.“
Ein Stück vor ihnen kam das vertraute Anwesen der Wardrops in Sicht und Mark bog in die Einfahrt. Das Zum Verkauf-Schild auf der Wiese stach sofort ins Auge.
Überrascht sog Isabelle die Luft ein.
Wie fürchterlich musste es sich anfühlen, vor seinem Elternhaus von solch einem Schild begrüßt zu werden? Nur eines der Außenlichter leuchtete, der Rest des Hauses lag in völliger Dunkelheit.
„Am besten sehen wir gleich hinten im Garten nach“, sagte Isabelle. „Wenn sie hier sein sollten, dann sicher dort.“
„Besser du gehst vor“, erwiderte Mark und reichte ihr die Taschenlampe. Von seinen Arztbesuchen kannte er bloß das Hausinnere.
Durch ein Eisentor kamen sie in einen Hinterhof. Von dort führte ein schmaler Weg zu einer großen überdachten Terrasse mit Blick auf einen prachtvoll blühenden Garten. Im hinteren Bereich lag ein Schwimmbecken unberührt da.
Von Josh und Marissa fehlte jede Spur.
Entschieden ging Isabelle weiter und leuchtete mit der Taschenlampe zuerst die Terrasse ab, dann das Schwimmbecken. Plötzlich hielt sie inne.
Mark folgte ihrem Blick zu einem Gebäude hinter dem Becken, das wie ein ziemlich großes Gartenhäuschen aussah. Unterhalb des Türschlitzes fiel ein kleiner Lichtstrahl hindurch.
Sie dachte doch nicht etwa, dass …
Noch bevor Mark ein Wort sagen konnte, marschierte Isabelle so zielsicher auf das Häuschen zu, sodass er kaum hinterherkam.
Sie zögerte nicht eine Sekunde, sondern riss die Tür auf und marschierte geradewegs hinein.
„Isabelle, warte!“, rief Mark. Was, wenn sich ein Landstreicher dorthin verirrt hatte?
Isabelle schrie auf und Mark eilte ihr hinterher.
Vor ihnen lagen Josh und Marissa eng umschlungen auf einem Liegestuhl, die Augen geschlossen. Vermutlich schliefen sie.
„Marissa Wardrop. Steh sofort auf!”, befahl Isabelle, während sie ihre Schwester an der Schulter wachrüttelte. Ihr fester Griff unterstrich ihre Worte.
Erschrocken flogen Marissas Augen auf und sie starrte Isabelle an.
Verblüfft sprang Josh auf die Beine und fuhr sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. „Mark! Was machst du denn hier?“
Hitze stieg Mark ins Gesicht. „Was ich hier mache? Die Frage ist viel eher, was um alles auf der Welt ihr hier zu suchen habt?“ Sein Blick wanderte zu Marissa. Auch ihr Haar war zerzaust, ihre Haut gerötet. Hatte sie geweint?
Marks Gedanken rasten und er versuchte vergeblich, das Ganze in einen logischen Zusammenhang zu bringen, die einzelnen Puzzleteile zu einer Geschichte zusammenzufügen. Doch er konnte bloß daran denken, in was für eine verzwickte Lage Josh Marissa gebracht hatte. Das hier war genau das, was er gelobt hatte, nicht zu tun. Gott sei Dank waren die beiden wenigstens voll bekleidet.
„Raus hier, und zwar auf der Stelle“, forderte Mark.
Mit gequältem Blick sah Josh zu Marissa.
„Sofort!“, wiederholte Mark noch lauter.
Wütend schob Josh sich an ihm vorbei nach draußen. Er ging ein paar Schritte über die Wiese, bis er mit verschränkten Armen stehen blieb.
Auch in Mark kochte die Wut. Er atmete mehrmals tief durch, um seine Gefühle im Zaun zu halten und nichts zu sagen, was er nicht mehr zurücknehmen konnte. Als er sich schließlich einigermaßen gefangen hatte, trat er neben seinen Bruder. „Ich hätte gern eine Erklärung.“
In Joshs Blick lag Verachtung. „Wozu denn? Dein Urteil hast du doch schon längst gefällt. Dir ist doch egal, was ich sage.“
Eine Mischung aus Erleichterung und Wut ließ Isabelle am ganzen Körper zittern. Sie war froh, dass Marissa wohlauf war, ärgerte sich aber, dass sie sich mit Josh in der Gartenhütte versteckt hatte. So, wie sie die beiden gefunden hatte, malte sich Isabelle das Schlimmste aus.
„Was ist bloß in dich gefahren, Marissa? Kannst du dir nicht vorstellen, was für Sorgen ich mir gemacht habe, als du nicht nach Hause gekommen bist? Und dass ich dich ausgerechnet hier finde, und dann noch mit einem Jungen!“, sagte sie und warf die Hände empört in die Höhe. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
Marissa stand auf und strich ihre Kleidung glatt. „Josh hat bloß versucht, mir mit einem Problem zu helfen. Und dann sind wir wohl eingeschlafen.“
„O ja, ich kann mir schon vorstellen, wie er dir geholfen hat“, sagte Isabelle und zeigte auf die zerknautschten Kissen auf der Liege. „Hast du denn gar keine Selbstachtung? Oder ist dir dein Ruf jetzt völlig egal?“
Sofort errötete Marissa. „Es ist nicht, wonach es aussieht! Josh ist der liebevollste und fürsorglichste –“
„Das will ich alles nicht hören. Wenn er auch nur einen Funken Anstand hätte, hätte er dich nach Hause gebracht“, unterbrach Isabelle sie und spürte, wie die Wut in ihr Überhand gewann. „Und jetzt komm.“
Obgleich Marissa erst so aussah, als wollte sie weiter diskutieren, verkniff sie sich jeden weiteren Kommentar und marschierte stur nach draußen.
Der Himmel über ihnen war aufgeklart und der Garten erstrahlte im sanften Mondlicht. Marissa war schon beinahe am Gartentor angekommen und ließ Mark und Josh, die sich wütend anschwiegen, völlig unbeachtet. Nur zu gut konnte Isabelle sich vorstellen, was Mark seinem Bruder aus lauter Entsetzen an den Kopf geworfen haben musste.
„Mark, würdest du uns bitte nach Hause fahren?“, fragte sie leise.
Wortlos nickte er und zeigte in Richtung Wagen. Ebenso schweigend setzte Josh sich in Bewegung.
Nachdenklich strich sich Mark über den Bart. „Das alles tut mir schrecklich leid, Isabelle. Niemals hätte ich Josh so etwas zugetraut.“
Sein Empören über Joshs Verhalten zeugte davon, was für ein anständiger Mensch er war. Isabelle kannte ihn als Mann mit Prinzipien, der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit schätzte. Seinen Bruder in solch einer Situation gefunden zu haben, war sicher alles andere als einfach für ihn.
„Dazu gehören immer noch zwei“, sagte sie. „Aber anscheinend haben wir sie gerade noch rechtzeitig gefunden.“
„Das hoffe ich doch“, sagte er und sein Kiefer zuckte. „Aber eins steht fest: Ich werde Josh nicht ungestraft davonkommen lassen. Ein solches Verhalten schreit geradezu nach Schwierigkeiten. Er soll auf jeden Fall verstehen, dass so etwas nie wieder vorkommen darf.“
Isabelle nickte. „Ja, das werde ich auch Marissa klarmachen.“ Dass sie und Mark sich in der Hinsicht einig waren, erleichterte Isabelle.
Schweigend fuhren sie nach Hause und Isabelle entschied, dass es für weitere Diskussionen bereits zu spät war, da die Gemüter ohnehin viel zu aufgeheizt waren.
Vielleicht sähe die Welt morgen schon ganz anders aus.