Ganz entgegen ihrer Hoffnung war Marissa am nächsten Morgen missmutiger als jemals zuvor und zeigte nicht einen Hauch von Reue, dass sie Isabelle solche Sorgen bereitet hatte.
„Ich will nicht darüber reden“, war ihre einzige Reaktion, als Isabelle das Gespräch suchte.
„Ob du willst oder nicht – wir werden darüber reden“, verkündete Isabelle, während sie ihre Bluse zuknöpfte. „Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was los war. Als dein Vormund bin ich verantwortlich für dich.“
„Aber nur bis zu meinem achtzehnten Geburtstag. Und das ist nicht mehr lange“, erwiderte Marissa barsch und flocht ihre Haare zu einem Zopf. Sie war so grimmig, dass sie Isabelle nicht einmal ansah.
Womit hatte sie das verdient? Nicht sie war diejenige, die einen Fehler begangen hatte. Wie gelang es Marissa nur, dass nun aber Isabelle sich wie eine Schwerverbrecherin fühlte?
„Wenn das deine Antwort ist, lässt du mir keine andere Wahl: Ab sofort hast du Hausarrest. Außer als zur Schule darfst du die Wohnung nicht mehr verlassen. Schluss mit Freunden und dem Chor.“
Ungläubig drehte Marissa sich zu ihr um. „Das kann nicht dein Ernst sein!“
„O doch. Das ist mein voller Ernst“, entgegnete Isabelle entschieden. Sie atmete langsam aus, um sich zu beruhigen, vergeblich. „Ich will nur dein Bestes, Marissa. Es sind nur noch wenige Wochen bis zu den Abschlussprüfungen. Ich lasse nicht zu, dass du deine Zukunft wegwirfst – und schon gar nicht für einen Jungen.“
Kurz füllten sich Marissas bernsteinfarbene Augen mit Tränen, doch schon im nächsten Augenblick kam wieder die Rebellin in ihr hervor. „Niemals hätte ich damit gerechnet, dass meine Schwester zur Diktatorin wird“, bellte sie und stürmte mit ihrer Schultasche aus dem Zimmer.
Sofort bereute Isabelle ihre Worte. Das hatte sie nicht gerade taktvoll gelöst. Die Verzweiflung machte sie manchmal sehr hart.
Mit einem erschöpften Seufzen ließ sie sich wieder auf das Bett sinken. Gott sei Dank hatte sie heute frei. Bei all den Sorgen und Gedanken in ihrem Kopf wäre es ihr ohnehin kaum möglich gewesen, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren.
Und Elias erwartete auch noch eine Antwort von ihr. Das ganze Chaos um Marissa hatte Isabelle wieder neu gezeigt, wie sehr ihre Schwester sie brauchte. An sich selbst zu denken, konnte sie sich im Moment wirklich nicht erlauben. Sie konnte Marissa eine gute Zukunft schenken – nur ein Narr würde diese Gelegenheit verstreichen lassen.
Am Mittwochnachmittag wartete Isabelle vor dem Bistro auf Elias. Sie war so nervös, dass sie kaum Luft bekam.
Das hier war doch das Richtige, oder?
„Isabelle, meine Liebe. Ich hoffe, Sie warten noch nicht lange“, grüßte sie Elias und nahm den Hut vom Kopf.
„Überhaupt nicht. Ich bin gerade erst gekommen.“
„Sehr gut.“ Er führte sie zu dem gleichen Tisch wie beim letzten Mal nur wenige Tage zuvor. Einen Augenblick später kam auch schon die Kellnerin. „Einen Kaffee für Sie, Isabelle? Oder lieber Tee?“
„Nur ein Glas Wasser, bitte.“
Elias bestellte sich einen Kaffee.
Mit einem nachdenklichen Blick kam er direkt auf den Punkt. „Haben Sie schon eine Antwort für mich?“
Tief holte Isabelle Luft, dann sah sie Elias direkt an. Ihre Entscheidung war gefallen und das würde sie ihn ohne Umschweife wissen lassen. „Ja, ich habe mich entschieden.“
„Dann spannen Sie mich bitte nicht noch länger auf die Folter“, erwiderte Elias mit so hoffnungsvollem Blick, dass Isabelle nur umso unruhiger wurde.
Gerade in diesem Moment brachte die Kellnerin ihre Getränke.
Elias bedankte sich kurz und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf Isabelle. Erwartungsvoll zog er eine Braue in die Höhe.
Schnell nahm Isabelle einen Schluck Wasser, räusperte sich und setzte ein Lächeln auf. „Ich habe lange nachgedacht und ja, ich möchte Ihre Frau werden.“
Sein Gesicht erhellte sich. „Oh, Isabelle. Das ist ja großartig!“, erwiderte Elias und griff nach ihrer Hand. „Das hätte ich nicht zu hoffen gewagt. Sie machen mich so glücklich – oder vielleicht sagen wir jetzt Du?“
„Ja, gern“, erwiderte sie und lächelte so lange, bis ihre Wangen schmerzten.
„Und wann wollen wir heiraten?“, fragte er, während er ihren Handrücken mit seinem Daumen massierte.
Auch darüber hatte Isabelle schon nachgedacht. „Ende Juni beendet meine Schwester Marissa die Schule. Wie wäre Anfang Juli?“
„Wunderbar“, willigte er freudestrahlend ein. „Die Details überlasse ich gern dir. Aber meine Mutter wird dir sicher helfen wollen.“
Mrs Wheatherby. Eine recht einschüchternde, verwitwete Mittfünfzigerin. Was dachte sie wohl darüber, dass ihr Sohn sie heiratete? „Wird sie ihr Einverständnis zu unserer Hochzeit geben – nach dem Skandal um meinen Vater, meine ich.“
„Natürlich! Niemand kann etwas für die Fehler seiner Eltern“, sagte er, ohne ihren Blick zu erwidern und nahm stattdessen einen Schluck Kaffee.
Wahrscheinlich war Mrs Wheatherby weniger nachsichtig als er. Wie dem auch sei. Auch dieses Problem ließe sich lösen … mit ein bisschen Zeit.
„Nun, ich nehme ihre Hilfe natürlich gern an“, erwiderte Isabelle. Es war wichtig, ihre künftige Schwiegermutter für sich zu gewinnen und eine gute Beziehung aufzubauen.
Doch was Isabelle noch mehr interessierte, war allein Marissas Zukunft. Und wenn die Ehe mit Elias dazu beitrug, ihre Schwester wieder auf Kurs zu bringen, nähme sie dafür alles in Kauf.
Mit unruhigem Herzen klopfte Mark am Mittwochabend an Rosies Wohnungstür. Wie war Isabelle heute auf ihn zu sprechen? Hatte er nun, nach Joshs und Marissas Tollheit, ihre Freundschaft wieder verloren?
„Guten Abend, Dr. Henshaw“, grüßte ihn Mrs O`Grady. „Kommen Sie doch herein.“
„Vielen Dank.“
„Ich nehme an, Sie wollen zu Isabelle“, sagte sie, als sie ihn ins Wohnzimmer führte.
„Ja, das stimmt. Ist sie denn da?“
Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür und wenige Momente später trat Isabelle herein. „Mark. Das ist aber eine Überraschung.“ Sie trug heute eine rosa Bluse und einen blauen Rock und sah wie immer bezaubernd aus. Eine Klammer hielt das blonde Haar aus dem Gesicht, das sonst in großen Wellen über die Schultern fiel. „Tante Rosie, könnten wir vielleicht eine Tasse Tee haben? Aber nur, wenn es keine zu großen Umstände macht.“
„Wann hat eine Tasse Tee jemals Umstände bereitet?“, erwiderte Rosie mit einem Lachen. Und während sie Wasser aufsetzte, nahmen Isabelle und Mark auf den Sesseln Platz.
„Ich bin hier, um mich für meinen Bruder zu entschuldigen“, sagte er etwas leiser, falls Marissa sich im Nebenzimmer befand. „Und um zu fragen, wie es euch geht. Ich hoffe, Josh hat Marissa keinen zu großen Kummer bereitet.“ Noch immer hatte Mark keine Ahnung, warum das Mädchen geweint hatte, aber er betete inniglich, dass es nichts mit seinem Bruder zu tun hatte.
Mitfühlend sah Isabelle ihn an. „Eine Entschuldigung ist nicht nötig. Du kannst ja nichts für sein Verhalten.“
„Na ja, als sein Vormund fühle ich mich trotzdem verantwortlich.“ Wieder senkte Mark die Stimme, als er fragte: „Hast du schon etwas mehr über gestern Abend herausfinden können?“
Kurz warf Isabelle einen Blick in den Flur, dann beugte sie sich ein Stück zu ihm vor. „Nicht ein Wort. Marissa möchte nicht darüber reden. Aber sie ist sehr übel gelaunt und schnell reizbar. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit ihr los ist.“
„Mit Josh geht es mir leider genauso“, entgegnete Mark mit gerunzelter Stirn. „Ich hatte gehofft, dass Marissa vielleicht mehr erzählt hat.“
„Leider nein.“ Sie seufzte. „Und ich fürchte, heute Morgen habe ich die Geduld mit ihr verloren. Sie steht jetzt unter Hausarrest, außer zur Schule darf sie das Haus nicht verlassen.“
Mark nickte. „Das ist gut. So können sich die beiden bei der Probe nicht mehr sehen. Auch wenn ich es nicht für undenkbar halte, dass Josh sie wieder an der Schule besucht“, gestand er mit einem Kopfschütteln.
Mit der Teekanne in der Hand kam Rosie auf sie zu. „Hast du dem Doktor schon von deinen Neuigkeiten erzählt?“, fragte sie Isabelle und sah sie bedeutungsschwer an. Als Mark den Blick bemerkte, begann sein Herz unruhig zu schlagen.
Isabelle errötete. „Das wollte ich gerade“, erwiderte sie, während sie konzentriert dabei zusah, wie Rosie ihnen Tee einschenkte. Erst danach sah sie ihn an. „Ich habe Elias’ Antrag angenommen. Wir werden gleich nach Schuljahresende heiraten.“
Heiraten. Mark hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nein! Nicht jetzt, wo ihre Freundschaft sich so gut entwickelte.
„Und bis dahin hat Elias uns seinen Fahrer angeboten“, sprach Isabelle schnell weiter, der offensichtlich ebenso unwohl zumute war. „Marissa ist also auch auf dem Weg zur Schule und zurück unter Aufsicht.“
In dem vergeblichen Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen, musste Mark mehrmals schlucken. „Ich verstehe“, erwiderte er. Die Höflichkeit verlangte es, dass er ihr gratulierte, doch das brachte er nicht übers Herz. Zumindest nicht sofort. „Hast du Elias von dem Vorfall im Gartenhaus erzählt?“
„Nicht direkt, nein. Ich habe nur erwähnt, dass ich Marissa davon abhalten möchte, so kurz vor Ende der Schulzeit auf dumme Gedanken zu kommen, und dass ich seine Hilfe dabei sehr zu schätzen weiß.“
Mark nickte, für alles andere fehlten ihm die Worte. Eigentlich sollte er erleichtert sein, dass damit auch Josh außer Gefahr war – doch die Hintergründe für diesen Fahrer gefielen ihm überhaupt nicht. Er nahm einen großen Schluck seines Tees, dann stellte er die Tasse wieder auf das Tablett. „Nun gut, ich sollte jetzt besser gehen. Vielen Dank für den Tee.“
Isabelle begleitete ihn zur Tür. „Danke für den Besuch, Mark. Ich hoffe, dass Josh und Marissa jetzt außer Gefahr sind.“ Kurz zögerte sie und einen Moment lang sah er den Ausdruck von Bedauern in ihrem Gesicht. „Und vielen herzlichen Dank für alles, das du für uns getan hast. Ich wünsche dir und Josh nur das Beste.“
Schlagartig wurde Mark klar, dass das hier womöglich ein Abschied war. Nun, da sich das Problem zwischen ihren Geschwistern geklärt zu haben schien, sah er Isabelle vielleicht zum letzten Mal. Mit einem letzten langen Blick versuchte er sich ihr Gesicht einzuprägen: das lebhafte Blau ihrer Augen, den rosigen Hautton, die zarten Wangenknochen.
„Das wünsche ich euch auch. Nichts weniger hast du verdient“, sagte er und versuchte dabei vergebens zu lächeln. „Hoffentlich weiß Elias, was für ein Glückspilz er ist.“
Auch Isabelle war gerührt. „Pass gut auf dich auf.“
„Du auch. Und mein Angebot steht weiterhin: Wenn du mich brauchst, bin ich nur einen Anruf entfernt.“