Kapitel 21

Als Isabelle wieder in die Wohnung kam, wich sie Rosies fragendem Blick aus und setzte sich aufs Sofa. Ihre Beine zitterten und das Blut rauschte in ihren Ohren. Bevor sie Marissa konfrontierte, brauchte sie einen Moment, um wieder klar denken zu können.

Jetzt gerade würde nur eine wütende Schimpftirade aus ihr rauskommen. Wie konnte Marissa nur so verantwortungslos gewesen sein? Was fiel ihr ein, ihr Leben einfach so wegzuwerfen? Doch derlei Vorwürfe würden das Ganze nur verschlimmern. Vielmehr brauchte Marissa jetzt Isabelles Unterstützung und ihr Verständnis, um diese schwierige Phase durchzustehen.

„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, holte Rosies leise Stimme Isabelle aus den Gedanken. „Was hat Dr. Henshaw denn gesagt?“

Isabelle biss sich auf die Lippe. Rosie einzuweihen, war nicht ihre Aufgabe. Wenn sich die Vermutungen tatsächlich bestätigten, lag es an Marissa, die anderen in Kenntnis zu setzen.

„Er ist sich nicht ganz sicher. Sie soll sich die nächsten Tage ein wenig ausruhen und wenn es noch einmal schlimmer werden sollte, sollen wir ihn wieder anrufen.“

„Hm … wenn es tatsächlich ein Virus sein sollte, müssen wir aufpassen, uns nicht anzustecken.“

Beinahe hätte Isabelle laut aufgelacht. Bei einer Schwangerschaft bestand absolut keine Ansteckungsgefahr. Wieder sah sie in Rosies besorgte Augen. „Danke, dass du Dr. Henshaw gerufen hast. Bei ihm ist Marissa in guten Händen.“

„Natürlich, sehr gern.“

Instinktiv stand Isabelle auf und umarmte die herzliche Frau. „Du bist immer so gut zu uns, Rosie. Ich wüsste nicht, was wir ohne dich tun würden.“

Tante Rosie erwiderte die Umarmung. „Ich profitiere von eurer Anwesenheit hier doch genauso sehr wie ihr. So vermisse ich Noreen nicht ganz so schlimm und habe zwei neue Freundinnen gewonnen.“

Tränen traten Isabelle in die Augen. „Danke. Ich sehe besser noch einmal nach Marissa. Danach helfe ich dir mit dem Abendessen“, sagte sie und verließ das Zimmer. Im Gehen hielt sie noch einmal inne. „Oh, und der Arzt hat Marissa empfohlen, in den nächsten Tagen erst mal nur Weißbrot und Tee zu sich zu nehmen.“

„Das Teewasser kocht bereits.“

Isabelle schenkte ihr ein halbherziges Lächeln. Wie sehr wünschte sie sich, dass Marissa mit diesen Tipps geholfen wäre. Doch wenn Mark sich nicht irrte, würde ihr Zustand noch weitere fünf Monate anhalten. Leise öffnete Isabelle die Zimmertür und schlich hinein. Marissa lag auf der Seite, das Gesicht zur Wand gedreht.

„Rissa? Wie geht es dir?“, fragte Isabelle leise.

Ihre Schwester wandte sich im Bett. „Schon ein bisschen besser, denke ich“, erwiderte sie matt, beinahe kraftlos.

Isabelle zögerte. Wie sollte sie dieses schwierige Thema ansprechen? Marissa hatte sicherlich große Angst. Vor allem wollte Isabelle ihr zeigen, dass sie nicht allein war. Mit einem langen Seufzen setzte sie sich ans Bettende. „Dr. Henshaw hat mir von seinem Verdacht erzählt“, sagte sie. „Und ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Ganz gleich, was kommt.“

Mit vom Weinen geröteten Augen drehte Marissa sich langsam in Isabelles Richtung. „Ja? Und du bist nicht wütend und hasst mich jetzt?“

„Ach, Liebes. Ich könnte dich niemals hassen“, versicherte Isabelle ihr und streichelte ihren Arm. „Aber ich fühle mich, als hätte ich versagt.“

„Wie kannst du das sagen? Ich bin diejenige, die versagt hat“, konterte Marissa, während ihr weitere Tränen über die Wange liefen. „Ich schäme mich so.“

„Nun, du hast einen Fehler begangen. Einen recht großen, zugegeben. Aber wir finden schon einen Weg.“

„Oh, Belle“, sagte Marissa, „was würde ich nur ohne dich tun?“, und warf sich ihrer Schwester um den Hals.

All der schwierigen Umstände zum Trotz freute sich Isabelle, wie offen Marissa ihre Gefühle zeigte und dass die beiden sich wieder ein Stückchen näherkamen.

Erst wenige Minuten später löste Marissa sich mit einem Schniefen aus der Umarmung. „Ich habe solche Angst, Belle. Ich bin noch nicht bereit, Mutter zu sein.“

„Mark hat mir versprochen, dafür zu sorgen, dass auch Josh seiner Verantwortung nachkommt. Also musst du dich dieser Herausforderung nicht allein stellen.“

Überrascht blinzelte Marissa. Sie öffnete den Mund, sagte aber nichts.

„Ist das der Grund für euer Treffen im Gartenhaus gewesen? Hast du ihm da von deiner Vermutung erzählt, schwanger zu sein?“

Unsicher nickte Marissa.

Isabelle erinnerte sich an das Bild, wie sie die beiden dicht aneinandergekuschelt auf dem Liegestuhl gefunden hatte. Allem Anschein nach hatte er die Nachricht gut aufgenommen, was Isabelles Hoffnung schürte, dass er vielleicht genauso anständig war wie sein älterer Bruder. Würde Josh Marissa heiraten und das Kind mit ihr gemeinsam aufziehen? Und wenn ja, wäre das überhaupt, was Isabelle für ihre Schwester wollte?

Eines stand fest: Auch Mark hatte sich diesen Weg nicht für seinen Bruder gewünscht. Er hatte große Hoffnungen, genau wie Isabelle. Träume, die nun geplatzt waren.

Was für ein heilloses Durcheinander! Zwei Leben, die plötzlich auf ewig verändert waren. Und wofür? Für eine flüchtige Jugendliebe?

Tief in Gedanken hielt sie Marissa fest im Arm, denn viel mehr konnte sie im Moment nicht für sie tun. Das junge Paar hatte keine andere Wahl: Sie mussten sich den Konsequenzen ihres Handelns stellen.

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Noch immer brodelte die Wut in seinen Adern, als Mark das Haus betrat. Er hatte absichtlich den langen Heimweg gewählt, um seine Gefühle etwas mehr unter Kontrolle zu bekommen. Stattdessen war ihm bloß klar geworden, was das alles bedeutete. Wie konnte Josh nur so leichtsinnig gewesen sein? Sich in ein Mädchen zu verlieben war das eine, aber eine Schwangerschaft? Das war mehr als bloß unverantwortlich. Vor allem in seinem Alter!

Lautstark ließ Mark die Tür ins Schloss fallen und warf die Schlüssel auf die Kommode im Flur. In der Hoffnung, sich etwas zu beruhigen, ging er mit in die Seiten gestemmten Händen den schmalen Korridor auf und ab, bevor er Josh aufsuchte. Im Moment wollte er ihm am liebsten den Hals umdrehen.

Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe.

„Hey, Mark“, grüßte Josh seinen Bruder, hielt aber abrupt inne, als er dessen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Wir müssen reden“, sagte Mark knapp und ging ins Wohnzimmer, wo er sich mit dem Rücken zur Tür vor den Kamin stellte. Als er schließlich den Eindruck hatte, sich wieder in normalem Ton unterhalten zu können, drehte er sich zu seinem Bruder um.

Mit den Händen in den Hosentaschen stand Josh da und fragte: „Was ist denn los?“

„Gibt es vielleicht irgendetwas, das du mir erzählen möchtest? Über Marissa Wardrop?“

Josh rollte mit den Augen. „Nicht das schon wieder. Ich dachte, das Thema wäre durch.“

„Anscheinend nicht“, entgegnete Mark erwartungsvoll, verschränkte die Arme und wartete, bis Josh anfing zu reden.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass wir bloß gute Freunde sind. Sie hatte einen schlechten Tag und ich habe sie getröstet. Ende der Geschichte.“

„Ich wünschte, das wäre das Ende der Geschichte.“

Verblüfft sah Josh ihn an. „Was soll das heißen?“

„Man hat mich heute zu Marissa nach Hause bestellt.“

Schreck erfüllte Joshs Blick. „Geht es ihr gut?“ Ungläubig starrte Mark zurück. „Nein, Josh, es geht ihr nicht gut.“

Schlagartig wurde sein Bruder aschfahl. „Ist sie …“, er schluckte. „Ist es etwas Ernstes?“

„Das kann man so sagen, ja“, erwiderte Mark und musste sich sehr bemühen, die steigende Wut zurückzuhalten. „Wie es scheint, ist Marissa schwanger.“

Josh schwieg, doch auf seinen Wangen zeichneten sich rote Flecken ab.

„Die Nachricht scheint dich nicht besonders zu überraschen“, stellte Mark fest und beobachtete sein Gesicht. Insgeheim wartete er darauf, dass seine Mauern einstürzten, doch der sture Junge zeigte keinerlei Regung. „Deshalb habt ihr letzte Woche die Chorprobe ausfallen lassen, oder? Weil Marissa dir von ihrem Verdacht erzählt hat.“

Schließlich knickte Josh doch ein und ließ die Schultern hängen. „Ja.“

Mark raufte sich die Haare. „Ich glaube es einfach nicht! Dabei haben wir so dafür gekämpft, genau das zu vermeiden.“ Wieder stemmte er die Hände in die Hüften und zählte innerlich bis zehn, bevor er weitersprach. „Und was hast du jetzt vor?“

„Das geht nur Marissa und mich etwas an“, sagte Josh leise.

„Das sehe ich anders. Als dein Vormund habe ich da auch ein Wörtchen mitzureden.“ Mark brachte die Worte kaum über die Lippen.

„Das ist meine Angelegenheit, Mark. Und ich werde eine Lösung dafür finden“, verkündete er und verließ den Raum.

Marks erster Gedanke war, dem Jungen hinterherzueilen, ihn an den Schultern zu packen und zu schütteln, bis er wieder zur Vernunft kam. Doch so eine unüberlegte Reaktion würde ihm nicht weiterhelfen. Im Gegenteil, es würde Josh nur umso feindseliger stimmen.

Plötzlich kamen Mark Olivias Worte wieder in den Kopf. „Hab ein ehrliches Gespräch mit ihm und versuch, das Ganze mal aus seiner Sicht zu sehen.“

Erschöpft rieb sich Mark die Augen und sank aufs Sofa. Olivia wäre alles andere als begeistert, wenn sie erfuhr, wie er die Situation angegangen war. Wahrscheinlich war es für alle das Beste, wenn er sich und Josh ein wenig Zeit gönnte und sie das Gespräch erst mit kühlem Kopf wiederaufnahmen. Vielleicht war es dann einfacher, Olivias Rat zu befolgen.