Kapitel 24

Der Juni näherte sich mit großen Schritten, weshalb auch nicht mehr viel fehlte, bis das Schuljahr zu Ende war. Schon tausend Mal hatte Isabelle sich Marissas Abschlussfeier vorgestellt: Wie ihre Schwester in einem langen Gewand mit Abschlusshut auf die Bühne schritt, um mit stolzer Brust ihr Zeugnis entgegenzunehmen.

Mit Babybauch würde sie allerdings niemals vor ihre Mitschüler und Lehrer treten – mit anderen Worten: Die Zeremonie fiel für sie aus. Und damit noch nicht genug. Eigentlich hatte Isabelle ihre Schwester bei der Hochzeit als Brautjungfer eingeplant. Das war jetzt auch nicht mehr möglich.

Isabelle schluckte, als sie den Umkleideraum des Hotels betrat und die Schürze auszog. Noch hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich mit Elias zu treffen, aber schon sehr bald würde sie ihm von Marissas besonderen Umständen erzählen müssen.

Wie er reagieren würde, konnte sie nicht einschätzen. Aber Marissa gehörte zu ihr, und wenn er Isabelle zur Frau nehmen wollte, zählte Marissa auch zu ihm. Genau wie ihr Kind. Denn selbst wenn Joshua die Verantwortung für das Kind mittrug, hatte er noch nicht die nötigen Mittel, um Frau und Kind zu versorgen. Wahrscheinlich würden die beiden für den Anfang bei Isabelle und Elias wohnen müssen. Zumindest so lange, bis Marissa wusste, wie es mit dem Baby weitergehen sollte. Inniglich hoffte Isabelle, dass dies ihren Verlobten nicht abschreckte.

Als könnte Elias ihre Gedanken lesen, wartete er bereits auf sie, als Isabelle ausgestochen und das Hotel verlassen hatte.

„Du bist wirklich nicht leicht zu erreichen, Isabelle“, sagte er, als er sich von der Backsteinmauer abstieß. „Mir bleibt schon nichts mehr anderes übrig, als dir am Hotelausgang nachzustellen.“

„Oh, bitte verzeihen Sie die Umstände, werter Herr“, scherzte Isabelle. „Was kann ich denn nun, da Sie mich gefunden haben, für Sie tun?“

Elias grinste. „Ich dachte, dass es an der Zeit wäre für eine zweite Verabredung. Umso mehr, da wir nun verlobt sind. Wie wäre es morgen?“

„Da muss ich arbeiten.“

„Und danach? Ich würde dir gern einen besonderen Ort zeigen.“

„Das klingt spannend.“ Die Aussicht auf einen vergnüglichen Abend war ihr in letzter Zeit sehr fremd geworden. Und doch böte es die ideale Gelegenheit, um Elias von ihrer Schwester zu erzählen – ohne, dass jemand das Gespräch mitbekäme oder sie störte.

„Darf ich das als ein Ja auffassen?“

Sie lächelte. „Sehr gern.“

„Wunderbar. Und wo darf ich dich abholen?“, fragte er und betrachtete sie. „Oder müssen wir uns wieder woanders treffen?“

Einen Moment lang zögerte Isabelle. Doch da sie nun verlobt waren, konnte sie ihm wohl auch gestatten zu sehen, wo sie lebte. „Du darfst mich gern abholen“, sagte sie, nannte ihm Rosies Adresse und bemerkte natürlich, wie er die Stirn runzelte, als er die Gegend erkannte.

Doch nur Sekunden später hatte er sein Lächeln wiedergefunden. „Ich freue mich schon sehr auf morgen.“

Wenn sie ihn nur nicht in Marissas Geheimnis einweihen müsste, wäre sie sicher ebenso erfreut.

Als Isabelle am nächsten Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, um sich für die Verabredung schick zu machen, erstaunte sie, Rosie auf dem Sofa vor einem Fernsprechgerät sitzen zu sehen.

„Tante Rosie! Du hast nie erwähnt, dass du dir ein Fernsprecher zulegen wolltest.“

„Wollte ich auch nicht“, erwiderte die Frau mit hochgezogenen Brauen. „Ehrlich gesagt dachte ich, dass du mir hierzu vielleicht mehr sagen könntest.“

„Ich? Wie kommst du denn darauf?“

„Nun, der Herr vom Fernsprechunternehmen hat gesagt, dass dieser Auftrag auf einen Mr Wheatherby zurückgeht.“

Mit einem leisen Knall ließ Isabelle ihre Tasche auf den Tisch fallen. „O je. Ich hatte ja keine Ahnung“, gestand sie und sah wieder zu Rosie. „Bist du verärgert?“

„Sagen wir mal, ich war ein wenig überrascht zu Beginn. Aber seit der nette Herr mir versichert hat, dass die Kosten vom Auftraggeber übernommen werden, spricht doch absolut nichts dagegen“, erklärte die Frau mit einem schelmischen Grinsen in den Augen.

„Wie großzügig von Elias. Wenn ich ihn nachher sehe, werde ich mich bei ihm bedanken.“

Mit dem Ziel, heute besonders gut auszusehen, schlüpfte Isabelle in eins ihrer schönsten Kleider – fliederfarben mit weißen Streifen – und wählte einen passenden Hut. Als i-Tüpfelchen zog sie kurze weiße Handschuhe an. Doch selbst die schicke Kleidung konnte ihr die Nervosität nicht ganz nehmen.

Isabelle wartete draußen auf der Treppe auf Elias und war erfreut, wie pünktlich er war. Zur Begrüßung stieg er aus dem Wagen; währenddessen trat auch Rosie nach draußen.

„Sind Sie der Herr, dem ich meinen Fernsprecher zu verdanken habe?“

„Das bin ich“, bestätigte Elias und wirkte dabei weder arrogant noch als täte es ihm leid.

„Ich möchte Ihnen herzlich danken!“

„Gern geschehen. Auch wenn ich gestehen muss, dass meine Motive vielleicht selbstsüchtiger sind, als es auf den ersten Blick scheint“, gab er mit kleinem Schulterzucken zu. „Ich wollte einfach die Möglichkeit haben, mich jederzeit bei meiner Verlobten melden zu können.“

Überrascht zog Isabelle die Brauen hoch. Nie hätte sie von Elias erwartet, dass er so etwas freiheraus zugab.

Rosie lachte nur. „Selbstsüchtig oder nicht, ich bin in jedem Fall sehr dankbar. Und nun will ich euch nicht länger aufhalten. Habt eine schöne Zeit.“

Was für ein herrlicher Nachmittag für einen Ausflug mit dem Wagen. Nach etwa vierzig Minuten begann Isabelle sich jedoch zu wundern, wohin sie fuhren.

Endlich bog Elias auf einen Parkplatz ab. Kurz kniff Isabelle die Augen zusammen, um das Schild vor ihnen lesen zu können. Herzlich willkommen in den Royal Botanical Gardens.

„Ich dachte, wir spazieren ein wenig durch die Gärten und essen später etwas hier im Restaurant“, erklärte Elias. „Die meisten Blumen sollten inzwischen blühen und wie ich gehört habe, gibt es auch einige wunderschöne Wasserpflanzen.“

„Das klingt großartig.“ Hatte er sich tatsächlich gemerkt, wie sehr Isabelle Blumen liebte, als er diesen Ausflug geplant hatte?

Elias führte sie zum Eingang, zahlte und zeigte ihr die unglaublichsten Gärten, die Isabelle je gesehen hatte. Mehrere Hektar Land voller Blumen lagen vor ihnen.

„Es ist bezaubernd hier“, flüsterte Isabelle.

„Etwas ganz anderes als das Leben in der Stadt, nicht?“, sagte er und ging über einen kleinen Steinpfad, der einen durch das Grün führte.

In angenehmer Stille schlenderten sie nebeneinanderher. Hier und da machte Elias sie auf die ein oder andere ganz besondere Blumenpracht aufmerksam. Die Sonne stand mitten am Himmel und glitzerte auf den Teichen, die sich entlang ihres Weges tummelten.

Einige Minuten später gelangten Isabelle und Elias an eine malerische Brücke über einem Lilienteich. Isabelle beugte sich über das Geländer und erspähte an der Wasseroberfläche knabbernde Fische. Mit einem leisen Platsch sprang ein Frosch von einem der Seerosenblätter ins Wasser.

„Dort drüben könnten wir uns kurz hinsetzen, dachte ich“, sagte Elias und zeigte zu einer Bank unter einigen Bäumen, wo sie vor der Sonne geschützt waren.

„Wunderbar.“ Noch immer hörten sie das leise Plätschern des Wassers und die kleine Anhöhe bot eine schöne Sicht.

Einige Momente lang genoss Isabelle nur die wohlriechende Sommerluft und versuchte, nicht zu unruhig zu sein. Aber noch länger konnte sie die Unterhaltung nicht hinauszögern.

„Ich bin froh, dass wir uns heute sehen, Elias. Es gibt da noch etwas Wichtiges, worüber wir reden müssen.“

Sein entspanntes Gesicht wurde plötzlich wachsam. „Du hast dich aber nicht noch mal umentschieden, oder?“

„Nein, das habe ich nicht“, sagte sie und zögerte. „Aber vielleicht möchtest du das nach unserem Gespräch.“

Besorgt ergriff er ihre Hand. „Das klingt ernst.“

„Das ist es auch, fürchte ich.“

„Was auch immer es sein mag, gemeinsam finden wir sicher eine Lösung“, versicherte er ihr so aufrichtig, dass Isabelle tief in ihrem Herzen hoffte, er fasste die Nachricht besser auf, als sie befürchtete.

„Seit dem Tod meiner Eltern“, begann sie ganz vorsichtig, „hatte es meine Schwester nicht leicht. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ihr das Ganze zugesetzt hat.“

„Das ist doch nur verständlich. Die Eltern zu verlieren muss für euch beide wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.“

„Ja. Nur leider hat Marissa einen sehr unschicklichen Weg gefunden, um mit ihrer Trauer umzugehen.“ Beschämt senkte Isabelle den Blick auf ihren Schoß. Unmöglich konnte sie es beschönigen oder Elias in irgendeiner Weise auf das vorbereiten, was sie sagen musste. „Ich habe kürzlich erfahren, dass meine Schwester seit einigen Monaten schwanger ist.“

Überrascht zuckte Elias zusammen. „Wie bitte?“

„Ich weiß. Ich bin genauso schockiert wie du“, sagte sie und betrachtete sein Profil. Unruhig hüpfte sein Adamsapfel auf und ab, den Blick hielt er stur nach vorn gerichtet.

Einige Sekunden blieb es still zwischen ihnen. Endlich drehte Elias sich wieder zu Isabelle und fragte: „Hast du … hat Marissa schon entschieden, wie es weitergeht?“

„Noch nicht.“

Mit einem Taschentuch fuhr Elias sich über das Gesicht. Die Brauen hatte er nachdenklich zusammengezogen.

„Mir ist klar, dass sich das auf unsere Hochzeit auswirken wird“, fuhr sie schnell fort. „Aber ich bin mir sicher, dass wir das Problem irgendwie umgehen können.“

Elias holte tief Luft und ihm war anzusehen, dass es ihn viel Mühe kostete, nicht aus der Fassung zu geraten. Rastlos stand er auf und ging auf der Wiese umher. Seine unsteten Bewegungen spiegelten seine innere Unruhe wider.

Schließlich wandte er sich wieder zu Isabelle. Die Blätter über ihm warfen fleckige Schatten auf sein ernstes Gesicht. „Dir ist hoffentlich klar, dass unsere Hochzeit eines der größten gesellschaftlichen Veranstaltungen Torontos sein wird. Während wir uns hier unterhalten, brütet meine Mutter über der Gästeliste und anderen Details. Die angesehensten Menschen der Stadt werden zusammenkommen. Ich würde meine Familie schrecklich blamieren, wenn ich deine unverheiratete, schwangere Schwester zu unserer Trauung willkommen hieße. Das geht auf keinen Fall.“

Vieles von dem, was er gesagt hatte, verletzte Isabelle, doch sie musste einen klaren Kopf bewahren. Aufgewühlt knetete sie ihre Hände und versuchte, ruhig zu bleiben. „Wir könnten die Hochzeit doch auf nach der Geburt verschieben, oder? Ein paar Monate mehr oder weniger spielen doch keine große Rolle. Und wir wären immer noch vor Weihnachten verheiratet.“ Ideal wäre das natürlich nicht, da es gleichzeitig bedeuten würde, dass sie und Marissa noch ein paar Monate länger bei Rosie wohnen bleiben müssten. Zu dritt – mit Baby – wären sie wie eingepfercht in dem Zimmer.

Mit hängenden Schultern und enttäuschtem Gesicht ließ Elias sich neben ihr nieder. „Besteht die Möglichkeit, dass Marissa den Vater des Kindes heiratet?“, fragte er schließlich.

„Das ist eher unwahrscheinlich“, erwiderte Isabelle. Dass Marissa Josh ausgeschlagen hatte, erzählte sie ihm besser nicht.

„Sie hat also vor, das Kind zur Adoption freizugeben?“, hakte er mit einem Funken Hoffnung nach.

„I-ich weiß es nicht. Noch hat sie nichts entschieden.“ Vielleicht hätte Isabelle mit diesem Gespräch noch eine Weile warten sollen. Dann hätte das Ganze sicher viel weniger … erbärmlich geklungen.

„Wenn eine Ehe mit dem Vater nicht zur Frage steht, hat sie meiner Meinung nach keine andere Wahl, als das Kind abzugeben.“

Sie holte tief Luft und sah Elias in die Augen. „Ist das so? Hat sie tatsächlich keine andere Wahl, Elias?“

Einen Moment lang hing die leise Frage zwischen ihnen.

Dann wandte Elias den Blick von Isabelle ab, doch sie ließ sich nicht entmutigen. „Wenn wir heiraten, könnte Marissa das Kind doch behalten. Sie hätte ein Zuhause und eine Familie, die sie unterstützt.“ Inniglich hoffte Isabelle, dass der kleine Schweißfilm auf ihrer Stirn nicht verriet, wie nervös sie war. „Ich verspreche dir, dass sie uns nicht zur Last fallen wird. Sobald sie kann, wird sie sich eine Arbeit suchen und sich selbst versorgen. Alles, was sie braucht, ist nur ein wenig Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen.“

Ihr überlauter, unregelmäßiger Herzschlag ließ alle anderen Geräusche um sie herum verstummen.

Die Stirn in Falten gelegt sah Elias stur geradeaus und beobachtete ein kleines Mädchen, das an ihnen vorbeiging. Erst nach einiger Zeit sah er Isabelle wieder an. „Bitte, Isabelle, du musst mir glauben. Ich wünschte, es wäre anders. Aber eine unverheiratete Mutter unter meinem Dach …“ Er schloss die Augen. „Das klingt vielleicht selbstsüchtig, aber das würde nicht nur den guten Ruf meiner Familie ruinieren, sondern vermutlich auch das Ende meiner Karriere bedeuten.“ Traurig schüttelte er den Kopf. „Es war schon schwierig genug, meine Mutter und Schwester davon zu überzeugen, dass eine Ehe mit dir kein schlechtes Licht auf mich wirft. Aber diese Hiobsbotschaft macht das Ganze schier unmöglich, fürchte ich.“

Isabelle schnürte sich der Hals zu. Verzweifelt schloss sie die Augen und versuchte, ihre unregelmäßige Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Wenn deine Schwester für eine Weile die Stadt verlassen würde, um das Kind auf die Welt zu bringen und abzugeben, könnten wir bei unseren Hochzeitsplänen bleiben. Aber sonst …“ Wieder schüttelte Elias den Kopf. „Sonst sehe ich leider schwarz für uns, Isabelle. So sehr ich dich auch schätze.“

Mit einem Mal fiel alle Anspannung von ihr ab. Ja, sie war enttäuscht, sehr sogar, aber sie nahm Elias die Entscheidung nicht übel. Wie unnachgiebig die feine Gesellschaft Torontos war und wie schnell man ihre Gunst verlor, hatte Isabelle am eigenen Leib erfahren. Und für seinen beruflichen Erfolg war sein guter Ruf unabdingbar. „Es tut mir leid, Elias. So schrecklich leid.“

Er nahm ihre Hand in die seine. „Mir auch, Isabelle. Sollte sich Marissa gegen das Kind entscheiden, lass es mich bitte wissen. Aber wenn nicht …“ Ein tiefes Seufzen. „Ich hoffe sehr, dass du das verstehen kannst. Und ehrlich, ich wünsche dir und euch nur das Beste.“

Gefasst stand Isabelle auf. „Dann gehen wir jetzt besser wieder.“

„Ja, das wäre das Beste“, erwiderte Elias und stand auch auf. Schweigend gingen sie zurück durch die Gärten zum Wagen.

Dieses Mal nahm Isabelle jedoch nichts von der wunderschönen Umgebung wahr. Mit größter Mühe hielt sie die Tränen zurück, während sie hölzern neben Elias ging und penibel genau darauf achtete, ihn nicht versehentlich zu berühren. Anscheinend würde die Ehe mit Elias doch nicht all ihre Probleme lösen. Nun musste sie sich etwas anderes einfallen lassen – und zwar bald.

Trotz allem musste sie sich eingestehen, dass sie neben ihrer Enttäuschung über Elias’ Entscheidung auch tiefe Erleichterung darüber spürte, nicht Mrs Elias Wheatherby zu werden.