Kapitel 26

Am nächsten Tag auf dem Heimweg schmerzten Isabelle wie immer die Füße, doch zusätzlich war sie auch sehr niedergeschlagen. Am Ende der Schicht hatte Mrs Herbert sie in ihr Büro gerufen, wo Isabelle für ihr erneutes Zuspätkommen letzte Woche und ihren Umgang mit einem Hotelgast getadelt wurde. Nachdem sie sich mehrmals bei Mrs Herbert entschuldigt hatte, war sie mit einer schriftlichen Abmahnung davongekommen.

Zudem war ihr heute erst so richtig klar geworden, dass sie vorerst weiter als Zimmermädchen würde arbeiten müssen und wie sehr sie darauf gezählt hatte, nach der Heirat mit Elias kündigen zu können.

Diese Tür hatte sich also geschlossen …

Als Isabelle nach Hause kam, sah sie Fionas Koffer im Wohnzimmer stehen. Bei dem Anblick begriff Isabelle, wie sehr sie ihre Freundin den Sommer über vermissen würde. Neben der Arbeit hatten die beiden nicht sehr viel Zeit miteinander verbringen können, aber es war ihr immer ein Trost gewesen, sie in ihrer Nähe zu wissen.

Im Gegensatz zu ihr war Fiona heiter wie immer. „Isabelle. Wie gut, dass du schon da bist. So kann ich mich noch von dir verabschieden.“ In ihrem adretten blauen Kleid, das gut zu den rötlichen Locken passte, sah Fiona sehr hübsch aus. Auch ihr Gesicht strahlte regelrecht vor Begeisterung.

„Verlässt du uns heute Abend schon?“, fragte Isabelle wehmütig.

„Ja, wir reisen morgen sehr früh ab, deshalb habe ich entschieden, heute mit den anderen Bediensteten im Haus zu schlafen. Um Zeit zu sparen.“

„Das ergibt natürlich Sinn“, gab Isabelle ihr recht und blinzelte gegen die aufsteigenden Gefühle an.

Nun trat auch Tante Rosie von der Küchenzeile zu den beiden. „Bitte gib immer gut acht auf Bären und Schlangen. In den Wäldern wimmelt es nur so von gefährlichen Tieren.“

„Ach, Tante Rosie“, sagte Fiona und lachte. „Ich gehe doch nicht in die Wildnis. Das Haus dort ist genauso modern wie das Anwesen hier. Ich werde mich nicht einmal mit einer Außentoilette begnügen müssen“, erklärte sie und nahm ihre Tante in die Arme.

„Ich werde dich sehr vermissen, Kleines. Pass bitte gut auf dich auf.“

„Ich dich auch, Tantchen“, sagte Fiona mit einem Kuss auf die Wange. „Und ich bin dankbar, dass ich dich nicht allein zurücklasse. Isabelle und Marissa werden dir weiterhin gute Gesellschaft leisten.“

„Aber natürlich. Wir schauen nach ihr, also mach dir keine Sorgen“, versicherte Isabelle Fiona mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Bitte versprich mir, den Sommer zu genießen und viele Abenteuer zu erleben.“

„Aye. Das habe ich vor. Ich werde euch natürlich ganz oft schreiben.“ Jetzt schloss Fiona Isabelle in die Arme und drückte sie fest. „Und ich werde weiterhin dafür beten, dass sich für dich und Marissa alles zum Guten wendet.“

Gerührt musste Isabelle schlucken. „Danke.“

Ein Hupen. „Das ist sicher der Fahrer“, sagte Fiona und nahm ihren Koffer. „Bitte sag Marissa Auf Wiedersehen von mir. Gott segne euch, bis wir uns alle wiedersehen!“

„Amen“, sagte Tante Rosie und wischte sich kleine Tränen aus den Augen, bevor sie ihre Aufgaben in der Küche wiederaufnahm.

Isabelle trat ans Fenster und sah etwas neidisch zu, wie sich der Wagen allmählich entfernte. Was für ein Glück ihr früheres Zimmermädchen hatte – sie arbeitete in einem angesehenen Haus und freute sich auf einen Sommer am Lake Muskoka. Und was war aus ihr geworden?

Isabelle wandte sich um und begann, Rosie bei ihren Aufgaben zu helfen. So Gott wollte, würde auch sie Glück und Zufriedenheit finden. Doch wann würde das sein?

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Mark stellte seinen Wagen vor Rosies Wohnung ab und bemühte sich, die düstere Laune abzulegen. Nachdem sich zwei weitere Menschen in einem Gebäude ganz in der Nähe mit Polio angesteckt hatten, verdichteten sich die Hinweise auf eine Epidemie. Bei allem, was Mark momentan beschäftigte, war ihm keine Zeit geblieben, sich weiter mit der Praxis auseinanderzusetzen, geschweige denn noch einmal mit Ruth zu sprechen. Das wollte er sehr bald nachholen, doch zuerst musste er Isabelle und Marissa über die Gefahr dieses Polio-Ausbruchs informieren. Er stieg aus und klopfte an Rosies Tür.

„Mark, das ist ja eine Überraschung“, grüßte Isabelle ihn. „Was führt dich her?“

„Ich habe hier in der Gegend Patientenbesuche gemacht“, sagte er und warf einen Blick über Isabelles Schulter. „Könnten wir uns vielleicht kurz hier draußen unterhalten?“ Nur ungern wollte er Marissa mit dem Gespräch beunruhigen, falls sie da wäre.

„Natürlich“, sagte Isabelle und folgte ihm die Holztreppe herunter. „Stimmt etwas nicht? Du siehst besorgt aus.“

„Leider habe ich schlechte Nachrichten“, begann er, während er sich noch ein Stück weiter entfernte, um auch nicht von Nachbarn gehört zu werden. „Nur zwei Straßen von hier hat es mehrere Fälle von Polio gegeben. Und so schnell, wie sich die Krankheit in den letzten Tagen verbreitet hat, befürchte ich, dass wir es bald mit einer Epidemie zu tun haben.“

„Das ist schon das zweite Mal, dass ich von Polio höre. Vor ihrer Abreise hat auch Fiona davon gesprochen“, sagte Isabelle und fingerte an ihrer Halskette herum. „Die Krankheit kann Lähmungen hervorrufen, oder?“

„Ja. Sie greift das Nervensystem und die Muskeln an und kann dazu führen, dass die Lunge nicht mehr arbeitet“, erklärte er und sprach umso besorgter weiter. „Vor allem Kinder und junge Menschen sind gefährdet, deshalb ist die Krankheit auch unter dem Begriff ‚Kinderlähmung‘ bekannt. Für Schwangere ist das Virus besonders gefährlich. Es kann Fehlgeburten hervorrufen oder das Kind kommt mit der Krankheit auf die Welt. Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber … für Marissa und auch für dich wäre es das Beste, wenn ihr in nächster Zeit woanders unterkommen könntet.“

Überrascht hob Isabelle die Brauen. „Du möchtest, dass wir umziehen? Das scheint mir doch etwas übertrieben.“

So sehr Mark es auch hasste, Isabelles schreckliche Sorgenliste um eine weitere zu verlängern – hier waren sie nicht sicher.

„Weißt du, bei den Wohnungen hier in der Gegend ist das Abwassersystem nicht gerade gut, deshalb ist es fast unmöglich, die Krankheit aufzuhalten. Und bitte glaube mir, wenn du jemals einen Patienten in einer sogenannten ‚Eisernen Lunge‘ gesehen hättest, wüsstest du, dass ich nicht übervorsichtig bin.“

„Aber wo sollten wir denn hingehen?“

Mark sah ihr fest in die Augen. „Vielleicht ist es an der Zeit, ernsthaft über Bennington Place nachzudenken.“ Er hielt kurz inne, dann schlug er vor: „Warum kommt ihr nicht mal mit und lernt Olivia und Ruth kennen? Dann fällt euch die Entscheidung sicher leichter. Damit hätten wir zwar noch keine Unterbringung für dich, aber im Moment besteht das größte Risiko für Marissa.“

„Machst du dir solche Sorgen um sie?“, fragte Isabelle und sah ihn mit solch vertrauensvollem Blick an, dass Mark schlucken musste.

„Sonst wäre ich nicht hier.“

Einige Sekunden lang schwieg sie, dann nickte Isabelle. „Also gut. Ich rede mit Marissa. Mal sehen, ob sie sich darauf einlässt.“

„Danke“, sagte Mark und drückte Isabelles Hand. „Aber bitte wartet nicht zu lange. Ich fürchte, dass sich die Epidemie schneller ausbreitet, als wir ahnen.“