Kapitel 30

Am nächsten Tag besprach Isabelle Olivias Angebot mit Rosie und nachdem sie ihren Segen erhalten hatte, sagte sie Olivia schließlich zu. Olivia freute sich sehr. Doch da Isabelle Mark versprochen hatte, beim Streichen zu helfen, beschlossen sie, dass sie erst am nächsten Tag ins Mütterheim ziehen würde.

Am Wochenende hätte sie dann etwas Zeit, sich einzuleben, bevor sie am Montag die Arbeit in Bennington Place aufnahm.

Um kurz nach neun holte Mark Isabelle zu Hause ab. Er trug bereits mit Farbe befleckte Kleidung.

„Wie ich sehe, hast du schon einmal ohne mich angefangen“, grüßte Isabelle ihn neckisch.

Er grinste und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich war so früh wach, dass ich dachte, ich mache schon Mal einen Anfang und probiere den neuen Farbroller aus“, erklärte er und begutachtete Isabelles Kleidung. „Das sind hoffentlich alte Kleider, die du da trägst. Denn nach diesem Tag sehen sie vermutlich aus wie meine.“

Lächelnd hielt sie eine Tasche in die Höhe. „Keine Sorge, ich bin gut vorbereitet. Rosie hat mir einen Arbeitsanzug geliehen, damit bleibt meine Kleidung sicher sauber.“

Mark schüttelte den Kopf und lachte. „Du bringst mich immer wieder zum Staunen.“

Eine halbe Stunde später hatte Isabelle sich umgezogen, ein Tuch um den Kopf gebunden und sah sich in der zukünftigen Praxis um. Mark erzählte ihr, dass er die Theke gern in eine Rezeption umfunktionieren wollte. An der Wand dahinter standen ein Einbauregal mit einigen Brettern und einige alte Fässer, die nach Salzlache rochen. Obenauf stand eine große Metallwaage.

„Die werde ich noch entsorgen“, sagte Mark, der nun hinter ihr stand.

„Warum denn? Die könntest du doch für Neugeborene verwenden.“ Isabelle gab sich große Mühe, ein möglichst neutrales Gesicht zu bewahren, doch nach einigen Sekunden konnte sie ihr Lachen nicht mehr zurückhalten.

Zärtlich stupste Mark sie an der Schulter. „Einen Moment lang dachte ich, du meinst das ernst. Ich glaube, eine neue, saubere Waage ist in meinem Budget gerade noch drin.“ Er grinste und zeigte dann quer durch den Raum. „Diese Wand dort würde ich heute gern streichen und vielleicht auch noch die daneben. Die anderen müssen noch warten, bis ich entschieden habe, was ich aus den Regalen mache. Außerdem würde ich gern noch die Theke abschleifen und vielleicht auch die Böden polieren.“

„Das klingt nach viel Arbeit“, erwiderte Isabelle, während sie mit einem Finger über den Holzboden fuhr. „Aber diese hier müssen vielleicht auch nur gründlich geschrubbt werden.“

„Vielleicht. Das probiere ich auf jeden Fall als Erstes.“

Neugierig betrachtete Isabelle die gelben Flecken auf Marks kariertem Hemd. „Wo hast du denn mit dem Streichen begonnen? Keine dieser Wände ist gelb.“

„Im hinteren Bereich, wo die Behandlungszimmer sein sollen“, erklärte er und seine Augen begannen zu strahlen. „Komm mit, ich zeige es dir.“

Isabelle folgte ihm. Einer der Räume war offensichtlich mal ein Büro gewesen, der andere sicher ein Lager. Beide hatten die perfekte Größe für Behandlungszimmer. Und eins davon hatte nun zwei frische gelbe Wände.

„Streichen wir alles gelb?“, fragte sie.

„Heute schon. Aber ich habe überlegt, ob der Empfangsbereich vielleicht eine andere Farbe bekommt. Blassgrün zum Beispiel. Das wirkt etwas ruhiger.“

„Die Idee gefällt mir“, sagte Isabelle und ging zu einem mit Zeitungspapier ausgelegten Bereich. Dort stand ein Eimer mit Farbe und ein anderes Hilfsmittel. „Wo ist der Pinsel? Dann kann ich gleich loslegen.“

Mark hielt ihr das andere Werkzeug hin. „Ich dachte, vielleicht arbeitest du besser hiermit, das ist der Farbroller. Damit kommst du schneller voran. Und ich kümmere mich mit dem Pinsel um die Ecken.“

„Also gut“, sagte Isabelle und sah zu, wie Mark den Roller in Farbe tunkte und ihr reichte.

Gemeinsam, mit seinen Händen über den ihren, setzten sie den Roller an der Wand an und fuhren damit auf und ab. Mark stand so dicht hinter ihr, dass sie seine Wärme spüren konnte, und es fiel ihr plötzlich äußerst schwer, sich aufs Streichen zu konzentrieren.

„Siehst du? So schnell geht es damit“, sagte er und sein Atem brachte eine lose Haarsträhne neben ihrem Ohr zum Flattern.

„In Ordnung“, sagte sie, räusperte sich und trat einen Schritt zur Seite. „Ich glaube, ich habe es jetzt verstanden.“

„Wunderbar. Ich fange auf der gegenüberliegenden Seite an. Ruf einfach, wenn du Hilfe brauchst“, sagte er und ließ den Blick noch ein wenig auf ihr ruhen.

Schnell drehte Isabelle sich zur Wand um und atmete langsam aus. Puh – wer hätte gedacht, dass Streichen so … aufregend sein konnte?

Drei Stunden später waren sie mit den Räumen im hinteren Bereich fertig und gingen in den vorderen Teil, wo Mark die Tür öffnete, um etwas frische Luft hineinzulassen. Im Laufe des Vormittags war es deutlich wärmer geworden und Isabelles Kleidung klebte ihr am Körper. Sie hoffte auf eine kleine Brise und setzte sich draußen vor dem großen Schaufenster auf eine Holzbank.

Nur eine Minute später folgte ihr Mark und reichte ihr eine Flasche Wasser.

„Das ist meine Rettung“, sagte sie und nahm einen großen Schluck.

Mit einer eigenen Flasche in der Hand setzte er sich neben sie. „Ja, ich habe gelernt, dass Streichen durstig macht.“

„Und hungrig. Was wollen wir denn zu Mittag essen? Ich fürchte, ich brauche erst eine Stärkung, bevor ich weitermachen kann.“

Mark drehte sich zu ihr. „Bist du sicher, dass du noch bleiben willst? Wenn du müde bist, fahre ich dich auch gern wieder zurück zu Rosie.“

Grinsend hob Isabelle die Braue. „Denkst du wirklich, ich lasse mir das Endergebnis entgehen? Nein, nein, Sir. Ich bleibe, bis wir fertig sind! Vorausgesetzt, ich bekomme etwas zu essen.“

Mark lachte. „Okay, ich bin sofort wieder da“, sagte er, stellte die Flasche auf dem Boden ab und verschwand in der Praxis.

Was er wohl vorhatte?

Nur wenige Minuten später kam er wieder heraus und stellte einen Weidenkorb mit ein paar Sandwiches zwischen ihnen auf die Bank. „Ich habe Schinken und Käse oder Tomate und Gurke im Angebot.“

Isabelle lachte. „Sieht aus, als hättest du an alles gedacht. Für mich bitte das mit Tomate.“

Zufrieden aßen die beiden und beobachteten schweigend die vorbeikommenden Fußgänger.

„So geschäftig, wie es hier ist“, stellte Isabelle, fest „ist das die ideale Lage für deine Praxis.“

„Das denke ich auch. Und trotzdem ist es nicht weit vom Armenviertel. Man kann mich immer noch zu Fuß oder schnell mit dem Bus erreichen.“

„Und wann wird sich der andere Arzt die Praxisräume ansehen?“

„Morgen Nachmittag. Sobald ich mit dem Streichen fertig bin, möchte ich noch die Küche putzen und den Müll rausstellen. Und vielleicht auch noch das Schaufenster wischen.“

Isabelle legte das Packpapier ihres Brotes zurück in den Korb. „Ich würde dir ja meine Hilfe anbieten, aber ich habe mit Olivia ausgemacht, dass ich morgen umziehe.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagte er. „Deine Hilfe heute weiß ich zu schätzen.“

„Das war doch selbstverständlich, nach allem, was du für mich getan hast.“ Sie hielt kurz inne. „Ich bin stolz auf dich, Mark, dass du so mutig bist. Und deine Eltern wären es sicher auch.“

„Danke, Isabelle.“ Sanft nahm er ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Bei dem eindringlichen Blick in seinen Augen stieg ihr die Wärme in die Wangen.

Ein lautes Pfeifen ertönte plötzlich von der anderen Straßenseite und erschreckte Isabelle – ein junger Mann war stehen geblieben und starrte zu ihnen herüber. „Halt sie gut fest, Kumpel, sonst schnappt sie sich noch jemand anderes.“

„Keine Sorge“, rief Mark zurück und grinste, „das ist mein Plan.“

Isabelle brauchte einen Moment, bis sich ihr Puls wieder etwas beruhigt hatte. „Darf ich dich etwas fragen, Mark?“

„Natürlich, alles.“

Vorsichtig sah sie zu ihm. „Ich habe dir von Roger und Elias erzählt, aber … ich weiß gar nichts über die Frauen in deinem Leben. Ich nehme einfach mal an, dass es welche gegeben hat.“ Wenngleich Mark einmal erwähnt hatte, keine Zeit für Beziehungen gehabt zu haben, hielt sie es für unwahrscheinlich, dass er noch nie verliebt gewesen war.

Ein Schatten überzog sein Gesicht, während Mark stur geradeaus sah. „Nun ja, zu Uni-Zeiten hat es da jemanden gegeben“, sagte er und presste die Lippen fest aufeinander.

Geduldig wartete Isabelle, dass er weitersprach, doch er schwieg. Vermutlich hatte er sich in seinen Gedanken verloren. „Und was ist passiert?“, fragte sie schließlich.

„Ich war so verliebt und gedanklich viel zu sehr auf sie fokussiert, dass ich beinahe durch meine Prüfungen gefallen wäre. Und trotzdem hat sie sich darüber beschwert, nicht genug Aufmerksamkeit von mir zu bekommen. Da ist mir klar geworden, dass ich mich entscheiden musste: Entweder für sie oder für mein Studium“, sagte er schulterzuckend. „Nun, du siehst ja, worauf meine Wahl gefallen ist.“

„Und bereust du es?“ Isabelle blickte ihn ungewiss an. Hatte sich Mark vielleicht seither auf niemanden eingelassen, weil sein Herz noch immer an dieser Frau hing?

Mit ernstem Blick wandte sich Mark ihr zu. „Überhaupt nicht. Es war das Beste, das ich hätte tun können. Sie hätte nie ertragen, wie viel Zeit ich in Josh investiert habe, als ich kurz darauf sein Vormund geworden bin.“

„Das klingt, als wäre sie ganz schön ichbezogen.“

„Ja, du hast recht. Das ist sie. Und doch bin ich dankbar für die Erfahrung“, sagte Mark und legte eine Hand an Isabelles Gesicht. „Denn dadurch weiß ich jemanden so Wunderbares wie dich umso mehr zu schätzen“, sagte er und küsste sie, mitten auf der Straße.

Bei einem weiteren Pfeifen schrak Isabelle zurück. Sie errötete, allerdings weniger wegen Marks Berührung als vor Peinlichkeit.

Schnell sprang sie von der Bank auf und rückte ihr Kopftuch zurecht. „Okay. Wir machen jetzt besser weiter. Die Wände streichen sich ja nicht von allein.“

„Jawohl, Ma’am“, sagte Mark und sein schelmischer Unterton löste ein erneutes nervöses Kribbeln in Isabelle aus.

Rasch ging sie hinein – dieser gut aussehende Arzt verdrehte ihr ganz schön den Kopf! Doch selbst wenn sie könnte, würde sie nichts daran ändern …