Am nächsten Tag packte Isabelle ihre Habseligkeiten und verabschiedete sich von Rosie. „Ich hasse es, dich hier allein zurückzulassen“, sagte sie.
„Ich weiß, Liebes, aber es ist doch wunderbar, dass du im Mütterheim anfangen kannst und damit in Marissas Nähe bist. So etwas bringt nur Gott zustande.“
„Ja, wahrscheinlich“, erwiderte Isabelle und schenkte Rosie ein zittriges Lächeln, während sie gegen die Tränen ankämpfte. „Ich weiß gar nicht, wie ich mich je genügend bei dir bedanken kann.“
„Es war mir eine Freude, euch um mich gehabt zu haben“, sagte Rosie und nahm Isabelle in die Arme. „Und ich möchte auf jeden Fall mit euch in Kontakt bleiben und erfahren, wenn das Baby da ist.“
„Natürlich. Und du versprichst uns bitte, dass du gut auf dich aufpasst, ja?“
„Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe schon viel Schlimmeres überlebt als ein Virus.“
Draußen hörte man einen Wagen halten. „Das ist sicher Dr. Henshaw“, sagte Rosie. „Lass ihn nicht unnötig warten.“
Noch einmal zog Isabelle Rosie fest in die Arme. „Die Nummer von Bennington Place hast du ja, ruf mich jederzeit an.“
„Das mache ich, und jetzt los mit dir. Liebe Grüße an den hübschen Arzt“, sagte Rosie grinsend, drehte sich um und verschwand in ihrem Zimmer.
Sekunden später meinte Isabelle zu hören, wie Rosie sich die Nase schnäuzte. Sie schluckte schwer, nahm ihre Handtasche und hob den schweren Koffer auf die Veranda.
„Den nehme ich“, sagte Mark, der gerade die Treppen hochkam.
„Danke. Drinnen steht auch noch ein Truhe.“
Mark wirkte amüsiert. „Das wird hier ja noch zu einem richtigen Umzug.“ Er trug den Koffer nach unten und stellte ihn neben das Auto, dann hoben Isabelle und er die Truhe gemeinsam die Treppe hinunter und auf Marks Rücksitz.
„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich dich nur absetze und gleich weiterfahre“, sagte er, als sie losfuhren.
„Natürlich nicht. Ich weiß ja, dass du noch viel vorhast, bis Dr. Axelrod kommt“, sagte Isabelle und stellte mit einem Blick auf seine Kleidung fest, dass er noch immer das mit Farbe bekleckste Hemd trug. „Du ziehst dich aber noch um, oder?“
Er grinste. „Wieso? Mache ich so etwa keinen guten Eindruck?“
Lachend schüttelte Isabelle den Kopf. „Nur, wenn er dich für einen Handwerker halten soll.“
„Keine Sorge. Ich werde gleich duschen und mich umziehen, bevor ich Dr. Axelrod an der Praxis treffe. Tut mir leid, dass ich nicht schon früher hier war, aber für die letzten Kleinigkeiten habe ich doch länger gebraucht, als ich dachte.“
„Ich hätte auch ein Taxi nehmen können, das weißt du.“
„Und ich hätte dich heute gar nicht zu Gesicht bekommen? Auf keinen Fall“, sagte Mark und zwinkerte.
Am Mütterheim angekommen, brachte Mark Isabelles Gepäck auf die Veranda und verabschiedete sich dann. „Ich wünschte, ich könnte noch etwas bleiben.“
„Ist schon in Ordnung. Und vielen Dank fürs Fahren.“
„Nun, ich hatte ja schon erwähnt, dass ich meine Gründe dafür habe“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. „Dieser hier gehört dazu.“ Er lehnte sich zu ihr vor und in freudiger Erwartung schnellte Isabelles Puls in die Höhe.
Doch noch bevor er sie küssen konnte, öffnete sich die Eingangstür. Augenblicklich schreckten sie auseinander.
„Hallo, Mark“, grüßte Olivia. „Und herzlich willkommen, Isabelle.”
„Hallo”, erwiderte Mark. Rote Flecken zierten nun seine Wangen. „Tut mir leid, aber ich kann leider nicht bleiben. Ich habe noch einen Termin.“
„Keine Sorge. Wir werden uns gut um Isabelle kümmern“, versicherte Olivia ihm.
„Das weiß ich doch“, entgegnete Mark und drehte sich wieder zu Isabelle. Er nahm ihre Hand. „Bis ganz bald. Und denk dran, wenn du irgendetwas brauchst –“
„Rufe ich dich an“, sagte Isabelle und lachte.
Er lächelte ihr zu und eine wohlige Wärme erfüllte Isabelle. „Danke, Mark.“
„Sehr gern“, sagte er, drückte ihre Hand und zwinkerte.
Einen Moment lang sah sie Mark noch nach, wie er das Grundstück durch das eiserne Törchen verließ und in den Wagen stieg. Dann wurde Isabelle plötzlich bewusst, dass sie im Begriff war, in ein Haus voller Fremder zu ziehen.
„Es wird alles gut werden, Isabelle“, hörte sie Olivia neben sich sagen und spürte ihren Arm auf ihrer Schulter. „Du bist hier unter Freunden, versprochen.“ Der einfühlsame Tonfall beruhigte Isabelle. „Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer. Ich darf doch jetzt du sagen, oder?“
„Natürlich. Danke, Olivia.“
Oben angekommen, sah Isabelle sich um. „Margaret, das andere Hausmädchen, hat ihr Zimmer auch hier oben. Dann bist du nicht so allein.“
Erleichtert atmete Isabelle aus. „Das höre ich gern. Ich habe mir schon ausgemalt, wie ich ganz allein auf einem gruseligen Dachboden wohne.“
Olivias Lachen erfüllte den Flur und sie blieb vor der ersten Tür stehen. „So, da wären wir. Das ist dein neues Zimmer.“
Langsam trat Isabelle über die Türschwelle. Das Zimmer war klein, hatte aber ein recht großes Fenster, wodurch viel Licht hereinschien. In einer Ecke stand ein Bett mit einer blau geblümten Tagesdecke, daneben ein Nachttischchen mit einer Lampe. Außerdem gab es einen Kleiderschrank und einen kleinen Teppich. Klein, aber fein. „Es ist schön hier.“
„Freut mich, dass es dir gefällt“, sagte Olivia und stellte die Tasche ab. „Ich lasse dich jetzt erst einmal auspacken und ankommen. Abendessen gibt es um sechs im Speisezimmer. Komm einfach nach unten und folge dem Lärm.“
Isabelle lachte. „Gut, danke schön.“
Sie stellte die Tasche auf das Bett und sah sich um, dankbar, dass sie ein wenig Zeit für sich allein hatte. So konnte sie sich noch etwas ausruhen, bevor sie die anderen Bewohnerinnen kennenlernte. Das Beste jedoch war, dass sie Marissa von nun an jeden Tag sehen würde.
Nachdem sie alles ausgeräumt und sich kurz hingelegt hatte, zog Isabelle sich eine frische Bluse an und ging nach unten. Genau wie Olivia gesagt hatte, konnte sie sich an den Stimmen und dem gelegentlichen Lachen orientieren. Manche der Frauen hielten sich noch im Salon auf, während andere schon im Speisezimmer saßen.
Zaghaft betrat Isabelle den Raum. War Marissa wohl schon da?
Ein langer Holztisch mit Porzellangeschirr und Besteck zierte das Zimmer und in der Tischmitte stand eine Vase mit Blumen, die angenehm süß dufteten.
Einige der Frauen hoben den Blick, als Isabelle in der Tür erschien, doch leider erkannte sie keine von ihnen.
„Hallo“, sagte sie unbehaglich. „Ich bin Isabelle.“
Einige Sekunden der Stille vergingen. Schließlich lächelte eine rothaarige Frau. „Du bist sicher neu hier. Komm doch herein. Ich bin Mary Beth. Und das hier sind Helen, Georgie und Annie.“
„Schön, Sie kennenzulernen“, sagte Isabelle und grüßte die Frau mit einem Nicken. „Gibt es feste Plätze?“
„Nein, setz dich ruhig, wohin du magst. Und wir sind hier eigentlich alle per Du“, sagte Helen, eine etwas untersetzte blonde Frau, und zeigte zu den leeren Stühlen.
„Ah, gut“, erwiderte Isabelle. Sich ihrer unverhohlenen Blicke gewahr, ging Isabelle zu einem Stuhl am Tischende, setzte sich jedoch noch nicht.
„Wow“, sagte Georgie. „Dir sieht man ja noch überhaupt nichts an. In welchem Monat bist du denn?“
Sogleich errötete Isabelle. „Oh, nein, i-ich bin nicht schwanger.“
„Nicht?“, hakte Mary Beth mit hochgezogener Braue nach. „Aber du weißt schon, dass das hier ein Mütterheim ist, oder?“, scherzte sie und die anderen Frauen kicherten.
Unsicher, ob sie auch lachen sollte oder ob man sich über ihre Naivität witzig machte, umklammerte Isabelle den Stuhl fester.
„Isabelle. Da bist du ja“, hörte sie nun Marissas Stimme.
Erleichterung überkam Isabelle, als ihre Schwester auf sie zukam und sie umarmte. „Wie geht es dir?“
„Gut. Es gefällt mir hier.“
Offensichtlich sagte Marissa die Wahrheit, denn die vielen Sorgenfalten auf ihrer Stirn waren verschwunden und zum ersten Mal seit Monaten wirkte sie wieder etwas gelassener.
Hinter ihr watschelte Laura ins Zimmer. „Hi, Isabelle. Wie schön, dich wiederzusehen“, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Ein paar andere Frauen folgten und setzten sich plaudernd an den Tisch.
Wenig später stand Olivia in der Tür. „Oh, gut, da bist du ja, Isabelle. Sieht aus, als hättest du schon die meisten unserer Bewohnerinnen kennengelernt“, sagte sie lächelnd. „Ihr Lieben, das ist Isabelle, Marissas Schwester. In den nächsten zwei Tagen wird sie eine von euch sein und ab Montag startet sie dann als Hausmädchen. Sie ist Judys Nachfolgerin. Ich hoffe, ihr heißt sie herzlich willkommen.“
Lächelnd blickte Isabelle in viele grüßende Gesichter. Manche der Bewohnerinnen waren noch sehr jung, andere hingegen wirkten schon etwas reifer. Zu unerwarteten Schwangerschaften kam es wohl in jedem Alter.
Isabelle setzte sich zwischen Marissa und Laura. Nur wenige Minuten später betrat eine Frau in Schürze das Zimmer und brachte mehrere abgedeckte Teller. Gleich hinter ihr folgte eine ältere, leicht rundliche Frau mit einer Suppenterrine.
Die Teller wurden aufgedeckt und durchgereicht. Es duftete nach Fleisch und frisch gebackenem Brot, woraufhin Isabelles Magen gleich zu knurren begann. Erst jetzt bemerkte sie, wie schrecklich hungrig sie war. Dennoch nahm sie sich von allem nur eine kleine Portion, auf keinen Fall wollte sie gierig wirken. Das Essen war köstlich, besser als in vielen Restaurants, in denen sie schon gegessen hatte.
Am Tisch beobachtete Isabelle die anderen. Die meisten unterhielten sich miteinander und schienen sich wohlzufühlen. Nur manche aßen schweigend; Isabelle vermutete, dass sie noch nicht lange hier wohnten. Dank Laura schien Marissa diese merkwürdige Phase der Eingewöhnung übersprungen zu haben. Eine Verbündete zu haben, die über die Abläufe im Haus Bescheid wusste, hatte ihrer Schwester offenbar geholfen, sich schnell einzuleben.
Nach dem Essen gab es noch Tee und Kirschkuchen und danach zogen sich die Frauen allmählich wieder zurück.
„Isabelle, begleitest du uns noch in den Salon?“, fragte Olivia, als sie ihren Stuhl wieder unter den Tisch schob. „Meistens hören die Bewohnerinnen nach dem Abendessen noch gemeinsam Radio und widmen sich ihren Handarbeiten.“
„Sehr gern.“
Der Salon war noch genauso heimelig, wie Isabelle ihn in Erinnerung hatte, und bot genug Platz für alle. Das Klicken der Stricknadeln und das Radiorauschen erfüllten den Raum.
Olivia winkte Isabelle zu einem Schemel im hinteren Teil. „Ich dachte, wir könnten uns noch ein wenig unterhalten.“
„Natürlich, gern“, erwiderte Isabelle und lächelte.
„Normalerweise gehe ich immer schon etwas früher nach Hause, damit ich mit meiner Familie zu Abend essen kann, aber da Ruth heute Abend einen Termin hat, wollte ich noch bleiben und sicherstellen, dass es dir gut geht.“
„Wie nett von dir. Ich hoffe, das ist kein großer Umstand.“
„Überhaupt nicht. Mein Mann hat Verständnis dafür, dass ich manchmal einfach hier sein muss.“
„Das klingt aber sehr modern.“ Isabelle konnte sich nur schwer vorstellen, dass ein Ehemann sich selbst zurücknahm, um der Arbeit seiner Frau nicht im Wege zu stehen.
„Das stimmt. Darius ist ein besonderer Mann“, gab Olivia ihr recht und sah dabei sehr verliebt aus. „Aber genug von mir. Ich glaube, Marissa findet sich hier sehr gut ein.“
„Wie schön. Ich bin erleichtert, dass ich nun so nahe bei ihr sein kann.“
„Das verstehe ich. Familie ist sehr wichtig“, sagte Olivia wehmütig. „Es ist ein Segen, dass Marissa auf deine Unterstützung zählen kann.“
Isabelle nickte.
„Wo wir gerade von Unterstützung sprechen …“, sagte Olivia und sprach nun leiser weiter. „Mir ist heute nicht entgangen, dass ihr, du und Mark, euch sehr nahesteht“, sagte sie erwartungsvoll.
Kurz zögerte Isabelle und war sich unsicher, was Mark davon hielt, wenn sie Olivia von ihnen erzählte. „Nun, Mark hat mir und Marissa seit dem Tod unserer Eltern sehr geholfen und wir sind … gute Freunde geworden.“
„Aha“, entgegnete Olivia mit einem Grinsen. „Das ist das erste Mal, dass ich Mark so erlebe. Ich hatte schon Sorge, dass er nie eine Frau finden würde, die ihn interessiert.“
Unruhig schlug Isabelles Herz, während sie sich auf dem harten Schemel wandte. „Er ist ein ganz wunderbarer Mensch. Und ich bin sehr dankbar für seine Freundschaft.“ Na bitte, eine ehrliche, unverfängliche Antwort. „Wie hast du Mark kennengelernt?“, fragte sie. Besser, sie stellte selbst ein paar Fragen, bevor Olivia sie weiter löcherte.
Jetzt wurde Olivias Gesicht ernst. „Das hat er dir nicht erzählt?“
„Nein.“
Kleine Falten bildeten sich zwischen Olivias Brauen. „Nun, die Kurzversion ist: Ruth und Mark haben mir das Leben gerettet.“
Isabelle war überrascht. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Als meine Familie damals von meiner Schwangerschaft erfahren hat, haben sie mich verstoßen. So bin ich in einer Besserungsanstalt für Frauen gelandet und sobald mein Kind auf der Welt war, hat man … hat man es mir weggenommen und zur Adoption freigegeben.“ Olivia hielt kurz inne. „Als ich wieder entlassen wurde, wusste ich nicht, wohin. Meine Familie wollte nichts mit mir zu tun haben und mein Verlobter war im Krieg gefallen. Schließlich hat mich Ruth krank und halb bewusstlos auf einer Kirchenbank gefunden und mich hierher zu sich nach Hause gebracht. Dank ihr und Mark bin wieder auf die Beine gekommen.“
„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das tut mir so leid.“
Olivia schüttelte den Kopf. „Eine Zeit lang ging es mir sehr schlecht, aber Ruth und Mark haben mich nicht verurteilt. Und so sind sie zu meinen besten Freunden geworden.“
Ohne darüber nachzudenken, drückte Isabelle Olivias Hand.
Olivia erwiderte den Druck und lächelte. „Wir alle haben unser Päckchen zu tragen – das weißt du ja. Aber zur rechten Zeit schickt Gott uns seine Engel.“
Gerührt nickte Isabelle. „Ja, das stimmt. Offensichtlich ist Mark auch meiner.“
Aus dem Korridor hörte man jetzt ein Quieken und auf Olivias Gesicht erschien ein Lächeln. „Apropos Engel: Hier kommen meine Kleinen.“
Ein attraktiver dunkelhaariger Mann betrat den Salon und hielt eine Mini-Version seiner selbst auf dem Arm.
„Mama! Mama!“, rief der Kleine, der jetzt wild mit den Beinen strampelte und die Arme nach Olivia ausstreckte.
„Na hallo, mein hübscher Junge“, begrüßte Olivia ihn, hob ihn hoch und bedeckte seine Wangen mit Küssen, während ihr Mann die beiden in eine Umarmung schloss.
Ganz unerwartet traten Isabelle Tränen in die Augen. Genau das wünschte sie sich von diesem Leben. Es ging ihr nicht um irgendeine Karriere, einen guten Ruf oder Reichtum. Nein, sie sehnte sich nach einem Mann und einer Familie, die sie liebten und die sie lieben konnte.
Olivias Geschichte gab ihr Hoffnung: Sie hatte eine tragische Vergangenheit durchlebt, aber am Ende die Liebe gefunden. So Gott wollte, galt das eines Tages auch für Isabelle.