Kapitel 32

„Kommen sie herein, Dr. Axelrod. Schön, dass Sie gekommen sind“, sagte Mark und schüttelte dem großen Mann mit silbrigem Haar an der Praxistür die Hand.

Der Mann erwiderte den Händedruck. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Henshaw. Ich muss sagen, Ruth Bennington hat in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Und ich möchte unbedingt mehr darüber hören, was Sie hier vorhaben“, sagte er und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

„Gern. Vielleicht zeige ich Ihnen zunächst einmal die Praxisräume. Ich habe schon mit den ersten kleinen Arbeiten begonnen, aber im Grunde habe ich bisher nur gestrichen. Hier und da gäbe es noch ein paar Kleinigkeiten zu tun.“

Mark ging voraus und erklärte dem älteren Arzt seine Vorstellung für die Räume.

Wohlwollend nickte Dr. Axelrod, während er ihm folgte. „Wie es aussieht, ist sogar genug Platz für ein Besprechungszimmer.“

„Richtig. Außerdem gibt es hinten noch einen kleinen Bereich, den man als Akten- oder Lagerraum nutzen könnte. Eine Küche gibt es auch. Daraus könnte ein Labor werden oder ein Raum für kleinere chirurgische Eingriffe.“

Zurück im Eingangsbereich beendete Mark die kleine Führung und stellte zwei Stühle in dem sonst leeren Raum nebeneinander. „Also, Dr. Axelrod, warum möchten Sie Ihre aktuelle Praxis verlassen?“

Der ältere Arzt setzte sich und blickte Mark offen an. „Wenn ich ehrlich bin, suche ich nach einer neuen Herausforderung. Eigentlich habe ich immer davon geträumt, mich vor allem für die benachteiligten Menschen unserer Gesellschaft zu engagieren. Stattdessen habe ich in einem wohlhabenden Stadtviertel Wurzeln geschlagen und bin dort in einen sehr gemütlichen Alltagstrott verfallen. Erst kürzlich habe ich mich an diesen fast vergessenen Traum zurückerinnert und nur wenige Tage darauf ist Mrs Bennington mit Ihrem Projekt an mich herangetreten. Da wusste ich sofort: Das ist ein Wink des Himmels“, sagte er mit einem Lächeln, das kleine Fältchen über seinen Augen zum Vorschein brachte. „Soweit ich von ihr weiß, haben Sie schon immer für die Ärmeren gearbeitet, durch Hausbesuche, oder?“

„Ja, das stimmt.“

„Das verdient meinen höchsten Respekt. Und ich würde gern von Ihrer Verbindung zu diesen Menschen profitieren, um ihr Vertrauen zu gewinnen.“

„Nun ja, das wird vielleicht eine Weile dauern, aber unmöglich ist es nicht“, sagte Mark und schlug die Beine übereinander. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich ein paar Nachforschungen über Ihre Person angestellt habe.“

„Das habe ich nicht anders erwartet“, sagte Dr. Axelrod. „Ich habe ja schließlich das Gleiche getan.“

„Verständlich. Hoffentlich hat mein Lebenslauf Sie nicht enttäuscht.“

„Im Gegenteil. Ich bin beeindruckt, Dr. Henshaw, wie viel Sie in Ihrer kurzen Zeit als Arzt bereits geschafft haben. In Ihnen steckt großes Potenzial.”

„Heißt das, Sie haben bereits eine Entscheidung getroffen?“, fragte Mark hoffnungsvoll.

Dr. Axelrod nahm sich einen Moment Zeit und ließ den Blick noch einmal durch den Raum schweifen, bevor er sich wieder an Mark wandte: „Ich würde gern noch mehr über Ihre Vision für diese Praxis erfahren. Aber … wenn wir uns in den wesentlichen Dingen einig sind, sehe ich keinen Grund, warum ich Ihr Angebot nicht annehmen sollte.“

Erleichterung durchströmte Mark. „Das höre ich gern, Sir. Gemeinsam können wir sicher einen Unterschied bewirken in der Stadt, vor allem unter der ärmeren Bevölkerung.“

„Das sehe ich genauso. Und bitte, nennen Sie mich doch Allen“, schlug er vor.

Mark nickte. „Einverstanden, dann bin ich Mark.“

Der ältere Arzt betrachtete Mark einen Moment lang. „Und Mark, glaubst du an Gott?“

„Ja, das tue ich. Und ehrlich gesagt sehe ich in diesem Projekt auch ganz klar Gottes Ruf für mich.“

„Hervorragend. Das sehe ich ganz genauso.“

Mark war glücklich. Das hier war das eindeutige Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg war. Er stand auf und streckte Allen die Hand entgegen. „Dann sollten wir uns bald wiedertreffen, um über die Details zu sprechen.“

Nickend schüttelte Allen seine Hand. „Auf jeden Fall. Ich freue mich drauf.“

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Am Montagmorgen stand Isabelle um sechs Uhr auf. Sie hatte sich fest vorgenommen, eine vorbildliche Angestellte abzugeben. Um sechs Uhr dreißig traf sie im Flur pünktlich auf Margaret, das andere Hausmädchen.

„Guten Morgen, Isabelle. Gehen wir doch nach unten. Meist beginnt unser Tag damit, dass wir Mrs Neale mit dem Frühstück helfen. Wenn wir damit fertig sind, kommen in der Regel auch schon die ersten Bewohnerinnen zum Essen. In der Zeit können wir uns um ihre Zimmer und Bäder kümmern.“

In der Küche angekommen, übernahm Isabelle das Brotrösten, während Mrs Neale Eier kochte und Margaret den Esstisch deckte. Außerdem erfuhr Isabelle, dass die Bediensteten nach den Bewohnerinnen aßen. Natürlich hätte sie gern mit Marissa zusammen gegessen, aber sie wollte sich nicht beklagen.

Sobald alle beim Frühstück waren und Isabelle und Margaret gegessen hatten, brachte Margaret sie nach oben und wies sie ins Putzen ein. „Das lernst du sicher schnell“, sagte sie, als sie aus einem der Zimmer traten.

„Ja, im Hotel ist es sehr ähnlich gelaufen. Ich bin dankbar für alles, was ich dort gelernt habe.“

Mit einem ernsten Blick sah Margaret sie an. „Man sagt, dass ihr, du und Marissa, eigentlich aus einer sehr wohlhabenden Familie kommt.“

Bei dem leicht herablassenden Tonfall zuckte Isabelle kurz zusammen. „Nun, das stimmt. Erst vor Kurzem habe ich zum ersten Mal ein Bett bezogen oder eine Toilette geputzt. Es hat ein wenig gedauert, sich daran zu gewöhnen“, erklärte sie, während sie den Staubsauger über den Flur rollte. „Aber tatsächlich ist es ein gutes Gefühl, wenn man ein Zimmer wieder zum Glänzen bringt.“

Margaret lächelte. „Ich weiß, was du meinst. Du kannst ja dieses hier fertig machen und ich kümmere mich solange um Mrs Benningtons Zimmer.“

„Gut. Und danke für deine Hilfe.“

„Selbstverständlich. Ruf einfach, wenn etwas ist.“

Bevor Isabelle das nächste Zimmer betrat, klopfte sie. Als keine Antwort kam, ging sie hinein, den Staubsauger hinter sich herziehend. Gerade suchte sie die Wände nach einer Steckdose ab, da hörte sie ein dumpfes Geräusch. Die Bettdecke bewegte sich und ein blonder Kopf lugte darunter hervor.

„Oh, tut mir leid“, entschuldigte sich Isabelle sofort. „Ich dachte, es sei niemand hier.“

„Ist schon in Ordnung. Bleib ruhig“, sagte das Mädchen. Als es sich aus dem Bett schwang, wurde ihr runder Bauch sichtbar. Er war so groß, dass ihr ganzer Schoß darunter verschwand. Mit einem Ärmel wischte sie sich über die Augen.

Hatte die junge Frau etwa geweint? Besorgt schaute Isabelle sie an. „Geht es dir nicht gut? Soll ich jemanden rufen?“ Sie selbst hatte keine Ahnung, was eine Frau in den letzten Tagen ihrer Schwangerschaft brauchte.

„Nein, danke. Ich bin nur traurig, weil ich gestern leider schlechte Nachrichten bekommen habe.“

Mitfühlend trat Isabelle näher an das Mädchen mit dem tränenverschmierten Gesicht und dem zerzausten Haar heran. „Hm. Kann ich sonst irgendetwas für dich tun?“

Doch die junge Frau schüttelte nur den Kopf.

„Ich bin eine gute Zuhörerin, falls du reden magst.“

„Von meinen Problemen willst du sicher nichts wissen. Mein Vater sagt immer: ‚Dafür bist du selbst verantwortlich.‘“ Zitternd hielt sie sich ihre Hände vor den Mund.

„Ich verstehe dich besser, als du meinst. Meine Schwester ist auch eine der Bewohnerinnen hier“, sagte Isabelle und setzte sich neben sie aufs Bett. „Aber ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet. Mein Name ist Isabelle.“

„Ich bin Eloise“, sagte die junge Frau und sah zu ihr auf. „Ist deine Schwester das neue Mädchen, die Zimmernachbarin von Laura?“

„Ja, genau.“ Da Isabelle das Gefühl hatte, das Mädchen öffnete sich vielleicht eher, wenn sie auch etwas von ihrer Geschichte teilte, erzählte sie: „Marissa ist kurz nach dem Tod unserer Mutter schwanger geworden. Erst hat sie das vor mir versteckt, eine ganze Weile sogar. Sie hatte schreckliche Angst und wusste nicht, was sie tun sollte. Auch jetzt ist sie sich noch nicht sicher. Aber ich hoffe, dass die anderen Frauen hier ihr helfen können, eine gute Entscheidung zu treffen.“

Langsam strich Eloise mit einer Hand über ihren Bauch. „Ich habe leider keine Wahl. Sobald das Kind da ist, muss ich es zur Adoption freigeben“, erklärte sie und wieder traten ihr Tränen in die Augen.

„Das tut mir leid. Ist sicher nicht einfach.“

„Überhaupt nicht.“ Eloise zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel hervor und trocknete sich das Gesicht ab. „Und gestern hat mir der Vater des Kindes gesagt, dass ich von ihm keine Unterstützung erwarten soll. Genauso wenig wie von meiner Familie.“

Verständnisvoll nickte Isabelle und schwieg. Worte halfen da nicht. Eloise zuzuhören, war vielleicht das Einzige, das sie für sie tun konnte.

„Ich weiß, dass es das Beste für das Kind ist, wenn ich es abgebe. So hat es Chancen auf ein glückliches Zuhause, ein Elternhaus mit Mutter und Vater. Aber es wird das Schwierigste sein, das ich je getan habe“, fuhr sie fort und eine weitere Träne lief ihr über die Wange.

Isabelle tätschelte ihr den Arm. „Es ist sehr mutig von dir, das Wohl des Kindes vor deine eigenen Bedürfnisse zu stellen. Das macht eine echte Mutter aus. Ganz gleich, wie schwer es ist.“

Eloise nickte. „Danke, Isabelle. Ich hoffe sehr, dass es deine Schwester nicht ganz so schwer hat.“

Kurz drückte Isabelle ihre Hand und stand dann auf. „Gut, dann gehe ich jetzt besser zurück an die Arbeit. Sonst werde ich noch an meinem ersten Tag wieder entlassen“, sagte sie und lachte. „Und wenn du wieder einmal reden magst: Ich bin gern für dich da.“

„Das ist sehr nett von dir“, bedankte sich Eloise und stand auch auf. „Ich gehe nach unten, damit du hier weitermachen kannst“, sagte sie mit einem dankbaren Lächeln und ging.

Als Isabelle schließlich den Staubsauger eingesteckt hatte und mit dem Saugen begann, dachte sie an etwas, das ihre Mutter früher oft gesagt hatte.

„Du hattest recht, Mama“, flüsterte sie. „Auf dem Geben liegt so viel mehr Segen als auf dem Nehmen.“