Kapitel 34

Am nächsten Morgen wartete Isabelle ungeduldig auf Marks Besuch. Sie wollte ihn kurz abfangen, bevor er zu Marissa ging. Ihr Gespräch gestern Abend war besser verlaufen als erhofft. Zugegeben, er war verärgert gewesen, aber nicht so sehr, wie sie befürchtet hatte.

Als es laut an der Tür klopfte, eilte sie erleichtert zur Tür. „Ich gehe schon“, rief sie.

Auf dem Weg zur Tür ließ ein erneutes, noch lauteres Klopfen Isabelles Puls in die Höhe schnellen. Das war sicher nicht Mark. Niemals wäre er so unhöflich.

Kurz holte sie Luft und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein großer, finster dreinblickender Mann. Sofort erinnerte Isabelle sich an Olivias und Ruths Warnung vor ungebetenen männlichen Besuchern. Offenbar kam es nicht selten vor, dass Partner der Bewohnerinnen vorbeikamen und sie drängten, mit ihnen zu gehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich möchte Marissa Wardrop sehen. Und ein Nein akzeptiere ich nicht!“

Überrascht zog Isabelle die Brauen in die Höhe. Irgendwie kam ihr dieser Mann bekannt vor, doch sie wusste nicht, woher. Vielleicht war er ein Lehrer? „Und Sie sind?“

„Justin Henchley.“

Bei dem Namen hielt Isabelle kurz inne. „Der Chorleiter.“

Er kniff die Augen zusammen. „Ja, das stimmt. Kennen wir uns?“

Offensichtlich erkannte er sie nicht. Aber letztlich waren die beiden einander auch nie offiziell vorgestellt worden. Isabelle hatte sich immer im hinteren Teil des Saals aufgehalten, wenn sie mit Marissa zur Chorprobe gegangen war. Entschieden verschränkte Isabelle die Arme vor der Brust. „Ich bin Marissas Schwester. Was wollen Sie von ihr?“

Einen Augenblick lang schien er verblüfft, doch dann schob er stur das Kinn vor. „Das geht nur mich und Marissa etwas an“, sagte er und trat ungebeten in den Eingangsbereich. Seine Größe zwang Isabelle, ihm aus dem Weg zu gehen.

Sie wurde nervös. Was sollte sie jetzt tun?

„Woher wussten Sie, wo Sie Marissa finden würden?“, fragte Isabelle. „Die Namen unserer Bewohnerinnen sind vertraulich.“

Er richtete sich zu voller Größe auf und es sah so aus, als warnte er sie gleich, sich besser um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Doch stattdessen zuckte er bloß mit den Schultern. „Eine ihrer Freundinnen hat es mir erzählt.“

Unmut überkam Isabelle. Das musste Gloria gewesen sein. Sie war die Einzige, die Marissa eingeweiht hatte. „Und warum sollte sie es gerade Ihnen erzählen? Das geht Sie doch überhaupt nichts an. Marissa ist schon vor Wochen aus dem Chor ausgetreten.“

Mr Henchley runzelte die Stirn. „Nun, sie dachte wohl, ich hätte ein Recht darauf zu erfahren, dass Marissa mit meinem Kind schwanger ist.“

Auf einmal begannen Isabelles Knie zu zittern und eine Vielzahl von Emotionen überwältigte sie – Unglaube, Verwirrung und schließlich Wut. „Das ist doch lächerlich. Ich weiß, wer der Vater des Kindes ist. Marissa selbst hat es mir erzählt.“

Verärgert verschränkte Mr Henchley die Arme. „Ach ja? Und wer soll das bitte sein?“

Schnell biss Isabelle sich auf die Lippe, um nicht mit Joshs Namen herauszuplatzen. „Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber Sie sind es ganz gewiss nicht.“

Laut lachte er. „Ich weiß ja nicht, was für einen Bären Marissa Ihnen aufgebunden hat, aber ich bin hier, um die Wahrheit zu erfahren.“

Zweifel nagten an Isabelle und ließen alle Selbstsicherheit schwinden. Isabelle dachte an Marissas unerklärliches Verhalten, erst der abgelehnte Heiratsantrag und dann die Entscheidung zur Adoption – und mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Doch wenn das stimmte … wenn dieser Mann annahm, dass er der Vater des Kindes war, bedeutete das, dass er und ihre Schwester …

Isabelle wurde speiübel. Wütend hob sie den Blick zu Mr Henchley. „Wie konnten Sie nur! Sie ist doch noch ein junges Mädchen“, warf sie ihm mit vor Wut zitternder Stimme vor. „Und obendrein Ihre Schutzbefohlene. Wie konnten Sie ihr Vertrauen nur so ausnutzen?“

„Moment mal – ich war nicht derjenige, der das Ganze angefangen hat!“, wehrte er sich und hob die Hände entschuldigend in die Höhe. „Ich bin auch nur ein Mensch. Irgendwann habe ich einfach nachgegeben.“

„Wie bitte? So etwas würde Marissa niemals tun. Sie lügen!“ Hitze kroch Isabelles Nacken hoch, während sie in helle Wut geriet. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihre Hände bei sich zu behalten und ihn nicht zu ohrfeigen.

„Was ist hier los?“, erklang Olivias scharfe Stimme vom anderen Ende des Korridors. „Isabelle? Belästigt dich dieser Mann?“

Mit einem Mal bekam Isabelle kaum mehr Luft und sie hatte den Eindruck, als rückten die Wände um sie herum immer näher. „Bitte entschuldige mich. Ich brauche Luft“, sagte sie und eilte durch den Korridor in die Küche und raus in den Garten. Während sie sich auf die oberste Stufe der kleinen Holztreppe setzte, atmete sie tief durch und versuchte, die vielen Gedanken und Gefühle zu ordnen, die ihr durch den Kopf schwirrten.

„Irgendwann habe ich einfach nachgegeben.“

Das konnte unmöglich wahr sein. So verwegen war ihre Schwester nicht. Zweifelsohne hatte Mr Henchley gelogen, um seine eigene Schuld zu mildern.

Mehrere Sekunden lang konzentrierte Isabelle sich auf ihre Atmung und starrte blind in den Garten. Bisher hatte sie angenommen, dass Marissa und Josh sich von ihren Gefühlen füreinander hatten übermannen lassen. Der Gedanke, dass ihre Schwester sich auf eine viel verruchtere Beziehung eingelassen hatte, machte sie krank. Zumal Mr Henchley mindestens dreißig Jahre alt war! Und vielleicht sogar verheiratet.

Vor Verzweiflung ließ Isabelle den Kopf in die Hände fallen. Nein, Marissa hatte ihn sicher nicht verführt. Und selbst wenn sie es tatsächlich versucht haben sollte – hätte es nicht in seiner Verantwortung gelegen, ihr den Kopf zurechtzurücken?

Hinter Isabelle öffnete sich die Tür und die Treppenstufen aus Holz knarzten. Die Schritte näherten sich. Schnell wischte sie sich mit der Hand über die tränenfeuchten Wangen. „Tut mir leid, dass ich einfach davongelaufen bin, Olivia. Ist er jetzt weg?“

„Ich bin’s“, sagte Mark mit leiser Stimme und setzte sich vorsichtig neben sie, sodass ihre Beine sich berührten. „Sie hat mir gesagt, dass du ziemlich verärgert warst. Möchtest du darüber reden?“

Isabelle wagte es nicht, Mark anzusehen. Wie sollte sie ihm bloß beibringen, was dieser Mann ihr erzählt hatte? Wie ihm erklären, dass Marissa Josh die ganze Zeit über fälschlicherweise hatte glauben lassen, der Vater des Kindes zu sein? Dass er seine Zukunftspläne völlig umsonst aufgegeben hatte?

„Hat es etwas mit diesem Mr Henchley zu tun? Er sitzt gerade mit Marissa im Salon.“

Isabelle schloss die Augen. „Oh, Mark. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, sagte sie mit bebenden Lippen und wieder kamen ihr die Tränen.

Zärtlich legte Mark den Arm um sie und Isabelle fühlte eine tiefe Geborgenheit. Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und atmete seinen frischen Duft ein. Am liebsten hätte sie einfach in seinen schützenden Armen verharrt.

„Du kannst mir alles sagen“, ermutigte er sie. „Das weißt du hoffentlich.“

Dennoch vergingen einige Minuten, bis Isabelle wieder sprechen konnte. Vorsichtig hob sie den Blick und sah in seine besorgten Augen. „Mr Henchley behauptet, der Vater von Marissas Kind zu sein“, sagte sie kaum lauter als ein Flüstern.

„Er behauptet was?“ Schockiert riss Mark die Augen auf.

„Als ich ihm gesagt habe, dass wir wissen, wer der Vater ist, hat er bloß gelacht“, fuhr sie fort und biss sich auf die Lippe. „Aber … die Tatsache, dass er das für die Wahrheit hält, heißt …“ Den Satz vollendete sie nicht; diesen schrecklichen Gedanken konnte sie nicht laut aussprechen.

„Das heißt, dass ihm mal jemand die Leviten lesen sollte“, empörte sich Mark und stand schwungvoll auf.

„Mark, nicht! Warte!“ Auch Isabelle sprang jetzt auf, doch er war bereits ins Haus gestürmt.

Bis sie ihn eingeholt hatte, marschierte er bereits in den Salon.

„Entschuldigung, Marissa“, sagte er knapp, „aber ich muss mal alleine mit Mr Henchley sprechen.“

Marissa war weiß wie die Wand. Sie stand da, regungslos, die Hände auf dem Bauch.

Auch Isabelle stand wie erstarrt in der Tür, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre Schwester zu retten und Mark davon abzuhalten, handgreiflich zu werden.

„Es ist schon in Ordnung“, erwiderte Marissa. „Ich habe alles im Griff.“

„Nein, es ist überhaupt nichts in Ordnung“, entgegnete Mark aufgebracht und trat so nah an Mr Henchley heran, dass ihre Nasen sich beinahe berührten. „Sie gehören verhaftet!“

„Whoa.“ Mit erhobenen Händen trat Mr Henchley einen Schritt zurück. „Wir bleiben jetzt mal ganz ruhig. Nachdem ich von Marissas Umständen erfahren habe, bin ich sofort hergekommen. Und ich weiß, was ich zu tun habe.“

Fassungslose Stille. Der finstere Blick in seinem Gesicht zeugte davon, dass auch er nicht gerade angetan war von der Situation.

Isabelle trat auf ihre Schwester zu. „Marissa?“ Sie schaffte es nicht, zu fragen, ob Mr Henchleys Behauptung der Wahrheit entsprach. Stattdessen fragte sie: „Was hast du zu alledem zu sagen?“

Marissa sah hundeelend aus und ihre Beine begannen zu zittern. „I-ich glaube, ich muss mich hinlegen.“ Und dann sank sie zu Boden.

Sofort sprang Mark an ihre Seite und tastete nach ihrem Puls.

Wütend drehte sich Isabelle zu Mr Henchley. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Sie gehen jetzt besser.“

„Auf keinen Fall, ich gehe nicht, bis wir das hier geklärt haben.“

Ebenso aufgebracht stellte Mark sich wieder zu Isabelle. „Marissa ist offensichtlich nicht in der Lage, gerade irgendetwas zu erklären. Entweder Sie verschwinden jetzt oder ich rufe die Polizei.“

Die zwei Männer starrten sich an und man hörte beinahe, wie die Wut in ihnen brodelte. Wenngleich Mr Henchley sicher zehn Kilo schwerer war als Mark, hatte Isabelle keinen Zweifel daran, dass Mark der Stärkere der beiden war. Inniglich betete sie jedoch, dass es nicht zu einem Handgemenge kam.

„Also gut, ich gehe“, sagte er und warf einen Blick zu Marissa, die noch immer am Boden lag. „Aber ich komme wieder.“

Unruhig ging Isabelle vor Marissas und Lauras Zimmer auf und ab und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sobald Marissa wieder zu sich gekommen war, hatte Mark sie nach oben getragen und untersucht. Es sah so aus, als ginge es ihr und dem Baby gut, der Schreck hatte sie bloß überwältigt. Dennoch hatte Mark ihr zu Vorsicht und Bettruhe für den restlichen Tag geraten. Dann war er gegangen.

In gewisser Weise war Isabelle erleichtert, dass Mark noch einen Termin im Krankenhaus hatte. Denn bevor sie ihm wieder begegnen wollte, musste sie mit Marissa über die Vaterfrage sprechen.

Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spaltbreit und linste hinein. Marissa lag mit dem Gesicht zur Wand, ihr Rücken hob und senkte sich gleichmäßig. Das beruhigte Isabelle. Schlaf war vermutlich jetzt gerade das Beste für Marissa. Isabelles Fragen konnten warten.

Am Morgen darauf erzählte Olivia Isabelle, dass Marissa zum Frühstück heruntergekommen war und den gestrigen Tag wohl trotz allem unbeschadet überstanden hatte, sie habe bloß ein wenig verhalten geschienen. Dankbar über diese Nachricht wartete Isabelle bis nach dem Mittagessen, um mit Marissa zu sprechen.

Vorsichtig schob sie den Kopf ins Speisezimmer, wo Marissa sich nach dem Essen noch mit zwei anderen Bewohnerinnen unterhielt. „Marissa, könntest du mir bitte kurz im Garten helfen?“

„Eigentlich wollte ich gerade hochgehen und mich etwas hinlegen.“

„Es dauert nicht lange.“

Missmutig blickte Marissa sie an, nickte aber.

Isabelle ging kurz in die Küche, holte einen Korb und trat in den Garten. „Mrs Neale braucht Rote Beete für das Abendessen. Und ich habe ihr gesagt, dass wir welche ernten.“

„Sehe ich so aus, als sollte ich Rote Beete ernten?“, murrte Marissa, während sie mit einer Hand über den Bauch strich.

„Du musst dich auch nicht bücken, halt einfach den Korb für mich.“

Zielstrebig schritt Isabelle zu dem Beet, das Mrs Neale ihr gezeigt hatte. Dort kniete sie nieder und zog an einem grünen Büschel, bis ein Rote Beete zum Vorschein kam.

„Kaum zu glauben, dass du weißt, wie man Gemüse erntet“, sagte Marissa und ihre Lippen formten ein kleines Lächeln.

„Ich weiß“, erwiderte Isabelle und erntete noch zwei weitere. „Tatsächlich fühlt es sich gut an, sein eigenes Essen zu ernten.“ Während sie sprach, sammelte sie noch ein paar weitere Rote Beeten, bis sie schließlich die staubigen Hände abklopfte. „Aber ich bin mir sicher, dass du weißt, warum ich dich eigentlich hierher gebeten habe.“

Sofort wandte Marissa den Blick von Isabelle ab und beschäftigte sich mit dem Gemüse im Korb.

„Du musst jetzt bitte ehrlich mit mir sein, Marissa. Ganz gleich, wie schlimm es auch sein mag.“

Mit einem Seufzen nickte sie.

„Sagt Mr Henchley die Wahrheit?“, fragte Isabelle und betrachtete ihre Schwester genau.

Marissa schloss die Augen und nickte erneut. „Es tut mir leid, Belle“, sagte sie kaum lauter als ein Flüstern. „Eigentlich solltest du das niemals erfahren.“

Isabelle schwieg. Insgeheim hatte sie mit dieser Antwort gerechnet, deshalb war der Schock nicht mehr so groß wie gestern.

„Ich wollte dich nicht belügen, aber …“ Marissa presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich so geschämt.“

Einerseits wollte Isabelle ihre Schwester gerne trösten, andererseits konnte sie nicht ohne Weiteres über Marissas Fehler hinwegsehen. Es war nicht leicht, mit den gegensätzlichen Gefühlen fertigzuwerden. „Aber wie ist es dazu gekommen? Hat er sich dir aufgedrängt?“

„Nein … das Ganze geht auf mich zurück“, räumte sie ein. „Ich hatte mich ziemlich in ihn verguckt und das auch nicht verborgen. Josh hat versucht, mich zu warnen, aber ich habe nicht auf ihn gehört.“

Eine riesige Welle der Enttäuschung brach über Isabelle zusammen. Es stimmte also. Mr Henchley hatte die Wahrheit gesagt und Marissa war diejenige, die diese Affäre ins Rollen gebracht hatte. Dennoch, sie war erst siebzehn! Er hätte so viel Anstand haben müssen, ihren unangemessenen Versuchen zu widerstehen.

Isabelle und Marissa setzten sich auf die Holzbank neben dem Zaun. Eine kühle Brise wehte durch das Efeu, das an den Pfählen hochwuchs.

Mühsam versuchte Isabelle, ihre Gedanken zu sortieren. „Und warum hast du Mr Henchley nicht gesagt, dass du schwanger bist? Wieso hast du alle glauben lassen, dass Josh der Vater ist?“

„Eigentlich wollte ich es ihm sagen, aber als der Moment da war, da … da habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht“, sagte Marissa und fingerte währenddessen am Weidenkorb. „Und als ihr Josh für den Vater gehalten habt, hat er darauf bestanden, dass wir euch in diesem Glauben lassen, mir zuliebe. Er wollte nicht, dass ich noch irgendetwas mit Justin … mit Mr Henchley zu tun habe.“ Marissas Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Also habe ich Josh entscheiden lassen. Und er möchte, dass wir uns gemeinsam um das Kind kümmern.“

„Das Kind eines anderen Mannes aufzuziehen ist eine große Sache.“

„Ich weiß“, gab Marissa ihr mit gesenktem Blick recht. „Deshalb habe ich mich ja letztlich auch dazu entschieden, das Kind doch zur Adoption zu geben. Dass Justin hier aufkreuzen würde, hätte ich nie gedacht.“

Verärgert biss Isabelle die Zähne zusammen. Dass Marissa diesen Mann beim Vornamen nannte, untermauerte bloß, was für eine unanständige Beziehung die beiden hatten. Er war ihr Lehrer, ihr Mentor! Ein erwachsener Mann mit jahrelanger Berufserfahrung, der ein verliebtes Schulmädchen niemals so hätte ausnutzen dürfen.

„Ob es uns gefällt oder nicht“, sagte Isabelle schließlich, „Mr Henchley hat das Recht darauf zu erfahren, dass du sein Kind austrägst.“

Marissa nickte. „Gestern war ich noch fuchsteufelswild auf Gloria, dass sie es ihm gesagt hat. Aber … vermutlich hat sie nur das Richtige getan.“

Nachdenklich rieb Isabelle die Hände über die Schürze. „Er hat gestern auch davon gesprochen, jetzt für seine Handlungen geradestehen zu wollen. Aber … würdest du ihn heiraten wollen?“ Nur schwer kamen ihr die Worte über die Lippen, sie schmeckten bitter wie Galle. Unmöglich konnte sie sich ihre Schwester und Mr Henchley als Paar vorstellen!

„Nein“, sagte Marissa und schob trotzig das Kinn vor. „Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass er kein Mann ist, den ich mir als Ehemann wünschen würde.“

Sofort setzte Isabelles Beschützerinstinkt ein. „Warum? Hat er dir wehgetan?“

„Nein. Also nicht wortwörtlich“, erwiderte Marissa und hielt kurz inne. „Aber an dem Tag, als ich ihm von dem Baby erzählen wollte, habe ich gesehen, wie er eine andere Frau geküsst hat. Und da ist mir klar geworden, dass er das mit mir überhaupt nicht ernst gemeint hat.“

Aufgebracht sprang Isabelle von der Bank auf. „Was für ein Mann lässt sich auf ein verliebtes Teenager-Mädchen ein, wenn er eigentlich eine andere Frau hat?“

„Ein Mensch mit Fehlern“, sagte sie leise, „genau wie ich.“

„Aber seine sind deutlich schwerwiegender, das darfst du mir glauben“, versuchte Isabelle sie zu trösten und verschränkte die Arme vor der Brust, als könnte sie so verhindern, dass sich ihre Wut einen Weg bahnt. „Mr Henchley ist so viel älter als du. Er hätte sich besser unter Kontrolle haben müssen.“

Marissa antwortete nicht, sie streichelte bloß weiter mit der Hand über den Bauch. Als Isabelle ihren Blick sah, verflog ihr Ärger. Es war offensichtlich, dass Marissa ihr Kind liebte. Der Gedanke, es abzugeben, brach ihr sicherlich das Herz.

Beherrscht setzte sie sich wieder neben ihre Schwester, nahm ihre Hand und sagte mit bewusst sanfter Stimme: „Bist du dir sicher, dass du das Kind abgeben möchtest, Liebes? Wenn Josh sich dazu bereit erklärt hat, das Kind mit dir großzuziehen, warum lässt du dich nicht darauf ein?“

Entschieden schüttelte Marissa den Kopf. „Ich werde ihm keine Verantwortung aufbürden, die er nicht tragen muss. Er soll es mir oder dem Kind nicht eines Tages übel nehmen, dass wir sein Leben ruiniert haben“, sagte sie und fügte mit einem traurigen Lächeln hinzu: „Eine Adoption ist für uns alle die beste Lösung.“

Nachdenklich betrachtete Isabelle sie. „Josh ist dir sehr wichtig, oder?“

Marissa nickte. „Er ist einer der fürsorglichsten und besten Menschen, die ich kenne.“ Eine kleine Träne kullerte über ihre Wange. „Wenn ich nur nicht alles kaputt gemacht hätte …“

„Ach, Liebes“, tröstete Isabelle sie und nahm sie mit einem Seufzen in die Arme. „Wie sind wir nur in diesem schrecklichen Chaos gelandet?“

Traurig vergrub Marissa ihr Gesicht an Isabelles Schulter. „Wenn ich das nur wüsste.“

Einige Minuten lang saßen die beiden einfach nur da, Arm in Arm. Trotz der fürchterlichen Umstände freute Isabelle sich, dass sie sich wieder so nahe waren. Und jetzt, da Marissa ihr Geheimnis nicht länger vor ihr verbergen musste, vertraute sie Isabelle vielleicht auch wieder mehr und verließ sich auf ihre Unterstützung.

„Was auch immer geschieht, es wird alles gut werden“, sagte Isabelle und strich Marissa über das seidenglatte Haar. „Ich glaube immer noch daran, dass Gott einen Plan für uns hat. Dass er uns durch diese schwere Zeit hindurchtragen wird, bis wieder glücklichere Tage kommen.“

„Hoffentlich hast du recht“, sagte Marissa, die sich nun die Tränen aus den Augen wischte. „Es ist höchste Zeit für ein bisschen Glück.“

Das sah Isabelle genauso. Doch wenn sie daran dachte, Mark die Wahrheit beichten zu müssen, bezweifelte sie, dass das Glück in naher Zukunft lag.