Kapitel 35

Mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch verließ Mark Dr. Shrivers Büro. War die Kündigung das Richtige gewesen? Damit hatte Dr. Shriver sicher nicht gerechnet, als er Mark darum gebeten hatte, nicht weiter für das Mütterheim zu arbeiten. Aber wer konnte es dem Mann übel nehmen, nicht damit gerechnet zu haben, dass Mark seine Festanstellung im Krankenhaus einfach so aufgeben würde.

Darin wiederum zeigte sich, dass seine Kollegen Mark nicht gut kannten. Sein Herz schlug vor allem für die Armen und Notleidenden, nicht für die Oberklasse. Und obgleich sein Chef die Entscheidung nicht verstand, hatte er wenigstens den Anstand gehabt, Mark alles Gute auf seinem neuen Weg zu wünschen.

In den zwei Wochen vor seinem letzten Arbeitstag würde Mark noch im Krankenhaus arbeiten und zeitgleich weiterhin die Praxis renovieren müssen, damit er ab Anfang September Patienten aufnehmen konnte.

Dank Ruths Geldgeber hatte er auch die Mittel, um die nötige Ausrüstung zu besorgen und die Räume mit Möbeln auszustatten. Sogar die Frage nach Mitarbeitern hatte er dank einer Idee von Isabelle bereits klären können. So hatte sich eins nach dem anderen gefügt und es stand nur noch ein letztes Gespräch mit Dr. Axelrod aus, bevor sie die Arbeit in der Praxis aufnehmen würden.

Wenn es Mark doch nur gelänge, mehr darauf zu vertrauen, dass er damit Gottes Ruf folgte. Aber … ein wenig Respekt vor so einem großen Schritt schadete sicher auch nicht. Er hoffte bloß, dass sich die Aufregung mit der Zeit legen würde.

Die Enttäuschung über Marissa und das Baby würde sich jedoch nicht so bald wieder legen.

Wenngleich er schon am Tag nach dem Vorfall bei Ruth angerufen hatte, um sich nach den beiden zu erkundigen, war er seither noch nicht wieder in Bennington Place gewesen. Er redete sich ein, dass er Isabelle Zeit geben wollte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch eigentlich fürchtete er, die Antwort bereits zu kennen. Er wusste nur nicht, wie er damit umgehen sollte, wenn Marissa Josh tatsächlich die ganze Zeit über angelogen hatte und ihn nur hatte glauben lassen, dass sie mit seinem Kind schwanger war.

Da Isabelle sich seither auch nicht bei ihm gemeldet hatte, nahm Mark an, dass ihr genauso vor dem nächsten Gespräch graute wie ihm. Mit einem Seufzen machte er sich auf in die Notaufnahme.

Eigentlich hatte sich ihre Beziehung bisher in eine sehr gute Richtung entwickelt – doch wie würde es wohl jetzt weitergehen?

Image

Seit bald einer Woche hatte Isabelle Mark nicht mehr gesehen, was auf der einen Seite eine Erleichterung war, auf der anderen aber auch eine Enttäuschung. Von Ruth wusste sie, dass er mit der Fertigstellung der Praxisräume beschäftigt war.

Insgeheim hatte sie aber den Eindruck, dass er ihr absichtlich aus dem Weg ging – vielleicht, weil die Sache um Marissa ein zusätzlicher Stressfaktor in seinem ohnehin schon sehr vollen Leben war? Früher oder später musste er allerdings erfahren, dass Josh nicht der Vater von Marissas Kind war.

Isabelle überlegte, ob sie ein Feigling war, ihn nicht aufzusuchen. Aber dann rechtfertigte sie sich, dass es auf die paar Tage letztlich auch nicht mehr ankam.

Da es nun mit großen Schritten auf den September zuging, war auch das Wetter umgeschlagen, es regnete viel und stürmte häufiger. Die Bewohnerinnen verbrachten deutlich mehr Zeit im Inneren, weshalb sie leider launenhafter und leichter reizbar waren.

Ging ein langer Arbeitstag zu Ende, war Isabelle froh, sich in ihr eigenes Zimmer zurückziehen zu können.

Während sie sich jetzt bettfertig machte, rief der prasselnde Regen Erinnerungen an ihre Kindheit wach. Früher hatte sie es geliebt, wenn es draußen geblitzt und gedonnert hatte: Im schützenden Arm ihres Vaters hatte sie von der Veranda aus das Gewitter beobachtet. Marissa hingegen hatte sich immer davor gefürchtet und war oft mitten in der Nacht zu Isabelle ins Bett gekrochen, wenn ein Donnerschlag sie geweckt hatte.

Wie ein Echo ihrer Gedanken donnerte es nun so stark, dass selbst die Holzdielen ächzten. Nur wenige Sekunden darauf leuchtete ein heller Blitz auf, bis wieder ein Donnergrollen zu hören war. Das Gewitter rückte näher.

Neugierig stand Isabelle auf und schritt ans Fenster. Die Baumwipfel wogen sich im Wind und warfen wilde Schatten auf die Wiese und die umliegenden Häuser. Ein Gewitter hatte so etwas Natürliches an sich, dass Isabelle sich plötzlich so lebendig vorkam wie schon lange nicht mehr. Einen Moment lang fühlte es sich sogar fast so an wie früher, als stünde ihr Vater neben ihr und schaute mit ihr aus dem Fenster.

Ein Klopfen holte sie aus den Gedanken. „Ich bin’s“, ertönte Marissas Stimme von draußen und kurz darauf schob sich ihr Kopf ins Zimmer.

Eine wohlige Wärme breitete sich in Isabelles Brust aus – vielleicht brauchte ihre kleine Schwester sie ja doch noch.

„Kannst du mal kommen? Laura hat Wehen und ich habe Angst, dass es gleich losgeht.“

Sofort schnellte Isabelles Puls in die Höhe. Sie wusste rein gar nichts über Wehen – doch bei dem angsterfüllten Blick ihrer Schwester erzählte sie das lieber nicht. Wenn ihre Anwesenheit Marissa ein gutes Gefühl gab, würde sie sich die Situation natürlich einmal anschauen und, wenn nötig, Ruth wecken. „Ja, ich komme.“

Schnell warf sie sich ihren Morgenmantel über und folgte Marissa aufs Zimmer. Ein weiterer Blitz erhellte das Treppenhaus, aber das nächste Donnern klang bloß noch wie ein Grummeln.

Wortlos öffnete Marissa die Zimmertür und ließ Isabelle den Vortritt.

An Lauras Bett leuchtete ein kleines Nachtlicht und sie saß aufrecht gegen die Kissen gelehnt, die Augen vor Angst weit geöffnet.

„Wie geht es dir, Laura?“

„I-ich habe Angst“, erwiderte sie mit einer Hand über dem runden Bauch unter der Decke.

„Das glaube ich dir“, sagte Isabelle und holte den Stuhl ans Bett. „Wie schnell kommen die Wehen?“

„Etwa alle zehn Minuten.“

Nun erschien auch Marissa hinter Isabelles Stuhl. „Das ist gut, denke ich.“

Plötzlich machte Laura ein schmerzverzerrtes Gesicht und stöhnte laut.

„Das ist schon die nächste“, flüsterte Marissa. „Sie kommen immer schneller.“

Tapfer hielt Isabelle dem Mädchen die Hand, bis sich ihre Anspannung löste und sie wieder normal atmete.

„Ich glaube, ich muss auf die Toilette. Könnt ihr mir hochhelfen?“

„Natürlich“, erwiderte Isabelle und wartete, bis Laura die Beine aus dem Bett schwang. Gemeinsam nahmen sie Laura je unter einen Arm und gingen in kleinen Schritten voran. Auf einmal blieb Laura abrupt stehen, beugte sich leicht vornüber und schrie auf.

„Was ist los? Wieder eine Wehe?“, fragte Marissa.

Ängstlich schüttelte Laura den Kopf. „Nein, ich glaube, meine Fruchtblase ist geplatzt.“

Isabelle warf einen Blick auf den Boden, wo sich um Lauras Füße eine Pfütze bildete. Wieder verzerrte sie das Gesicht und zog eine Hand frei, um sich den Bauch zu halten.

Jetzt wurde auch Isabelle nervös, denn es bestand kein Zweifel mehr: Das Kind war auf dem Weg. Und es kam eher früher als später.

Besorgt wandte sie sich an Marissa: „Kannst du Laura zum Bad begleiten? Ich wecke Ruth und bitte sie, die Hebamme anzurufen.“

Etwa eine halbe Stunde später saßen Isabelle und Marissa bei Laura und versuchten, ihr so gut wie möglich durch die Schmerzen zu helfen. Vor wenigen Minuten war Ruth bei ihnen gewesen und hatte gesagt, dass Mrs Dinglemire gerade bei einer anderen Geburt half und deshalb nicht kommen konnte, sie aber Dr. Henshaw hergebeten habe.

„Bei ihm bist du in guten Händen“, hatte Isabelle Laura beruhigt und betete, dass sie die Geburt mit Marks Hilfe gut durchstand.

Während sie auf ihn warteten, wurden die Wehen immer schneller und intensiver. Nach einer besonders schmerzvollen Kontraktion begann Lauras Kinn zu beben.

„Halte durch, Liebes. Der Arzt ist gleich hier.“

Laura festigte den Druck auf Isabelles Hand. „Bitte geh nicht, wenn er kommt“, bat sie und zwei dicke Tränen rannen über ihre Wange.

„Ich bleibe, solange wie Dr. Henshaw es erlaubt“, versicherte sie ihr und tupfte ihr mit einem nassen Tuch über das Gesicht. „Es wird alles gut.“

Jetzt klopfte es. „Ich bin’s, Dr. Henshaw. Darf ich hereinkommen?“

Marissa, die die ganze Zeit über nervös durch das Zimmer getigert war, öffnete ihm die Tür.

„Hallo, Marissa. Ich bin für-“ Abrupt hielt er inne, als er Isabelle erblickte. „Isabelle? Dich habe ich hier nicht erwartet.“

Erleichtert stand sie auf. „Wir haben unser Bestes gegeben, um Laura durch die Wehen zu helfen. Und sie macht das wirklich gut bisher.“

Mark schenkte ihr einen bedeutungsschweren Blick. „Danke“, sagte er und wandte sich von Isabelle zu Marissa. „Aber am besten wäre, wenn ihr beiden uns jetzt allein lassen würdet. Ich übernehme.“ Er stellte seine Tasche ab und knöpfte seine Jacke auf.

„Ich möchte, dass Isabelle bei mir bleibt. Bitte, Dr. Henshaw“, bat Laura.

Isabelle streichelte die Hand des Mädchens, sah in ihr ängstliches Gesicht und dann zu Mark. Wenn er es zuließ, würde sie bleiben und ihr weiterhin Mut zusprechen.

Nachdenklich zog Mark die Brauen zusammen, er schien seine Antwort abzuwägen. „Hm, es ist nicht üblich, dass unverheiratete Frauen bei einer Geburt dabei sind. Traust du dir das zu, Isabelle?“

Entschieden nickte sie. „Es kann sicher nicht schaden, mir ein Bild davon zu machen, was Marissa bald erwartet“, sagte sie und sah mit einem Lächeln zu Marissa. Sie hingegen war aschfahl geworden und sah aus, als begriff sie jetzt erst, dass ihr in etwa vier Wochen das Gleiche bevorstand.

„Also gut“, sagte er, während er sein Stethoskop und ein paar weitere Instrumente aus seiner Tasche holte. „Aber Marissa sollte besser woanders warten. Es ist nicht gut, sie so kurz vor der Geburt unnötig aufzuwühlen.“

Unsicher knetete Marissa ihre Hände und sah zu ihrer Freundin.

„Ist schon in Ordnung, Marissa. Ich bin ja bei ihr“, sagte Isabelle und legte eine Hand auf die Schulter ihrer Schwester. „Wenn du magst, kannst du dich in meinem Zimmer ausruhen.“

Schließlich nickte Marissa und sagte: „Ich bete für dich, Laura.“

Diese schaffte es gerade noch schwach zu lächeln, bevor die nächste Wehe einsetzte.

Unbeeindruckt holte Mark sich einen Stuhl ans Bett und sah kurz zu Isabelle. „Bitte warte kurz draußen, während ich Laura untersuche. Sobald ich weiß, wie die Dinge stehen, kannst du wieder hereinkommen.“

Mit einem Lächeln drückte sie Lauras Hand. „Ich warte direkt vor der Tür. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut.“

Image

Einige Stunden später wischte Mark sich den Schweiß von der Stirn und begann sich zu entspannen. Danke, Herr, für eine sichere Geburt.

Einen Moment lang sah er der frisch gebackenen Mutter dabei zu, wie sie die ersten Augenblicke mit ihrem Baby genoss. Diese Glücksmomente machten seine Arbeit jede Mühe wert. Ein neues Leben auf die Welt zu bringen, war wahrlich ein Geschenk. Eines, das er nie für selbstverständlich erachtete.

Langsam wanderte sein Blick zu Isabelle. Ihr Zopf lag über einer Schulter und ein paar Haarsträhnen hatten sich daraus gelöst. Kleine Tränen rannen über ihre Wangen, als sie über die Wange des Babys streichelte. „Er ist wunderschön, Laura. Ein Wunder.“

Die ganze Nacht über war Isabelle eine unglaublich tatkräftige Hilfe gewesen. Sie hatte Laura sowohl beruhigt als auch, wenn die Kräfte schwanden, ermutigt weiterzumachen. Ihre Anwesenheit hatte Mark die Arbeit erheblich erleichtert.

„Isabelle, vielleicht möchtest du Marissa jetzt die frohe Botschaft überbringen?“

Freudestrahlend nickte sie und fragte: „Darf sie wiederkommen, wenn sie noch wach sein sollte?“

„Natürlich. Ich brauche noch etwa zwanzig Minuten, dann bin ich hier fertig.“

Sanft gab Isabelle Laura einen Kuss auf die Stirn. „Du warst großartig, Laura. Herzlichen Glückwunsch“, sagte sie und trat zur Tür hinaus.

Mark wollte Isabelle nicht ohne ein Dankeschön gehen lassen, da er nicht wusste, ob er sie heute Nacht noch wiedersehen würde. „Ich bin sofort wieder da, Laura“, sagte er schnell und folgte ihr auf den Flur. „Isabelle? Warte kurz.“

Überrascht drehte sie sich um.

Mark trat so nah an sie heran, dass ihm ihr blumiger Duft in die Nase stieg. „Ich wollte dir noch Danke sagen. Du warst so fürsorglich. Und auch mir warst du eine große Hilfe.“

Ein breites Lächeln bildete sich auf ihren Lippen und ihre Augen strahlten. „Das freut mich. Es lässt einen staunen, wenn ein neues Leben auf die Welt kommt.“ Wärme erfüllte Marks Brust. Isabelle verstand, wie einzigartig eine Geburt war. Das gelang nicht jedem, vor allem nicht unverheirateten Frauen.

„Und du hast auch sehr gute Arbeit geleistet“, erwiderte sie lächelnd. „Immer bist du ruhig geblieben und hast sie ermutigt. Hoffentlich kannst du auch Marissas Kind auf die Welt holen.“

Normalerweise mischte Mark sich nicht in Mrs Dinglemires Aufgabenbereich ein, aber wenn es Isabelle so viel bedeutete, würde er es dieses Mal wagen. „Das sehen wir, wenn es so weit ist.“ Im Moment musste er sich auf das Neugeborene und seine Mutter konzentrieren.

Isabelle nickte. „In Ordnung. Gute Nacht, Mark. Ich hoffe, wir finden bald Zeit, um uns in Ruhe zu unterhalten.“ Ihr Blick zeigte Mark, dass auch sie die Anspannung zwischen ihnen spürte.

„Ganz bestimmt“, erwiderte er und ohne lange darüber nachzudenken, umschloss er zärtlich ihr Gesicht und küsste sie.

Mit einem Lächeln auf den Lippen kehrte er zu seiner Patientin zurück. Was für ein Segen, wenn er Isabelle zur Frau hätte!