Als Laura am nächsten Tag nach Isabelle rufen ließ, freute sie sich, den Kleinen wiedersehen zu dürfen. Vielleicht durfte sie ihn dieses Mal sogar halten.
Laura saß im Bett und wiegte das Kind, als Isabelle hereinkam.
„Guten Morgen. Oder ist es schon Nachmittag? Nachdem ich heute so spät aufgestanden bin, habe ich völlig das Zeitgefühl verloren“, sagte Isabelle und lachte. Sie war gerade erst eingeschlafen, als die Sonne wieder aufgegangen war, und Ruth hatte ihr freundlicherweise vorgeschlagen, den Vormittag freizunehmen. „Wie geht es dir heute, Laura?“
„Wund und ausgelaugt“, sagte sie, „aber überglücklich.“ Voller Liebe blickte sie auf ihren Sohn herab. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. „Ich habe jetzt doch entschieden, ihn zu behalten, Isabelle. Ich kann ihn einfach nicht abgeben.“
„Das ist sehr mutig von dir“, erwiderte Isabelle vorsichtig und als sie auf das kleine Wesen in Lauras Armen sah, konnte sie sich nicht vorstellen, jemals eine so schwierige Entscheidung zu treffen.
„Kannst du vielleicht bei mir bleiben, wenn ich es Mrs Wilder sage? Sie sollte jeden Moment hier sein.“
„Natürlich.“
Während sie auf Mrs Wilder warteten, erzählte Laura ihr, dass sie den Kleinen John nennen wollte, nach ihrem Vater. Sie hoffte, ihn damit etwas milder zu stimmen.
Eine schöne Geste, wie Isabelle fand. Und sie beschloss, noch intensiver dafür zu beten, dass Lauras Familie sie und den Kleinen wieder bei sich aufnahm.
Als die Sozialarbeiterin in dem professionellen marineblauen Kostüm und der Aktentasche hereinkam, hatte Isabelle John gerade auf dem Arm. Der Anblick überraschte die Frau anscheinend. „Guten Morgen, mein Name ist Mrs Wilder. Und Sie sind? Eine Verwandte von Laura?“
„Nein, nur eine Freundin“, erwiderte Isabelle und legte das Baby zurück in Lauras Arm, in der Hoffnung, dass die Geste für sich sprach.
„Ich habe Isabelle gebeten, bei unserem Gespräch dabei zu sein“, erklärte Laura.
„Einverstanden“, sagte Mrs Wilder, während sie die Tasche abstellte und einen Ordner mit einigen Formularen herausholte. „Ich nehme an, Sie sind bereit, das Baby heute abzugeben?“
„Eigentlich nicht. Ich habe mich doch noch einmal umentschieden“, sagte Laura mit zitterndem Kinn, doch in ihrem Blick lag Entschlossenheit. „Ich möchte mein Kind behalten.“
„Oh. Ich verstehe“, erwiderte Mrs Wilder und legte die Papiere auf der Kommode ab. „Also haben sich Ihre Umstände geändert?“
„Eigentlich nicht“, sagte Laura und drückte das Baby ein wenig enger an sich. „Außer dass die Frauen hier in Bennington Place mir ihre Hilfe angeboten haben. Ich darf bleiben, bis ich eine Arbeit und eine andere Unterkunft gefunden habe.“
„Das könnte sich jedoch als deutlich schwieriger herausstellen, als es zunächst klingt“, entgegnete Mrs Wilder vorsichtig.
„Schwierig, aber nicht unmöglich“, warf Isabelle ein und trat einen Schritt vor. Sie hatte das starke Gefühl, die Entscheidung ihrer Freundin verteidigen zu müssen.
Mrs Wilder wandte sich zu Isabelle um. „Nun, ich gebe meinen Klientinnen gern einen ehrlichen Blick auf das, was ihnen bevorsteht, wenn sie so eine lebensverändernde Entscheidung treffen. Ich muss schließlich abschätzen, ob das Kind Gefahr läuft, nicht gut versorgt zu werden.“ Schnell hob sie die Hand. „Nicht absichtlich, sondern bloß aufgrund der Schwierigkeiten, die einer unverheirateten Mutter begegnen können.“
Da Laura stillschwieg, hielt auch Isabelle sich zurück und wartete Mrs Wilders nächste Reaktion ab.
„Müttern in dieser Situation schlage ich normalerweise einen neuen Termin vor“, fuhr sie fort, „in zwei oder drei Wochen. Dann können wir noch einmal gemeinsam alles überdenken. Und wenn Sie vorher schon mit mir sprechen möchten, bitten Sie einfach Mrs Bennington, mich anzurufen.“
„Einverstanden“, sagte Laura mit leiser Stimme.
Ein freundlicher Blick machte Mrs Wilders Gesichtszüge etwas milder. „Bitte denken Sie nicht, dass ich bloß alles verkomplizieren möchte, Laura. Aber es ist meine Aufgabe, das Wohl der Kinder sicherzustellen. Wenn eine Mutter mir glaubhaft zeigt, wie sie das Kind gut versorgen kann, unterstütze ich das natürlich.“ Sie trat einen Schritt näher und blickte auf das schlafende Baby. „Ich hoffe, Sie finden einen Weg.
„Danke“, flüsterte Laura.
Mrs Wilder sammelte die Papiere zusammen und verstaute sie wieder in der Tasche. „Gut. Vielleicht können Sie mir noch sagen, wo ich Marissa Wardrop finde? Sie ist mein nächster Termin.“
Isabelles Herz zog sich zusammen. Hatte ihre Schwester diesen Termin ausgemacht oder gehörte das zur Routine? „Ich denke, sie ist unten im Salon.“
„Danke sehr. Und auf Wiedersehen.“
Isabelle folgte der Frau in den Flur.
Lächelnd drehte Mrs Wilder sich zu ihr um. „Oh, Sie müssen mir nicht den Weg zeigen, ich kenne das Haus bereits.“
Einen Moment lang sahen die zwei Frauen sich in die Augen. Vielleicht hatte Marissa das Gefühl, sich schon entschieden zu haben, doch Isabelle würde nicht zulassen, dass diese Frau sie unnötig unter Druck setzte. Nein, sie wollte sich selbst davon überzeugen, ob Marissa tatsächlich bereit war, das Kind zur Adoption zu geben. „Wie es aussieht, begleite ich Sie auch zu Ihrem nächsten Termin, Mrs Wilder. Marissa ist meine Schwester.“
Mit den Schecks der zwei neuen Geldgeber in den Händen stand Mark von seinem Stuhl in Ruths Büro auf. „Bitte danke deinen Freunden noch einmal für ihre großzügige Unterstützung. Sobald ich kann, schreibe ich ihnen auch eine persönliche Dankeskarte und lade sie natürlich zur Praxiseröffnung ein.“
„Das würde sie sicher freuen. Und bis dahin gebe ich deinen Dank weiter“, erwiderte Ruth mit einem Lächeln.
„Und dir möchte ich auch noch mal danken, Ruth“, sagte er mit ernster Miene. „Ohne dich und deine Mühe gäbe es diese Praxis nicht.“
„Sehr, sehr gern. Mein Herz freut sich, wenn ein junger Mann seinen Traum verwirklichen kann“, erwiderte sie mit kleinen Lachfältchen um die Augen und tätschelte ihm den Arm.
„Also gut, dann lasse ich dich jetzt besser auch weitermachen“, sagte Mark und verließ das Büro. Wenngleich er seinem nächsten Tagespunkt nicht besonders entgegenfieberte.
Natürlich sehnte er sich danach, wieder mehr Zeit mit Isabelle zu verbringen, doch das ihnen bevorstehende Gespräch trübte die Stimmung. Der Sommer war schon beinahe vorüber und bis zur Eröffnung hatte er noch so vieles zu erledigen. In den letzten Wochen hatten ihn die zahlreichen Polio-Fälle im Armenviertel und die Praxisarbeiten so beschäftigt gehalten, dass er sich noch nicht weiter mit der Vaterschaftsfrage von Marissas Kind befasst hatte. Bald aber käme Josh aus dem Norden zurück. Und sollte er tatsächlich nicht der Vater des Kindes sein, mussten sie das wissen. Das könnte Joshs Zukunft noch einmal völlig verändern.
„Falls du nach Isabelle suchst: Ich denke, du findest sie im Garten“, hörte er Ruths leicht amüsierte Stimme hinter sich. „Sie isst gern draußen, wenn es das Wetter zulässt.“
„Danke“, erwiderte Mark und zeigte den Versuch eines Lächelns.
Mit widerstreitenden Gefühlen machte er sich auf die Suche nach ihr. Genau wie Ruth gesagt hatte, fand er sie auf einer Gartenbank umgeben von blühenden Büschen. Als er sich ihr näherte, hob sie den Kopf.
„Mark. Wie schön, dich zu sehen.“ Doch ihr Blick wirkte verschlossener als sonst. Vielleicht war ihr genauso mulmig zumute wie ihm. „Du siehst müde aus. Seid ihr mit der Praxis noch im Zeitplan?“
„Ja, wir können wie geplant eröffnen. Aber die Polio-Ausbrüche machen mir viel Arbeit. Das Virus verbreitet sich immer schneller.“
„O weh. Umso dankbarer sollte ich sein, nun hier zu wohnen.“
Er nickte und setzte sich neben sie auf die Bank. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir reden.“
„Ja, du hast recht“, erwiderte sie und stellte den Teller mit dem nur halb gegessenen Brot auf dem Boden ab. „Es tut mir leid, falls du den Eindruck hattest, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin. Ehrlich gesagt, wusste ich einfach nicht, wie ich dir von den Neuigkeiten erzählen sollte.“
Marks Bauch verkrampfte sich. „Also ist Josh nicht der Vater, oder? Sondern dieser Henchley.“
Traurig nickte Isabelle. „Ich kann es selbst kaum glauben.“
Tief holte Mark Luft und atmete langsam wieder aus, um die Kontrolle über seine Gefühle zu behalten. Eigentlich sollte er erleichtert sein – immerhin bedeutete das, dass sein Bruder aus dem Schneider war. Trotzdem kam er nicht umhin, sich an Joshs Stelle betrogen zu fühlen. „Heißt das, Marissa hat Josh die ganze Zeit über angelogen?“
„Nein, natürlich nicht! Er wusste von Mr Henchley, von Anfang an“, erwiderte Isabelle.
„Das verstehe ich nicht“, sagte Mark, stand auf und ging auf dem Rasen auf und ab. „Wieso sollte Josh sich darauf einlassen? Für diese Täuschung hat er seinen Sommer aufgegeben – mehr noch, er wollte sogar seine ganze Zukunft an den Nagel hängen!“
Langsam stand Isabelle von der Bank auf. „Das war nicht Marissas Idee“, sagte sie ruhig, aber bestimmt. „Sondern Joshs. Auch wenn es stimmt, dass sie ihn nicht davon abgehalten hat.“
Wütend biss Mark die Zähne zusammen. Er glaubte ihr kein Wort. Zweifelsohne hatte Marissa ihm schöne Augen gemacht, vielleicht auch ein paar Tränen vorgetäuscht, und siehe da – schon war Josh bereit, alles für sie zu tun.
Gedankenverloren rupfte Isabelle eine Blüte aus dem Busch neben sich. „Sie hatten wohl beide ihren Grund, warum sie uns haben Glauben machen, dass Josh der Vater ist. Gründe, die jetzt keine Rolle mehr spielen.“ Langsam drehte Isabelle die Blüte zwischen den Fingern umher. Als sie den Blick wieder hob, war ihr Gesicht voller Sorge. „Du solltest auch wissen, dass Mr Henchley vor ein paar Tagen noch einmal hier war, um mit Marissa zu sprechen. Und dass sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hat. Es war wohl offensichtlich, dass er sie gar nicht heiraten wollte und sie nur aus Pflichtgefühl gefragt hat. Inzwischen schwärmt sie scheinbar auch nicht mehr für ihn, Gott sei Dank.“ Sie hielt kurz inne. „Mr Henchley war aber auch der Meinung, dass eine Adoption der beste Weg wäre. Tatsächlich wirkte er sehr erleichtert, dass sie sich dafür entschieden hat.“
Aufgebracht fuhr Mark mit den Fingern durchs Haar und bemühte sich, gegen den immer größer werdenden Ärger anzukämpfen. „Das ist ja schön und gut, aber was ist mit Josh?“
„Nun ja, Josh ist damit wieder ungebunden“, sagte Isabelle mit einem traurigen Lächeln. Sie trat einen Schritt näher an Mark heran und legte eine Hand auf seinen Arm. „Marissa will ihm schreiben und alles erklären“, sagte sie. Mit aufrichtigem Blick suchte sie den seinen. „Dann kann Josh im Herbst vielleicht ja doch noch an die Universität?“
Wie gern würde Mark jetzt einfach so tun, als könnte er alles unter den Teppich der Vergessenheit kehren und Isabelle versichern, dass er niemandem etwas übel nahm. Doch das war ausgeschlossen, in ihm kochte die Wut. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass Josh seinen Platz aufgegeben hat, bevor er abgefahren ist. Er kann es frühestens im Winter noch mal probieren. Falls es noch Plätze gibt.“
„Das alles tut mir so leid, Mark. Ich fühle mich schrecklich.“
„Ich weiß …“, sagte er und sah in die Ferne. Ihren Blick konnte er im Moment unmöglich erwidern.
„Wenn Josh wieder hier ist, wird sich bestimmt alles ergeben.“
„Mal sehen.“ Die Antwort klang selbst in seinen Ohren sehr rau, daher überraschte es Mark nicht, dass Isabelle zusammenzuckte. Wieder atmete er tief durch und fuhr sich durchs Haar. „Hör zu, Isabelle, ich weiß, dass das alles nicht deine Schuld ist. Aber im Moment kann ich nicht leugnen, wie sehr ich mich über deine Schwester ärgere.“
Isabelle zog die Brauen zusammen. „Ich glaube nicht, dass Marissa ihm etwas Böses wollte. Sie hatte einfach nur Angst und hat Joshs Hilfe angenommen. Er bedeutet ihr sehr viel.“
„Das ist ja eine interessante Art, das zum Ausdruck zu bringen.“
Überrascht blieb Isabelle der Mund offen stehen. Sie fing sich aber schnell wieder. „Also ich denke, dass Josh und Marissa das ohne uns klären müssen“, sagte sie und fügte mit ernstem Blick hinzu: „Und ohne unser Urteil.“
Er wich ihrem Blick aus und ging rasch in Richtung eines Baumes, bevor er etwas sagte, das er nicht zurücknehmen konnte. „Ich … ich brauche etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten. Und vor allem muss ich hören, was Josh dazu zu sagen hat.“
„Tu das“, erwiderte Isabelle nach einem kurzen Moment der Stille. Sie war verletzt. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss wieder an die Arbeit.“ Ohne einen weiteren Blick in seine Richtung marschierte sie über den Rasen zurück ins Haus.
Reue überkam Mark. Wenn er seine Wut Marissa gegenüber doch bloß von seinen Gefühlen für Isabelle trennen könnte! Doch im Moment hatte sich alles zu einem gefährlichen Gemisch vermengt. Sein Blick fiel auf Isabelles vergessenes Brot, das verkehrt herum auf dem Boden lag.
Genauso, wie auch das Leben der vier gerade kopfstand.