Kapitel 40

Nachdenklich stand Mark vor Joshs geschlossener Zimmertür und wünschte sich, er wüsste, was gestern zwischen ihm und Marissa vorgefallen war. Was auch immer es gewesen war, Josh war völlig niedergeschlagen nach Hause gekommen. Und ganz gleich, wie vorsichtig Mark ihn darauf ansprach, Josh schwieg. Das Einzige, das er ihm verraten hatte, war, dass Marissa seinen Heiratsantrag erneut abgelehnt hatte.

In Mark kämpften sein Beschützerinstinkt gegen seine sonst so mitfühlende Art. Marissa war gerade erst Mutter geworden – jetzt war sicher nicht der richtige Moment für solch eine lebensverändernde Entscheidung!

Zweifelsohne war es herausfordernd genug, sich an die neue Aufgabe als Mutter zu gewöhnen. Trotzdem kochte tief in Mark die Wut – wie konnte sie nur so mit Joshs Gefühlen umgehen? Wenn sie nicht vorhatte, ihn zu heiraten, warum hatte sie dann zugelassen, dass er den Sommer über schuftete und Geld für sie ansparte? Das ergab doch alles keinen Sinn!

Es machte ihm schwer zu schaffen, wie sehr sein Bruder litt. Inniglich hoffte Mark, dass Marissa ihre Meinung änderte, sobald sie sich in ihre neue Rolle eingefunden hatte, und Josh entweder eine zweite Chance gab oder den Kontakt zu ihm endgültig abbrach. Damit auch sein Leben weitergehen konnte.

Mark warf einen Blick auf die Uhr: Er musste los!

Wenn es die Zeit erlaubte, wollte er in der Mittagspause noch mal nach Josh sehen.

Der Morgen verging wie im Flug. Es freute Mark, dass er zwei neue Patienten begrüßen durfte.

Marissas Zimmergenossin Laura hatte sich an der Rezeption als wahres Talent erwiesen – selbst mit dem schlafenden Kind in der Wiege neben ihr. Wieder einmal staunte Mark über Isabelles Idee genau zur rechten Zeit: Sie hatte vorgeschlagen, dass er Frauen aus dem Mütterheim für den Empfangsbereich anstellte – eine Idee, die allen Beteiligten gleichermaßen nutzte.

Kurz nach zwölf Uhr trat Mark an die Rezeption. „Falls jemand nach mir fragt: Ich gehe für etwa eine Stunde nach Hause.“

„In Ordnung, Dr. Henshaw“, sagte Laura und überprüfte noch einmal die Termine. „Ihre nächste Patientin ist Mrs Carberry um zwei Uhr.“

„Gut. Bis dahin sollte ich schon lange wieder zurück sein.“

Zehn Minuten später kam er zu Hause an. Als Erstes warf er einen Blick ins Wohnzimmer, das jedoch leer stand, danach ging er in die Küche. Auch hier gab es keine benutzten Teller oder Tassen. Lag Josh um diese Uhrzeit tatsächlich noch im Bett?

Auf dem Weg hoch in Joshs Zimmer wuchs das Unbehagen in Mark. Laut klopfte er an die Tür. „Josh? Ist alles in Ordnung?“

Keine Antwort.

Er klopfte noch einmal und öffnete dann die Tür. Leer. Das Bett war gemacht und gefühlt zum ersten Mal seit Jahren flog Joshs Kleidung nicht überall auf dem Boden herum. Vielleicht war er ja in der Stadt und suchte Arbeit? Oder er war noch einmal zu Marissa gefahren – auch das konnte Mark nicht ausschließen. Denn Josh war vor allem eins: beharrlich.

Langsam ließ Mark den Blick durch das Zimmer wandern. Plötzlich wurde ihm umso mulmiger zumute: Joshs Gitarre fehlte! Mit schnell klopfendem Herzen öffnete Mark den Kleiderschrank: bloß noch ein paar vereinzelte T-Shirts, sonst viele leere Bügel. Und die Reisetasche fehlte.

Josh war gegangen.

Wie in Trance überprüfte Mark als Nächstes den Schreibtisch. Mitten darauf lag ein Briefumschlag mit seinem Namen. Langsam nahm er den Umschlag in die Hand und starrte auf die schnell geschriebenen Worte. Als er ihn öffnete, zog sich sein Magen zusammen.

Lieber Mark,

es tut mir wirklich leid, aber im Moment kann ich einfach nicht bleiben. Ich muss endlich einsehen, dass Marissa ihre Meinung nicht ändern wird – egal, wie oft ich sie noch frage.

Über meinen nächsten Schritt habe ich lange nachgedacht. Er wird dir nicht gefallen, aber meine Entscheidung steht fest: Ich werde der Armee beitreten. Ich weiß nicht, wie lange dieser Krieg noch andauert, aber für mein Land zu kämpfen, hilft mir vielleicht, über Marissa hinwegzukommen. Auf jeden Fall brauche ich jetzt etwas Zeit und Abstand. Das verstehst du hoffentlich. Ich melde mich wieder, sobald ich kann.

Danke für alles. Josh

P.S. Der andere Brief ist für Marissa. Und bitte, mach dir keine Sorgen um mich.

Marks Brust verengte sich. Mit zitternden Knien ließ er sich auf den Stuhl fallen und starrte ungläubig an die Wand. Dass Josh das Gefühl hatte, die Stadt verlassen zu müssen, sah er noch ein – aber davonrennen und der Armee beitreten? War er denn wahnsinnig? Hatte er keine Angst um sein Leben?

Entschlossen machte Mark sich auf den Weg. Er musste Josh aufhalten! Aber wie?

Mit schnellen Schritten eilte er zum Fernsprecher in die Küche. Er rief in der Praxis an und bat Laura, den Termin mit Mrs Carberry zu verschieben. Danach erkundigte er sich über die Vermittlung nach den nächstgelegenen Rekrutierungsbüros und stürmte, mit drei Adressen bewaffnet, zu seinem Wagen. Mit etwas Glück befand Josh sich noch an einem dieser drei Orte, da er sicherlich zunächst eine Art medizinische Untersuchung durchlaufen musste. Und sollte er ihn dort antreffen, fand er hoffentlich die richtigen Worte, um Josh umzustimmen.

Bei der ersten Adresse fand Mark ihn nicht, doch schon der zweite Versuch war erfolgreich.

„Ja, ich meine, vorhin hat sich hier ein junger Mann mit dem Namen Joshua Henshaw gemeldet. Ich schaue noch einmal kurz auf der Liste nach“, sagte eine untersetzte Frau mit Brille, die einen Stapel Papiere vor sich durchsuchte. „Hier haben wir ihn“, sagte sie und zeigte mit dem Stift auf seinen Namen.

„Und können Sie mir sagen, ob er noch hier ist?“, fragte Mark und befeuchtete die trockenen Lippen. Hoffentlich wirkte er nicht so verzweifelt, wie er sich fühlte.

Skeptisch sah die Frau ihn an. „Wieso?“

Mark kramte rasch seinen Ausweis hervor. „Ich bin Dr. Henshaw, sein Bruder, und ich muss dringend mit ihm sprechen.“

Einen Augenblick lang betrachtete die Frau ihn. „Das geht vermutlich in Ordnung. Ich nehme an, dass er gerade noch untersucht wird. Am Ende des Ganges rechts, dann das dritte Zimmer.“

„Haben Sie vielen Dank, Ma’am!“ Am liebsten hätte Mark der Frau einen Kuss verpasst. Bevor sie ihre Meinung ändern konnte, spurtete er den Gang entlang und zählte dabei die Türen. An der dritten angekommen, zögerte er kurz. Sollte er anklopfen oder einfach davor warten, bis jemand herauskäme?

Die Tür war einen kleinen Spaltbreit offen, sodass Mark sie unauffällig noch etwas weiter aufschieben und hineinlinsen konnte.

Ein Mann in einem weißen Kittel, vermutlich der Militärarzt, saß am Schreibtisch und notierte etwas auf einem Blatt Papier.

Links davon sah er Josh, der gerade sein Hemd zuknöpfte. „Was ist das Ergebnis, Doktor? Werde ich zugelassen?“

„Sie liegen ein bisschen unter dem Normalgewicht, aber ansonsten sind Sie in bester Form“, sagte der Mann und stempelte das Dokument. „Tauglich.“

„Danke, Sir.“

„Melden Sie sich in Zimmer Nummer 103, wo Sie Ihre Uniform und alle weiteren Informationen erhalten werden. Viel Glück, Junge.“

Josh nahm die Papiere sowie seine Jacke und die Tasche und ging in Richtung Tür.

Mark spürte, wie sein Mund trocken wurde. O Herr, bitte gib mir die richtigen Worte, um wirklich zu ihm durchzudringen.

Joshua verließ das Behandlungszimmer mit gesenktem Blick und ging an Mark vorbei, ohne ihn zu bemerken.

„Josh“, sprach er ihn an – mehr brachte er gerade nicht heraus.

Ungläubig drehte sein Bruder sich um. „Was machst du denn hier?“

Mark räusperte sich. „Ich konnte dich nicht einfach gehen lassen. Ich muss doch wenigstens versuchen, dich zur Vernunft zu bringen.“

Verärgert runzelte Josh die Stirn. „Du verschwendest deine Zeit. Umstimmen kannst du mich nicht“, antwortete er knapp und ging den Flur entlang.

„Jetzt warte doch mal“, rief Mark und eilte ihm hinterher. „Was, wenn du verletzt wirst? Oder schlimmer noch – was, wenn du stirbst? Du bist mein einziger Verwandter! Die einzige Familie, die ich noch habe.“

„Ich werde schon nicht sterben.“

„Das kannst du nicht wissen.“

Jetzt blieb Josh stehen und sah Mark direkt an. „Hör Mal, Mark, ich muss das machen. Für mein eigenes Wohl. Es tut mir leid, dass es dir nicht gefällt, aber ich gehe. Mit oder ohne deinen Segen.“

Joshs Entschlossenheit und sein unnachgiebiger Blick raubten Mark jegliche Hoffnung. Auf überschäumenden Ärger oder anderes unreifes Verhalten wäre er vorbereitet gewesen, nicht aber auf die ruhige, unbeirrbare Entschiedenheit, hinter der Josh seinen Schmerz verbarg.

„Kannst du nicht irgendetwas anderes machen? Etwas weniger Gefährliches?“, versuchte es Mark trotzdem weiter. „Ich will dich nicht auch noch verlieren, Josh“, gestand er und musste schlucken.

„Du wirst mich nicht verlieren“, erwiderte Josh mit finsterer Miene. „Dafür bete ich. Aber ich kann meine Entscheidungen nicht immer davon abhängig machen, ob sie dir gefallen oder nicht. Und für mich fühlt sich das im Moment einfach richtig an“, erklärte er und nahm die Reisetasche von der Schulter.

Mark schluckte – Josh hatte recht, er musste seinen eigenen Weg gehen. Aber konnte er dabei keine Rücksicht auf Marks Meinung nehmen?

Frustriert atmete Mark aus. „Kannst du mir wenigstens versprechen, vorsichtig zu sein? Bitte überstürze nichts und versuche nicht, den Helden zu spielen.“

Wütend starrte Josh ihn an. „Du hast wirklich überhaupt kein Vertrauen in mich, oder?“

„Das habe ich so nicht gemeint …“ Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand durchs Haar und spürte, wie sich sein Herz zuschnürte. „Bitte.“ Es war kaum mehr als ein Krächzen. „Ich flehe dich an! Es gibt sicher einen anderen Weg, um mit Marissas Zurückweisung umzugehen.“

Josh holte tief Luft und verzog das Gesicht.

„Du könntest doch wieder in den Norden fahren, zurück zum Holzfällerlager. Oder du erkundest den Westen und suchst dort nach Arbeit. So lernst du das Land ein bisschen kennen. Hast du nicht immer gesagt, du möchtest mal in die Rocky Mountains?“ Es war ein verzweifelter Versuch, aber alles war besser, als in den Krieg zu ziehen.

„Dazu ist es jetzt zu spät“, sagte Josh und straffte den Rücken. „Ich habe mich schon als Freiwilliger gemeldet und wurde als tauglich eingestuft. Die Entscheidung ist gefallen“, erklärte er und suchte noch einmal Marks Blick. „Aber ich möchte nicht im Streit gehen. Kannst du nicht akzeptieren, dass ich das tun muss und mir alles Gute wünschen?“

Als die Wahrheit allmählich zu ihm durchsickerte, gab Mark sich geschlagen. Nichts, was er tun oder sagen würde, konnte Josh mehr umstimmen. Er rieb sich die Brust, um den Schmerz zu vertreiben. „Du lässt mir ja keine andere Wahl.“

So sehr es Mark auch missfiel, seinen Bruder in den scheinbar endlosen Krieg ziehen zu lassen, wollte auch er nicht im Streit auseinandergehen. Niemals könnte er es sich verzeihen, wenn das seine letzten Worte wären. „Ich werde dich vermissen.“

Joshs Gesicht wurde sanfter. „Ich dich auch, Mark. Aber wenn der Krieg vorüber ist, komme ich wieder nach Hause. Und dann wird alles besser, versprochen.“ Mit diesen Worten trat er langsam einen Schritt zurück. „Ich gehe jetzt besser. Sie erwarten mich schon.“

„Es heißt also Abschied nehmen“, erwiderte Mark und spürte, wie der Schmerz in seiner Brust sich immer tiefer bohrte. Die Ungewissheit, wann – oder ob – sie sich wiedersehen würden, war das Schlimmste. Zum vorerst letzten Mal schloss er seinen Bruder fest in die Arme. „Sei vorsichtig. Und pass auf dich auf.“

„Das werde ich“, erwiderte Josh mit Tränen in den Augen, als er sich aus der Umarmung löste.

In seinem Innern zog sich alles zusammen, dennoch bemühte Mark sich um so etwas wie ein Lächeln. „Ich werde für dich beten. Und vergiss nicht, mir zu schreiben, wenn möglich, damit ich weiß, wie es dir geht.“

„Mache ich. Versprochen.“

„Und wenn du irgendetwas brauchst –“

„Ich weiß, Mark. Danke.“ Wieder hängte Josh seine Reisetasche über die Schulter. „Hast du den Brief für Marissa gesehen?“

„Den habe ich gleich hier“, sagte Mark und berührte seine Brusttasche. „Ich bringe ihn ihr später noch.“

Josh nickte und neue Tränen glänzten in seinen Augen. „Danke. Das weiß ich zu schätzen. Und pass du bitte auf sie auf, okay?“

Tapfer biss Mark die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Vielzahl an Emotionen, die drohten ihn zu übermannen. Er nickte kurz. „Ich gebe mein Bestes.“