Isabelle weinte, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte. Dann besuchte sie Marissa, die gerade mit Lisette im Zimmer auf und ab ging, um sie in den Schlaf zu wiegen.
„Na, wie geht es denn unserer kleinen Prinzessin heute?“, fragte Isabelle und bemühte sich um ein kleines Lächeln.
Marissa hob den Blick. Tiefe Augenringe bewiesen ihren Schlafmangel. „Ein wenig quengelig, auch wenn ich nicht weiß, warum.“
„Soll ich sie dir kurz abnehmen?“
„O ja, gern. Danke“, erwiderte Marissa erleichtert. „Ich habe sie gerade erst gestillt und eine frische Windel hat sie auch. Warum sie nicht einschläft, kann ich mir nicht erklären.“
„Mach dir keine Sorgen. Ich nehme sie mit nach unten, vielleicht hilft die andere Umgebung ja. Und du kannst dich ein wenig ausruhen. Das wird dir guttun.“
Isabelle sah, wie ihrer Schwester die Tränen kamen. „Beschäftigt dich noch etwas anderes, Rissa?“
Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte.
„Es geht um Josh, oder?“, fragte Isabelle. Das Baby in ihren Armen kam langsam zur Ruhe.
Dafür begann nun Marissas Kinn zu beben. „Er wird sicher umkommen im Krieg! Und das ist alles meine Schuld“, sagte sie, bevor die Tränen aus ihr herausbrachen.
„Ach, Liebes“, tröstete Isabelle sie und legte den freien Arm um ihre Schulter. Da sie die Situation jedoch nicht verändern konnte, blieb sie einfach bei ihr stehen und gab ihr den Raum zu weinen. Offensichtlich war heute einer dieser Tage, an denen ihnen beiden zum Weinen zumute war.
Einige Minuten später trat Marissa einen Schritt zurück und wischte sich über das tränenverschmierte Gesicht. „Wenn es doch bloß einen Weg gäbe, um ihn aufzuhalten! Und um ihm zu sagen …“
„Ihm was zu sagen? Dass du deine Meinung geändert hast?“
Marissa zog den Morgenmantel enger um sich. „Ja! Ich liebe Josh, schon die ganze Zeit. Ich habe ihn nur weggeschickt, weil ich wirklich dachte, es wäre das Beste für ihn! Damit er doch noch studieren kann oder sich eine Arbeit sucht, die ihm gefällt. Niemals hätte ich gedacht, dass er sich der Armee anschließt.“
Isabelle dachte über die Worte ihrer Schwester nach und legte das Baby in den Stubenwagen, bevor sie sich zu Marissa ans Bett setzte. „Vielleicht ist das aber auch etwas, das Josh einfach tun muss, für sich selbst, meine ich. Ihr seid beide noch so jung und das ganze Leben steht euch bevor. Vielleicht seid ihr ja bereit für eine Beziehung, wenn er wiederkommt.“
„Ich befürchte nur, dass Josh nie mehr zurückkehrt, wenn er wirklich nach Übersee aufbricht“, gestand Marissa mit wieder neuen Tränen in den Augen.
Voller Mitgefühl wurde auch Isabelles Herz schwer. Wie würde es ihr gehen, wenn Mark sich plötzlich als Freiwilliger melden würde? So wütend sie auch gerade auf ihn war – sie wollte sich nicht ausmalen, wie es wäre, konstant um ihn besorgt zu sein. „Mark sagt, Josh sei fest entschlossen und nichts und niemand könne ihn davon abbringen. Seine Entscheidung gefällt uns vielleicht nicht, aber akzeptieren müssen wir sie trotzdem. Genau wie er deine akzeptiert hat.“
Traurig ließ Marissa den Kopf hängen. „Wahrscheinlich hast du recht.“
„Darf ich dir einen Vorschlag machen?“, sagte Isabelle und legte eine Hand auf Marissas Schulter. „Nimm dir Zeit, bete intensiv um Gottes Führung und bitte ihn um Kraft, das annehmen zu können, was auch immer er in der Zukunft für euch bereithält. Und bis dahin konzentrierst du dich auf deine wunderschöne kleine Tochter.“
Mit einem Seufzen umarmte Marissa sie. „Ja, du hast ja recht, Belle. Ich will versuchen, auf Gottes guten Plan zu vertrauen.“
Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Während sich Marissa immer besser in ihre Mutterrolle einfand, versuchte Isabelle, einen Zukunftsplan zu schmieden. Vor allem brauchte sie Zeit, um genug Geld für eine eigene Wohnung ansparen zu können. Und sie musste wissen, wie lange Marissa und Lisette noch im Mütterheim wohnen konnten, ohne jemandem zur Last zu fallen.
Nach dem Mittagessen setzte sich Isabelle zu Ruth und Olivia an den Tisch. „Kann ich noch mal kurz mit euch sprechen?“
„Natürlich. Wir wollten gerade einen Kaffee trinken“, sagte Olivia und reichte auch Isabelle eine Tasse. Dann drehte sie sich zur silbernen Kanne auf der Kommode um und schenkte ihnen ein.
„Danke“, erwiderte Isabelle und nahm Platz.
„Was liegt dir auf dem Herzen?“, fragte Olivia, während sie einen Schluck Milch in ihren Kaffee goss.
„Ich habe mich gefragt, wie lange eine junge Mutter eigentlich hier wohnen darf.“
„Eine feste Regel gibt es nicht“, antwortete Ruth. „Aber meistens dauert es etwa sechs Monate, bis die Frauen wissen, wie es weitergehen soll, und eine passende Arbeit gefunden haben. Obwohl man sagen muss, dass das nicht vielen gelingt. Die meisten geben das Kind dann doch zur Adoption frei.“
Traurig seufzte Isabelle. „Wenn es für diese Frauen doch nur eine Art der Kinderbetreuung gäbe, damit sie arbeiten, die Kinder aber trotzdem behalten könnten.“
„Da erzählst du uns nichts Neues … Wir haben schon oft darüber nachgedacht, was wir tun könnten, um so etwas anzubieten. Leider haben wir hier im Haus keinen Platz dafür. Das heißt, es müssten zunächst einmal die passenden Räumlichkeiten her, sicher bräuchten wir auch eine Lizenz und zu guter Letzt ausgebildetes Personal. Solch eine Unternehmung müsste gut durchdacht sein.“
„Ich wünschte, ich könnte etwas tun“, sagte Isabelle mit gerunzelter Stirn und dachte an Eloise, Helen und Annie, die inzwischen alle ihre Kinder zur Welt gebracht und sie an die Children’s Aid Society übergeben hatten. Nur Mary Beth gehörte zu den wenigen Glücklichen, die mit dem Baby wieder bei ihren Eltern einziehen durfte.
„Mit den Teilzeitstellen für Laura und Georgia in Marks Praxis hast du schon eine Menge getan“, versicherte Olivia ihr mit einem Lächeln. „Das war eine hervorragende Idee von dir.“
„Ach, Mark ist derjenige, dem wir zu Dank verpflichtet sind.“ Nachdenklich sah Ruth sie an. „Isabelle, du hast ein großes Herz für Menschen in Not.“
Sie lächelte. „Ja, kann sein. Schon früher habe ich meiner Mutter gern bei der Wohltätigkeitsarbeit geholfen. Aber denen, die wirklich Not leiden, direkt zur Seite zu stehen, ist noch viel erfüllender“, erklärte sie. „Am liebsten würde ich Menschen helfen, ein zu Hause zu finden. So wie Fiona und Rosie O`Grady mir damals geholfen haben.“
Ruth schürzte die Lippen und musterte Isabelle. „Wir haben dich sehr gern hier, Isabelle, und wissen deine Arbeit zu schätzen. Aber ist das wirklich, was du dir für deine Zukunft wünschst?“
Verblüfft sah sie die ältere Dame an. Dem Kommentar war eine deutliche Kritik zu entnehmen. „Was meinst du damit?“ Ihr Leben im Mütterheim gefiel Isabelle sehr gut. Ruth war wie eine Großmutter für sie und Olivia wie eine große Schwester. Wieso sollte sie das infrage stellen?
Ruth nahm einen Schluck Kaffee, bevor sie zur einer Antwort ansetzte. „Hast du je darüber nachgedacht, dich weiterzubilden? Oder vielleicht ein Studium aufzunehmen?“
„Ja, das habe ich“, sagte sie und seufzte. „Vielleicht später mal. Aber fürs Erste muss das wohl noch warten, fürchte ich.“
„Und was, wenn nicht?“, fragte Ruth erwartungsvoll.
Schnell glitt Isabelles Blick zu Olivia, doch die zuckte ahnungslos mit den Schultern.
„Es ergibt keinen Sinn, nach den Sternen zu greifen, wenn sie unendlich weit weg sind“, antwortete Isabelle bestimmt. Genau das hatte sie sich auch in Bezug auf Mark immer wieder gesagt. „Ich habe weder Geld für die Studiengebühren noch Zeit zum Studieren – ich muss ja schließlich für uns aufkommen.“
Entschieden nahm Ruth die Brille von der Nase – ein sicheres Zeichen dafür, dass nun eine kleine Ansprache folgte. „Immer, wenn ich jemandem mit viel Potenzial begegne, so wie bei Olivia oder Mark, fühle ich mich dazu verpflichtet, das zu teilen, was Gott mir im Leben geschenkt hat“, sagte sie und stützte sich auf den Ellbogen ab. „Und im Gebet hatte ich in letzter Zeit den Eindruck, dass ich als Nächstes dich unterstützen sollte, Isabelle.“
„Mich?“ Isabelle wurde ganz nervös. „Aber du hast doch schon so viel für mich getan.“
„Aber, aber. Es ist ja nicht so, als wärst du uns eine Last“, stellte Olivia zurecht. „Im Gegenteil. Du tust weit mehr, als wir von dir erwarten. Vor allem Mrs Neale betont immer wieder, wie dankbar sie für deine Unterstützung ist.“
Zustimmend nickte Ruth. „Und mehrere der Bewohnerinnen haben uns gegenüber erwähnt, wie gutherzig du bist. Du nimmst Menschen so an, wie sie sind, und unterstützt und ermutigst sie bedingungslos. Und zwar nicht nur deine Schwester, sondern auch die Frauen, die du gar nicht kennst. Das ist ein wahres Geschenk, Isabelle. Ein Geschenk, das du nicht verschwenden solltest.“
„Danke, Ruth, das weiß ich sehr zu schätzen, aber wie –“
Mit erhobener Hand unterbrach Ruth sie. „Wenn du wirklich studieren möchtest, würde ich gern für deine Studiengebühren aufkommen.“
Ungläubig starrte Isabelle Ruth an, sicher hatte sie sich gerade verhört. „Oh … Aber nein, das kann ich nicht annehmen.“
„Und warum nicht?“, fragte Ruth mit Nachdruck.
In Isabelles Kopf rasten die Gedanken nur so durcheinander. Wie konnte sie solch ein Angebot ablehnen, ohne Ruth zu beleidigen? „Das ist großzügig, aber solch eine … Wohltätigkeit … könnte ich niemals annehmen.“
„Spricht da etwa der Stolz aus dir?“, hakte Ruth mit hochgezogenen Brauen nach.
Isabelle errötete. Obwohl es das Letzte war, das sie wollte, schien sie die ältere Dame doch verstimmt zu haben. „Ja, vielleicht ist es stolz so zu reden“, räumte sie ein. „Aber als Marissa und ich unser Zuhause verloren haben, habe ich mir geschworen, mich um sie zu kümmern. Und dass ich einen Weg finden werde, wie wir uns selbst durchschlagen.“
„Bitte vergib mir, dass ich so direkt bin“, sagte Ruth mit prüfendem Blick, „aber ich habe das Gefühl, dass du von Anfang an auf die Hilfe anderer angewiesen warst. Erst haben dich dein früheres Hausmädchen und ihre Tante bei sich aufgenommen, dann hat Dr. Henshaw dir eine Arbeit vermittelt und jetzt haben wir dir Arbeit und ein Dach über dem Kopf verschafft.“
Ihre Worte trafen sie. Ruth hatte recht. Nichts von alledem konnte Isabelle sich selbst zuschreiben. Sie wäre sogar bereit gewesen, Elias Wheatherby zu heiraten, damit er für Marissa sorgte. Tränen brannten in ihren Augen. Hochmut kommt vor dem Fall hatte ihre Mutter früher immer gesagt.
Beruhigend tätschelte Ruth ihr den Arm. „Hilfe anzunehmen bedeutet nicht, dass man gescheitert ist, Liebes. Überhaupt nicht. Es zeugt sogar von großer Stärke.“
Isabelles Kehle zog sich zusammen; für einen Moment war sie nicht in der Lage, auch nur irgendetwas zu antworten.
Olivia kam um den Tisch herum und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Das stimmt. Mir ging es damals ganz genauso. Ich habe mich so gedemütigt gefühlt und konnte Ruths Großzügigkeit kaum annehmen. Doch als es mir wieder besser ging, durfte ich etwas von ihrer Großzügigkeit an andere Menschen weitergeben. Vielleicht gilt das ja auch für dich.“
Isabelle brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Danke. Euch beiden. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern noch etwas darüber nachdenken und beten.“
„Natürlich“, erwiderte Ruth. „Soweit ich weiß, geht das nächste Semester erst im Januar los. Es ist also noch reichlich Zeit. Und ganz allgemein gilt: Marissa und die Kleine sind hier so lange willkommen wie nötig.“
Dankbarkeit erfüllte Isabelles Herz. Die beiden Frauen waren ihr und ihrer Schwester mit nichts als Güte begegnet. Olivias Rat würde sie auf jeden Fall beherzigen und versuchen, ihrem Beispiel zu folgen – komme, was wolle.
Nachdem Ruth das Zimmer verlassen hatte, saß Olivia noch eine Weile am Tisch. „Isabelle, bevor du auch gehst – darf ich dich etwas fragen?“
„Aber sicher. Was gibt es?“
„Ich mache mir Sorgen um Mark. Hast du in letzter Zeit mit ihm gesprochen?“
„Nein. Nicht, seit Josh fortgegangen ist“, sagte Isabelle angespannt und zögerte. Nur ungern wollte sie preisgeben, was zwischen ihnen vorgefallen war. Aber Olivia war immer aufrichtig zu ihr gewesen, sie verdiente eine ehrliche Antwort. „In Marks Augen liegt die Schuld bei Marissa. Er brauche jetzt Abstand, um das alles zu verarbeiten“, erklärte sie mit gesenktem Blick. „Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.“
„Oh, Isabelle. Das tut mir so leid“, sagte Olivia mitfühlend. „Das Ganze ist wirklich verzwickt. Aber mach dir keine Sorgen“, fuhr sie fort und tätschelte ihr ermutigend den Arm. „Mark ist nie lange böse. Er fängt sich sicher bald wieder.“
„Vielleicht“, erwiderte Isabelle, wenngleich sie keine großen Hoffnungen hegte. Vor allem jetzt nicht, wo Joshs Schicksal so unklar war.
Nichtsdestotrotz betete sie, dass Gott ihm Frieden schenkte und Mark half, sich an den neuen Umstand zu gewöhnen. Ganz gleich, wie dieser aussah.