Kapitel 44

Mit einem Lächeln überflog Ruth das Schild auf dem imposanten Steingebäude vor ihnen. „Hier scheinen wir richtig zu sein. Komm, gehen wir hinein.“

Doch Isabelle war wie gelähmt. „Ich verstehe nicht, warum wir das unbedingt heute schon erledigen müssen. Wie du ganz richtig gesagt hast, geht das Semester doch erst im Januar los.“

Aus irgendeinem Grund hatte Ruth darauf bestanden, dass Isabelle sie heute zum Universitätscampus begleitete. Sie wollte sich einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten im Bereich der Sozialen Arbeit verschaffen und sich über die Einschreibebedingungen erkundigen. Dabei hatte Isabelle bisher kaum Zeit gehabt, sich überhaupt erst mal an den Gedanken zu gewöhnen, bald zu studieren.

„Wenn nicht jetzt, wann dann“, erwiderte Ruth. „Außerdem holen wir ja nur erste Informationen ein. Du musst dich ja nicht gleich einschreiben, wenn du noch darüber nachdenken möchtest.“

Einschreiben? Daran hatte sie erst recht noch nicht gedacht.

Doch Ruth sah sie mit einem Blick an, der keinen Spielraum für Diskussionen ließ. Wenn sie wollte, konnte die alte Dame sehr respekteinflößend sein.

Langsam folgte Isabelle ihr in das wenig beleuchtete Innere. Es roch nach alten Büchern und Putzmittel.

„Das Büro ist gleich da vorne“, sagte Ruth und zeigte auf eine Milchglastür mit goldener Aufschrift.

Auf Zehenspitzen tastete Isabelle sich voran, denn sie wollte nicht, dass ihre Absätze an diesem ruhigen Ort Lärm machten. Rasch überprüfte sie, dass auch keine Strähne aus der aufwendig gedrehten Rolle über ihrer Stirn herausfiel, bevor sie Ruth folgte.

Eine lange Theke trennte sie von den Menschen, die dahinter an Schreibtischen arbeiteten. Jetzt stand eine der Frauen auf und begrüßte sie. „Guten Morgen, die Damen. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Morgen. Mein Name ist Ruth Bennington und das ist Isabelle Wardrop.“

Schlagartig weiteten sich die Augen der Frau. „Mrs Bennington! Wie schön, einen unserer Förderer persönlich kennenzulernen“, sagte sie und stellte sich selbst vor. „Ich bin Beth Ingleman.“

Beinahe musste Isabelle lachen. Es überraschte sie kaum, dass Ruth natürlich auch die Universität unterstützte.

„Danke sehr“, erwiderte diese lächelnd. „Wir würden uns gern über Ihre Kurse informieren. Soweit ich weiß, gibt es ein zweijähriges Studium der Sozialen Arbeit, richtig?“

„Ganz genau. Diesen Studiengang kann ich wärmstens empfehlen“, entgegnete Beth mit einem nervösen Lachen.

„Gut zu wissen. Miss Wardrop spielt mit dem Gedanken, sich für das nächste Semester einzuschreiben. Haben Sie vielleicht eine Übersicht über die Voraussetzungen sowie ein Anmeldeformular?“

„Natürlich. Einen kleinen Moment, ich stelle Ihnen alles zusammen“, sagte Beth und wandte sich an Isabelle. „Ich nehme an, dass Sie die High School abgeschlossen haben?“

„Ja. Auch wenn das schon einige Jahre her ist. Ist das ein Problem?“

„Überhaupt nicht. Sie werden einfach als Späteinsteiger kategorisiert. Wenn Sie einen Moment hier warten, bringe ich Ihnen alles.“

„Vielen Dank“, erwiderte Ruth mit einem herzlichen Lächeln und drehte sich zu Isabelle. „Möchtest du dich nicht setzen? Ich geh mir mal kurz die Nase pudern.“

Isabelle nickte und ließ sich erschöpft auf den Holzstuhl sinken.

Das ging ihr alles viel zu schnell! Die Wahrheit war: Sie wusste nicht, ob sie sich überhaupt als Studentin eignete. Was, wenn sie die Prüfungen nicht bestand und Ruths Geld unnötig verschwendete?

„Da wären wir“, erklang Beths Stimme. „Oh, wo ist Mrs Bennington denn hin?“

Isabelle trat an die Theke. „Sie sollte gleich wieder hier sein.“

„Nun, da die Informationen ja letztlich für Sie sind, kann ich Sie auch einfach mit Ihnen durchgehen“, sagte Beth und zeigte Isabelle die Info-Broschüren sowie das Anmeldeformular.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, bedankte sich Isabelle.

„Und vergessen Sie nicht: Die Anmeldefrist für das Wintersemester ist der fünfzehnte November.“

„Werde ich nicht. Noch einmal vielen Dank“, sagte sie und warf einen Blick zur Tür. Noch immer keine Spur von Ruth. „Ich sehe besser mal nach Mrs Bennington.“

„Natürlich. Und richten Sie ihr aus: Sollte sie etwas brauchen, sind wir gern für sie da.“

„Mache ich.“ Nachdenklich schritt Isabelle in den Flur. Was mochte Ruth nur so lange aufhalten?

Sie suchte den Korridor ab und kam sich wie ein Eindringling zwischen all den Studenten vor. Nur eine Handvoll Menschen standen im Gang, aber Ruth war keine von ihnen.

Hinter ihr räusperte sich jemand.

Neugierig drehte Isabelle sich um und traute ihren Augen nicht.

Vor ihr stand Mark, einen Strauß aus rosa und weißen Rosen in der Hand. Er trug einen dunklen Anzug, ein hellblaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Sein Bart sah sehr gepflegt aus und er hatte das Haar aus der Stirn gekämmt, was seine markanten Gesichtszüge betonte. „Hallo, Isabelle“, grüßte er sie zaghaft.

Freude stieg in Isabelle auf, doch sie drängte sie zurück. Was war mit ihrer letzten unangenehmen Unterhaltung? Oder hatte Mark ihrer Schwester vergeben? Und falls ja, würde das irgendetwas ändern?

„Was machst du denn hier, Mark?“

Unschuldig zuckte er mit den Schultern. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du heute hier sein würdest.“ Mit einem zaghaften Lächeln hielt er ihr den Blumenstrauß hin. „Die sind für dich. Ein Zeichen meiner Entschuldigung.“

Widerwillig nahm sie den Strauß entgegen. „Entschuldigung wofür genau?“

„Dafür, wie ich auf Joshs Verschwinden reagiert habe.“ In seinen Augen schimmerte aufrichtige Reue. „Damit bin ich überhaupt nicht gut umgegangen. In meiner Wut und Enttäuschung habe ich Marissa die Schuld für alles gegeben, aber jetzt sehe ich, wie ungerecht das war. Genauso ungerecht wie unsere Beziehung für etwas zu beenden, das zwischen unseren Geschwistern vorgefallen ist. Es tut mir ehrlich leid, Isabelle.“

„Aha“, erwiderte sie und während sie sich einen Moment nahm, um eine Antwort zu formulieren, schnupperte sie an den duftenden Blumen. „Und was hat dich zu dieser Erkenntnis gebracht?“, fragte sie. Das klang vielleicht kühl, aber Isabelle konnte einfach noch nicht darüber hinwegsehen, wie sehr er sie verletzt und enttäuscht hatte. Und warum sollte sie ihm noch einmal vertrauen?

„Ehrlich gesagt ist eins zum anderen gekommen“, sagte er mit einem zögerlichen Lächeln. „Als es mir letzte Woche nicht gut ging, hat Olivia mich besucht. Es war, als hätte sie gespürt, dass ich gerade einen Freund brauchte.“

Sowohl Mitgefühl als auch Eifersucht stiegen in Isabelle auf. Sie wäre gern für Mark da gewesen. Stattdessen hatte ihm Olivia zur Seite gestanden.

„Sie hat mich daran erinnert, dass ich es verdiene, glücklich zu sein. Im Grunde ein einfacher Gedanke – aber erst da ist mir aufgegangen, dass ich schon lange nicht mehr richtig glücklich gewesen bin. Fast als konnte ich es nicht zulassen – als Strafe dafür, dass ich Josh und meine Eltern enttäuscht habe.“

Immer mehr spürte Isabelle, wie ihre Schutzmauern einrissen. Sie wusste, wie einfach es war, sich fälschlicherweise verantwortlich zu fühlen. „Ach, Mark. Du hast niemanden enttäuscht.“

„Ich glaube schon“, räumte er mit leiser Stimme ein. „Ich war so sehr damit beschäftigt, Joshs Leben für ihn zu planen, dass ich ihm überhaupt keinen Freiraum gelassen habe“, erklärte er und schob die Hände in die Hosentaschen. „Aber das ändert jetzt auch nichts mehr. Er hat seine Entscheidung getroffen und ich muss lernen, damit zu leben.“ Isabelle zögerte. „Und was ist mit Marissa? Kannst du ihr verzeihen?“

Eindringlich sah Mark sie an. „Ja, das habe ich schon. Ich hätte meinen Ärger nicht an ihr auslassen sollen, wo ich doch eigentlich auf mich selbst wütend war.“

Sein aufrichtiger Blick ließ Isabelle glauben, dass es ihm ernst war und er das nicht bloß sagte, weil sie es hören wollte. Sie nickte. „Das freut mich. Marissa hat Fehler gemacht, ja, aber sie gibt sich große Mühe, nun das Beste daraus zu machen.“

„Das weiß ich doch. In seinem letzten Brief hat Josh geschrieben, dass sie sich bei ihm gemeldet hat. Was genau sie geschrieben hat, weiß ich nicht, aber es hat ihm Hoffnung geschenkt. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Ich glaube, dass er jetzt wieder ein Ziel vor Augen hat, einen Grund, nach Hause zurückzukommen.“

„Das hoffe ich doch. Dir und Marissa zuliebe. Sie liebt ihn, weißt du.“

„Ja. Aber … deshalb bin ich heute nicht hier“, sagte Mark und kam ihr so nah, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. „Es war dumm von mir, auf Abstand zu gehen, Isabelle“, sagte er mit heiserer Stimme. „Kannst du mir noch einmal vergeben und uns eine zweite Chance geben?“

Eine wohlige Wärme machte sich in ihrer Brust breit, doch gleichzeitig schwirrte ihr auch der Kopf. Konnte sie ihm ihr Herz erneut öffnen? „Und was, wenn Marissa Josh noch einmal verletzt? Welche Garantie habe ich, dass du mich nicht wieder zurückstößt?“

„Nur mein Wort“, sagte er. „Ich habe mir geschworen, Josh sein Leben so leben zu lassen, wie er es möchte. Und was aus Marissa und Josh wird oder auch nicht wird, geht nur die beiden etwas an.“

Isabelle zögerte. Sie wollte ihm vergeben, mehr als alles andere. Ihr Mund wurde trocken, als sie versuchte, ihr Gefühlschaos zu ordnen.

„Wenn du erst noch darüber nachdenken musst, kann ich das verstehen. Es ist sicher nicht leicht, mir wieder zu vertrauen“, räumte er mit enttäuschtem Blick ein und trat einen Schritt zurück.

Das versetzte ihrem Herzen einen Stich. Ließ sie ihn jetzt wirklich ziehen?

„Nein, Mark. Warte. Ich …“, sie holte tief Luft. „Ich weiß ja, dass du eigentlich ganz anders bist, mitfühlend und bedacht. Und das schätze ich an dir“, sagte sie und atmete langsam aus. „Ich … ich vergebe dir.“

Seine Erleichterung war offensichtlich. „Danke, Isabelle. Das bedeutet mir die Welt.“ Er trat wieder näher an sie heran und nahm ihre Hand. „Es tut mir so leid, dass ich dich verletzt habe.“

Ihr Herz schlug schneller. „Und es tut mir leid, was ich dir an jenem Tag an den Kopf geworfen habe.“

„Heißt das, dass ich dich vielleicht zum Abendessen ausführen darf?“

„Jetzt gleich?“

„Wenn du Zeit hast?“

„Hm, also eigentlich warte ich gerade auf Ruth“, sagte sie mit gerunzelter Stirn. „Wir sind gemeinsam hergekommen und dann hat sie gesagt, sie müsse sich kurz die Nase pudern. Aber sie ist nie zurückgekehrt. Ich mache mir mittlerweile Sorgen.“

Mark lachte. „Das ist nicht nötig. Sie ist allein nach Hause gefahren.“

„Und woher weißt du das?“

„Das gehörte alles zu meinem Plan. Wenn du meine Entschuldigung nicht angenommen hättest, hätte ich dir ein Taxi bestellt“, erklärte er und streckte eine Hand aus. „Kommst du also mit, Isabelle?“ Er sah sie so hoffnungsvoll an, dass Isabelle die Einladung niemals hätte ablehnen können.

Mit einem schiefen Lächeln gab sie ihm die Hand. „Sehr gern.“

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Unauffällig sah Mark von der Seite zu Isabelle, die neben ihm im Wagen saß, seinen Blumenstrauß in den Händen. Er konnte es kaum fassen, dass sie seiner Einladung zugestimmt hatte.

„Ruth hat erwähnt, dass du darüber nachdenkst, zu studieren. Hast du dich vorhin eingeschrieben?“

„Nein“, erwiderte Isabelle mit einem kleinen Seufzen. „Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.“

„Was möchtest du denn studieren?“

„Soziale Arbeit, denke ich. Ich helfe gerne anderen Menschen, ihre Probleme zu lösen.“

„Das passt doch wunderbar. Und das kann ich mir sehr gut für dich vorstellen.“

„Wirklich?“

„Auf jeden Fall. Dein Umgang mit den Bewohnerinnen in Bennington Place spricht auch dafür. Laura kommt gar nicht mehr aus dem Schwärmen raus.“

Isabelle lachte und errötete leicht. „Ja, sie hat einen kleinen Narren an mir gefressen. Dabei habe ich doch eigentlich kaum etwas für sie getan.“

„Im Gegenteil, Isabelle. Du hast ihr Mut gemacht, ihren Sohn zu behalten, und ihr die Stelle als Rezeptionistin möglich gemacht. Du hast ihr ganzes Leben verändert – und das ihres Sohnes gleich mit.“

Isabelle dachte kurz nach, das Gesagte musste sie anscheinend erst einmal verarbeiten. „Ja … vermutlich hast du recht. Es tut so gut, anderen Menschen zu helfen. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.“

Mark lächelte. Vor dem Royal York Hotel brachte er den Wagen zum Stehen. Nervosität überkam ihn und seine Hände fühlten sich verschwitzt an. Würde der restliche Abend verlaufen wie erhofft? Ganz gleich, wie er ausging: Auf keinen Fall wollte Mark Isabelle drängen oder sie abschrecken. Schließlich hatte sie ihm erst vor fünf Minuten wieder verziehen.

Er nahm sich vor, flexibel zu bleiben und zu schauen, was der Abend bringen würde. Und vor allem wollte er sich einfach daran freuen, wieder mit ihr zusammen zu sein. „Ich hoffe, du hast nichts gegen meine Wahl“, sagte er.

„Ich dachte, wir gehen essen?“, fragte sie verwirrt.

„Ja, tun wir. Keine Sorge.“

„Hier? Im Hotel?“

„Ganz genau“, sagte er, stieg aus und öffnete ihr die Tür.

Langsam kräuselte sich ihre Stirn, während sie ausstieg und die Blumen noch immer fest in den Händen hielt.

„Vertraust du mir, Isabelle?“

„Ja.“

„Gut. Dann erlaube mir bitte, dich heute mal zu verwöhnen“, sagte er und führte sie an der Hand hinein.

Kurz vor dem Aufzug blieb Isabelle abrupt stehen. „Ich weiß nicht, ob ich den benutzen darf“, sagte sie und sah verängstigt über die Schulter, als erwartete sie, festgenommen zu werden, weil sie nicht den Bedienstetenaufzug nutzte.

Sanft legte Mark eine Hand auf ihre Schulter. „Hey, das ist schon in Ordnung. Du arbeitest hier nicht mehr. Heute Abend bist du Gast. Ein ganz besonderer Gast, um genau zu sein.“

Der Aufzug kam und sie fuhren in die vierzehnte Etage. Dort hatte Mark etwas ganz besonderes für sie reserviert.

„Das Garten-Penthouse?“, fragte sie überrascht. „Ich fürchte, Sie erklären mir lieber, was Sie vorhaben, Dr. Henshaw.“

Lachend schloss er die Tür auf. „Du hast doch gesagt, du vertraust mir, oder? Also, geh hinein und sieh selbst.“

Vorsichtig und mit einem besorgten Blick betrat sie die Suite.

Mark folgte ihr und ließ die Tür offen, damit Isabelle sich nicht unwohl fühlte.

Mitten in der Suite blieb Isabelle stehen und bewunderte das elegante Innere: die hohen Wände, der Marmorkamin, zwei Samtsofas, Beistelltische aus Mahagoni-Holz und zwei Kristallleuchter.

Am anderen Ende des Raumes sah Mark einen kleinen Tisch vor dem Fenster, genau wie bestellt. Zwei Teller mit silbernen Speiseglocken warteten dort auf sie. Das musste die Vorspeise sein, die französische Zwiebelsuppe.

Vorsichtig legte Isabelle den Blumenstrauß auf einem der Beistelltische ab und schritt an die Glasfront, die einen herrlichen Blick auf den See bot. „Was für eine Aussicht – atemberaubend“, sagte sie wie verzaubert. Dann aber wandte sie sich besorgt an Mark. „Wie kannst du dir das leisten? Das muss doch sicherlich ein Vermögen kosten!“

„Eigentlich nicht. Du darfst nicht vergessen, dass der Hoteldirektor ein Freund von mir ist. Also ist mir Mr Johnson entgegengekommen“, erklärte er und nahm ihre Hände in die seinen. „Ich wollte, dass du dir heute Abend ganz besonders vorkommst und dich rundum wohlfühlst – so wie ich, wenn ich bei dir bin.“

„Oh, Mark“, erwiderte Isabelle mit glänzenden Augen.

Gerade wollte er sie in die Arme schließen, als es zwei Mal leise an der Tür klopfte.

Nur wenige Sekunden darauf erschien ein Kellner, der einen Servierwagen mit vielen unterschiedlichen Flaschen hereinschob. „Guten Abend, Sir. Darf ich Ihnen und der Dame ein Glas Wein anbieten? Oder lieber einen Schaumwein?“

„Isabelle, was möchtest du lieber trinken?“

„Den Schaumwein, bitte.“

„Für mich auch. Vielen Dank.“

„Sehr gern, Sir“, sagte der Kellner mit einer Verbeugung. Behände schenkte er ihnen zwei Gläser ein und zündete die Kerze auf dem Tisch an. „In etwa dreißig Minuten folgt der Hauptgang.“

„Danke.“

Wieder verbeugte der Kellner sich und verließ dann unauffällig das Zimmer.

Beschwingt nahm Mark die beiden Gläser vom Tisch. „Ich würde gern einen Toast aussprechen“, sagte er. „Auf eine vielversprechende Zukunft.“

Lächelnd nahm Isabelle ihr Glas entgegen und hielt es hoch. „Auf die Zukunft.“

Mark stellte das Glas wieder ab. Sein Herz klopfte laut. Wenngleich er sich vorgenommen hatte, den perfekten Zeitpunkt abzuwarten – wenn die Sonne direkt über dem See unterging –, dachte er, dass es doch jetzt schon an der Zeit war, Isabelle zu sagen, was ihm auf dem Herzen lag.

„Ich habe dich so vermisst, Isabelle. Mehr, als ich es für möglich gehalten habe. Diese Zeit ohne dich hat mir erneut gezeigt, was mir wirklich wichtig ist.“ Sanft fuhr er mit seinem Daumen über ihre zarte Haut. „Ohne dich hat es sich angefühlt, als fehlte meiner Welt ein gewisser Glanz – als gäbe es nur noch Grautöne um mich herum.“ Er holte tief Luft. „Isabelle, ich liebe dich. Und ich wünsche mir, dass wir den Rest unseres Lebens zusammen verbringen.“

Mit zitterndem Kinn nickte sie. „Ich liebe dich auch, Mark. Schon eine ganze Weile.“

Freude erfüllte ihn. Eilig griff er in seine Jackettasche und holte eine kleine Schachtel hervor. „Ich möchte jeden Moment mit dir teilen, Isabelle, die guten wie die schlechten Tage und auch alle dazwischen. Ich möchte eine Familie mit dir gründen und Erinnerungen schaffen, die uns begleiten, bis wir alt sind“, sagte er und ohne den Blick von ihr zu nehmen, öffnete er die Schachtel. „Willst du meine Frau werden?“

Isabelle stiegen die Tränen in die Augen. Überwältigt hob sie eine Hand an den Mund und betrachtete den Ring. Plötzlich wurde Mark klar, wie wenig eindrucksvoll er auf sie wirken musste – sie, eine junge Frau, die als Mädchen den größten Luxus gewohnt gewesen war.

„Wenn er dir nicht gefällt, können wir gern auch einen anderen kaufen. Aber das ist der Ring meiner Mutter und ich dachte –“

„Er ist wunderbar, Mark“, unterbrach sie ihn unter Tränen lächelnd. „Wunderschön.“

Mark hielt inne und suchte ihren Blick. „Heißt das, du sagst Ja?“

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Isabelles Lippen bebten. Geschah das hier gerade wirklich? War sie mutig genug für diesen Schritt?

Lange sah sie ihm in die Augen, in denen so unendlich viel Liebe für sie lag, und da spürte sie die Antwort: „Ja, Mark, ich will.“

Freudestrahlend zog er sie an seine Brust und gab ihr einen langen Kuss. Es war, als erwachte ihr Herz zu neuem Leben. Sie legte die Arme um ihn und erwiderte seinen Kuss mit unerwarteter Leidenschaft.

Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander, beide trugen ein großes Strahlen auf dem Gesicht.

Überglücklich hielt Isabelle Mark ihre Hand entgegen und er zog ihr den Ring über den Finger. Sie schwenkte die Hand leicht, um den Diamanten im Licht funkeln zu lassen. Dass dieser Ring ein Erbstück war, machte ihn für Isabelle umso wertvoller. „Wie schön, dass ich den Ring deiner Mutter tragen darf. Ich werde ihn in Ehren halten.“

„Oh, Isabelle“, hauchte er ihren Namen leise und küsste sie noch einmal, diesmal beinahe ehrfürchtig. Als er danach einen Schritt zurücktrat, wirkte er nachdenklich.

„Was ist?“, fragte sie.

„Ich denke, es ist nur gerecht, dich vorzuwarnen, was es bedeutet, einen Arzt zu heiraten. Meine Arbeitstage sind sehr lang. Und ich kann jederzeit, am Tag oder in der Nacht, zu einem Notfall gerufen werden. Das kann ganz schön herausfordernd sein.“

Behutsam legte sie eine Hand auf seine Wange und genoss das feine Kribbeln seiner Bartstoppeln unter der Haut. „Aber genau das, dass du Arzt bist, macht dich doch aus, Mark. Deine Hingabe für deine Patienten, dein Mitgefühl und deine Güte – für all das liebe ich dich. Und das wird sich niemals ändern.“

Wieder küsste er sie. „Gut“, sagte er grinsend. „Wenn das also feststeht: Was hältst du davon, wenn wir jetzt essen?“

„Ja, bitte.“

„Sehr gut“, sagte er und schob ihr den Stuhl zurecht, bevor er sich selbst setzte. „Und danach kannst du die Einschreibung für die Uni ausfüllen.“ Langsam hob er die Haube von den Tellern und ein köstlicher Suppenduft erfüllte die Luft.

Doch Marks letzter Satz vertrieb Isabelles Hungergefühl. Stattdessen spürte sie Angst in sich aufsteigen. „Ich – ich weiß nicht, ob ich dafür bereit bin“, entgegnete sie.

„Was hält dich denn zurück?“

Zögerlich biss sie sich auf die Lippe. „Nun ja, ich muss ja auch an Marissa und das Baby denken. Und ich muss erst noch herausfinden, ob mir neben der Arbeit überhaupt genug Zeit zum Studieren bleibt.“

„Und was, wenn das keine Rolle spielen würde?“, fragte Mark, während er ihre Hand nahm und sie eindringlich ansah. „Wir könnten noch vor Weihnachten heiraten und dann könntest du im Januar als Vollzeitstudentin anfangen.“

„Weihnachten ist schon in zwei Monaten! So schnell können wir doch keine Hochzeit planen.“

„Isabelle, ich möchte nicht noch mehr Zeit ohne dich verschwenden. Du, Marissa und das Baby, ihr zieht einfach bei mir ein – dann brauchst du nicht mehr zu arbeiten und kannst all deine Energie in dein Studium stecken.“ Grinsend hob er eine Augenbraue. „Na gut, vielleicht nicht ganz. Einen kleinen Teil hältst du hoffentlich für mich zurück.“

Seinen Versuch, lustig zu sein, ignorierte Isabelle und blieb ernst. „Aber was ist, wenn Josh wiederkommt? Was, wenn es ganz merkwürdig ist zwischen den beiden?“

„Dann finden wir gemeinsam eine Lösung“, sagte er und seine haselnussbraunen Augen funkelten. „Mir ist klar geworden, dass ich mein Leben nicht immer wieder für Josh auf Eis legen kann. Das habe ich schon viel zu lange getan. Jetzt ist es endlich an der Zeit, mich auf mein eigenes Glück zu konzentrieren.“

Sie nickte und dachte einen Moment lang über alles nach. „Es würde dich nicht stören, wenn deine Frau auch einen Beruf hätte?“

„Überhaupt nicht.“

„Und was, wenn wir Kinder haben wollen?“

Jetzt dachte Mark einen Moment lang nach. „Wenn es so weit ist, entscheiden wir noch mal neu, was das Beste für uns ist.“

Wieder traten Isabelle Freudentränen in die Augen. Nicht eine Sekunde lang hatte er ihren Wunsch zu studieren und anschließend zu arbeiten infrage gestellt. Nicht viele Männer teilten solch moderne Ansichten.

„Na, was sagst du, Isabelle?“, fragte er vorsichtig. „Heiraten wir an Weihnachten?“

Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“

Enttäuschung spiegelte sich in Marks Gesicht wider. „Oh. Dann … dann werde ich warten, bis du so weit bist.“

Isabelle schürzte die Lippen. „Ich denke, Anfang Dezember passt noch besser. So steht unsere Hochzeit auch keiner Weihnachtsfeier im Weg. Und ich habe genug Zeit, bei dir einzuziehen, bevor … “, sie schluckte, „bevor ich an der Uni anfange.“

„Meinst du das ernst?“

Isabelle holte tief Luft und atmete dann langsam wieder aus. „Ich glaube schon, ja.“

Ein Strahlen erschien auf Marks Gesicht. „Ich weiß es jetzt schon zu schätzen, dass du mit beiden Beinen im Leben stehst.“

Erleichtert lachte sie und spürte, wie das Gefühl von Freude ihren ganzen Körper durchströmte.

„So, jetzt essen wir aber besser. Sonst ist gleich alles kalt. Und der nächste Gang ist sicher auch jeden Moment hier.“

Mit einem fröhlichen Seufzen breitete Isabelle die Serviette vor sich aus. „Ich möchte wirklich jede Sekunde dieses Abends genießen. Denn danach werde ich mich voll und ganz in die Hochzeitsvorbereitungen stürzen.“

Ermahnend hob er einen Finger. „Und dich an der Universität einschreiben.“

„Ja, das auch“, sagte sie und musste erneut lachen. Nach all den Kämpfen der letzten Monate konnte sie kaum fassen, dass ihr Leben endlich nicht mehr Kopf stand. Das Schlimmste hatten sie und Marissa jetzt durchgestanden. Nun blickte sie in eine schöne Zukunft und durfte sich auf einen liebevollen Ehemann freuen.

Bei diesem Gedanken quoll ihr Herz beinahe über vor Freude und Dankbarkeit. Gott hatte sie selbst durch das tiefste Tal begleitet und wieder zurück ans Licht geführt.