Epilog

MAI 1946

Das Lachen eines kleinen Mädchens drang durch das Treppenhaus nach oben, wo Isabelle am Schreibtisch über den Büchern saß. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, wie Marissa die kleine Lisette auf der Schaukel anstieß, die Mark im Garten angebracht hatte. Wie gern wäre sie jetzt auch bei ihnen!

Es sollte ein Gesetz geben, das das Lernen bei herrlichem Wetter verbot – vor allem, wenn ihr Mann auch noch freihatte. Doch bald schon würde sie wieder Zeit für Vergnügungen haben. In wenigen Wochen standen die Abschlussprüfungen an und wenn Isabelle diese bestand, war sie ausgebildete Sozialarbeiterin. Bisher hatte sie ehrenamtlich unter Jane Wilders Aufsicht in der Children’s Aid Society mitgearbeitet und jede Sekunde davon genossen. Am besten gefiel ihr, dass Jane ihren Vorschlag einer Kinderbetreuung ernst genommen hatte und sich nun überlegte, wie sie dies möglich machen konnte.

Nachdenklich ließ Isabelle den Blick durch Marks altes Schlafzimmer wandern, das er nach der Hochzeit für sie in ein Büro umgewandelt hatte. Dass sie einen Rückzugsort hatte, wo sie vor Unruhe und Unterbrechungen geschützt war und sich aufs Lernen konzentrieren konnte, war ihr eine große Hilfe gewesen. Es war ihr sogar gelungen, ein paar mehr Kurse zu belegen als gedacht, sodass sie das Studium schon ein Semester früher abschließen konnte.

Doch das Allerbeste an diesem Zimmer war der alte Schreibtisch im französischen Stil, der ihrer Mutter gehört hatte – Marks Hochzeitsgeschenk. Verträumt fuhr sie mit dem Finger über den innig geliebten Tisch und erinnerte sich an den Freudentag, als er hier eingezogen war.

Offensichtlich war Mark zum alten Wardrop-Anwesen gefahren und hatte von den neuen Besitzern erfahren, dass der Tisch existierte. Was genau er hatte tun müssen, damit sie ihn ihm verkauft hatten, hatte er ihr nicht erzählt. Doch sie war ihm ausgesprochen dankbar dafür. Jedes Mal, wenn sie daran arbeitete, stellte sie sich ihre lächelnde Mutter vor.

Kurz stand Isabelle auf und streckte sich. Was sie gerade las, wollte einfach nicht im Kopf bleiben. Sie versuchte es mit einem kleinen Happen zu essen und einem Tapetenwechsel. Vielleicht waren ein paar Minuten bei ihrer Familie an der frischen Luft jetzt genau das Richtige. Als sie gerade in der Küche ankam, kam auch ihre Schwester mit der kleinen Lisette auf der Hüfte hinein.

„Ich glaube, da hat noch jemand Hunger“, sagte Marissa, während sie der Kleinen ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. „Mark jätet gerade noch Unkraut, aber er kommt sicher auch jeden Moment.“

„Hallo, Mäuschen“, summte Isabelle. „Möchtest du ein bisschen was mit deiner Tante essen?“

„Essen“, wiederholte das Kind mit strahlendem Gesicht.

Isabelle öffnete den Kühlschrank, mit dem Mark den nicht mehr zeitgemäßen Eisschrank vor Kurzem ersetzt hatte. „Wie wäre es mit ein paar Apfelspalten?“, fragte sie, nahm einen Apfel heraus und trug ihn zur Küchenzeile, während Marissa den Knirps in den hölzernen Hochstuhl setzte.

„Rosie hat vorhin angerufen“, sagte sie. „Sie wollte wissen, wann deine Abschlussfeier ist, damit sie und Fiona den Abend freihalten können.“

„Tatsächlich? Ich dachte, sie wären dann schon längst in Adams Sommerhaus.“ Kurz nach Fionas und Adams Hochzeit hatten die beiden sich ein kleineres Haus gekauft und Tante Rosie zu sich geholt. Im Gegenzug kochte diese für das Paar und stand bei den übrigen Haushaltstätigkeiten unterstützend zur Seite, um niemandem zur Last zu fallen. Es freute Isabelle sehr, dass Tante Rosie jetzt unter so viel besseren Bedingungen lebte.

„Anscheinend warten sie damit bis nach der Feier“, sagte Marissa und stupste ihrer Tochter liebevoll auf die Nase, was die Kleine zum Kichern brachte.

Dass Isabelle so wunderbare Freundinnen hatte, erfüllte sie mit tiefer Dankbarkeit. Sobald sie mit dem Studium fertig wäre, würde sie sie alle zu einem feierlichen Essen einladen.

Jetzt hörten sie, wie jemand durch die Eingangstür ins Haus kam. Isabelle legte die Stirn in Falten. War Mark einmal ums Haus herumgegangen? Sie warf einen Blick zu Marissa, die genauso verunsichert schien. Schwere Schritte kamen näher.

„Wer ist da?“, rief Isabelle mit fester Stimme und nahm sicherheitshalber das Gemüsemesser zur Hand.

Plötzlich stand ein uniformierter Mann in der Tür und grinste. „So begrüßt ihr also einen Soldaten?“

Einen Moment lang schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Als Nächstes gab Marissa einen Freudenschrei von sich und warf sich Josh in die Arme.

Er umarmte sie herzlich und hob sie leicht in die Höhe. Schluchzend begann Marissa am ganzen Körper zu zittern.

Überwältigt hielt Isabelle die Hand an den Mund und hatte ebenfalls Tränen in den Augen.

Josh ließ Marissa wieder herunter, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie, lang und leidenschaftlich.

„Mama, Mama“, sagte Lisette, während sie protestierend mit ihren kleinen Fäusten auf das Holztischchen schlug, sodass das Paar sich voneinander löste.

„Ich bin ja da, Mäuschen“, sagte Marissa freudestrahlend und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Herzlich willkommen zu Hause, Josh“, begrüßte Isabelle ihn mit einer festen Umarmung. „Mark wird so froh sein, dich wiederzusehen“, sagte sie und konnte kaum weitersprechen, während sie sich die Reaktion ihres Mannes vorstellte. Sein kleiner Bruder war endlich wieder zu Hause, in Sicherheit!

„Nicht so froh wie ich“, sagte er und sein Blick landete wieder auf Marissa. Er sah größer und muskulöser aus als zuvor und in seinem Blick lag eine neue Reife.

Über die Seitentür kam Mark in die Küche. „Ich glaube, ein Kaninchen hat sich über unseren Salat hergemacht“, sagte er und erstarrte, als er den jungen Mann in der Küche stehen sah.

„Hallo, großer Bruder“, sagte Josh grinsend. „Was ist denn los? Ich hätte mindestens einen Festzug zu Ehren meiner Rückkehr erwartet!“

Ohne ein Wort ging Mark auf Josh zu und schloss ihn in eine feste Umarmung. Mehrere Sekunden lang verharrten sie so und als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, hatten sie Tränen in den Augen.

Auch Isabelle wischte sich über die feuchten Wangen. Endlich konnte Mark durchatmen – sein Bruder war unversehrt zurückgekommen!

Er räusperte sich. „Wie geht es dir? Wann bist du angekommen? Hast du Hunger?“

Josh lachte. „Mir geht’s gut, danke. Ich bin erst seit wenigen Minuten hier. Und ja, ich könnte etwas zu essen vertragen, aber …“ Langsam ließ er den Blick wieder zu Marissa wandern, wo er verweilte.

„Wie wäre es, wenn Mark und ich Lissy füttern“, schlug Isabelle vor, „und ihr beiden könnt euch kurz unterhalten?“

Durch die Tränen hindurch lächelte Marissa ihre Schwester an. „Das klingt großartig“, sagte sie und streckte ihre Hand Josh entgegen, der sie sofort umschloss. Gemeinsam gingen sie in den Garten.

Isabelle stellte sich zu Mark und umarmte ihn. „Ihr habt später noch Zeit füreinander. Aber ich glaube, zuerst brauchen die beiden einen Moment für sich.“

Mit einem kleinen Seufzen nickte er. „Ja, du hast recht. Wenn ich weg gewesen wäre, würde ich auch als Erstes zu dir wollen und die verlorene Zeit aufholen“, sagte er und gab Isabelle einen Kuss. „Aber er sieht gut aus, findest du nicht auch?“

„Ja, absolut.“

Quengelnd trat Lissy gegen den Hochstuhl.

Isabelle lachte. „Ist ja gut, Süße. Hier kommt dein Apfel.“

Während sie die Frucht in Spalten schnitt, füllte sich ihr Herz mit Dankbarkeit. „Danke, Herr, dass du Josh bewahrt hast und ihn zu seiner Familie zurückgebracht hast.“

ZWEI MONATE SPӒTER

„Beeilt euch! Sie ist jeden Augenblick da“, rief Olivia, als sie in den Salon des Mütterheims huschte und die anderen mit einer Handbewegung dazu aufforderte, ihre Plätze einzunehmen.

Isabelle ging einen Schritt zur Seite und fragte sich, wie es dreißig Gäste schaffen sollten, sich hinter Möbeln zu verstecken oder sich sonst irgendwie unsichtbar zu machen. Als ob das überhaupt möglich wäre!

Im nächsten Moment spürte sie Marks warme Hand auf der Schulter. „Du denkst vielleicht, dass du dich gerade versteckst. Aber ich wette mit dir, dass du mit dem Babybauch ebenso wenig zu übersehen bist wie ein bunter Hund.“

Lachend sah sie zu ihm auf. „Hey, hör auf“, flüsterte sie. „Man sieht doch noch kaum etwas.“ Sie wusste, dass er sie bloß necken wollte, schließlich war sie erst im vierten Monat.

Wie immer, bevor Mark sie küsste, wurde sein Blick ganz sanft. Seine Lippen verweilten ein paar Sekunden länger auf den ihren und entlockte ihr ein kleines, zufriedenes Seufzen. Nach eineinhalb Jahren Ehe schien das Leben zu zweit stets besser zu werden.

Hinter ihnen räusperte sich jemand. „Könnt ihr zwei Turteltauben euch vielleicht für ein paar Stunden zusammenreißen? Ist schon schlimm genug, dass ich das zu Hause ertragen muss.“

Energisch drehte Isabelle sich um, um ihrer Schwester einen mahnenden Blick zuzuwerfen. Doch als sie Marissas glückliches Gesicht sah, und daneben Josh, der genauso frech grinste, verkniff sich Isabelle die sarkastische Bemerkung. Sie war von Herzen dankbar. Dass Marissa und Josh sich vertragen hatten, machte sie sehr froh – genau wie die geplante Hochzeit am Ende des Sommers.

Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür holte Isabelle wieder in die Gegenwart zurück.

„Ehrlich, Darius. Das war absolut nicht nötig“, hörte man Ruths Stimme im sonst sehr ruhigen Korridor. „Ich hätte auch einfach warten können, bis –“

„ÜBERRASCHUNG!“, ertönte es und überall sprangen Gäste aus ihren Verstecken hervor, sobald Ruth in der Tür erschien.

Jetzt stand die Frau, die normalerweise nichts überraschen konnte, verblüfft und mit offenem Mund da, hob die Hände an den Hals und lachte. „Himmel! So was könnt ihr doch nicht machen mit einer alten Frau.“

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebste Ruth“, gratulierte Olivia ihr, als sie auf sie zuging und sie umarmte.

Rasch ließ Ruth den Blick über die vielen Gesichter gleiten, bevor sie sich wieder an Olivia wandte. „Hast du das etwa alles organisiert?“, fragte sie, den Tränen sichtbar nahe.

„Ja, aber nicht allein“, erwiderte Olivia und zeigte mit der Hand auf die Bewohnerinnen.

Mit erhobenem Finger drehte Ruth sich zu Olivias Ehemann um: „Jetzt ist mir auch klar, warum du unbedingt hier vorbeikommen wolltest, Darius Reed. Du bist vielleicht ein Schelm, du.“

„Ach, Sie werden ja auch nicht alle Tage fünfundsiebzig“, wandte Jane Wilder ein, als sie auf Ruth zutrat und ihr einen Umschlag in die Hand drückte. „Das hier ist eine kleine Geste der Wertschätzung von … nun ja, in Wahrheit von der ganzen Children’s Aid Society.“

Als neueste Mitarbeiterin der Organisation barst Isabelles Herz beinahe vor Stolz. Sie hatte Jane geholfen, Geld für Bennington Place zu sammeln. Lächelnd drückte Mark Isabelles Hand, als sie gespannt zusahen, wie Ruth den Umschlag öffnete.

Schnell las Ruth die Karte, die von allen Mitarbeitern der Children’s Aid und der Kinderbetreuung unterzeichnet worden war. Tränen traten der alten Frau in die Augen. Sie holte den Scheck hervor und ihre Augen weiteten sich. „Ach du liebe Zeit – was für eine großzügige Summe! Vielen lieben Dank, Janet und Garret.“

Fröhlich legte Garret einen Arm um die Schulter seiner Frau. „Wir dachten, eine Spende an Bennington Place macht Ihnen sicher mehr Freude als ein persönliches Geschenk“, sagte er erklärend. „Aber wir wollten Ihnen unbedingt zeigen, wie sehr wir Ihre Arbeit hier schätzen und wie wichtig uns die Partnerschaft mit Ihnen ist. So können wir uns gemeinsam um das Beste für die Bewohnerinnen und ihre Kinder bemühen.“

„Ach, Sie rechnen mir das Ganze viel zu hoch an“, wollte Ruth ihr Engagement herunterspielen, während sie sich die Tränen von den Wangen wischte.

„Nein, Ruth, das tun wir nicht“, wandte Olivia ein. „Ohne dich wäre das alles hier niemals möglich gewesen. Danke, dass du an meinen Traum geglaubt und ihn mit mir in die Realität umgesetzt hast.“ Ruth fehlten die Worte. Gerührt schloss sie Olivia in eine feste Umarmung.

Isabelle musste sich Tränen von der Wange wischen und als sie hörte, wie Mark sich räusperte, nahm sie an, dass auch er mit seinen Gefühlen rang.

„Nanu, was sollen denn all die Tränen?“, fragte Mrs Neale, die jetzt eine mehrstöckige Geburtstagstorte auf dem Servierwagen in den Salon schob. „Das soll doch eine Geburtstagsfeier sein“, rügte die pummelige Frau die Anwesenden mit gespielt strengem Blick.

Lächelnd löste Olivia sich aus der Umarmung und wischte sich rasch über die Augen. „Oh, danke, Mrs Neale. Ich hoffe sehr, Sie bleiben noch eine Weile und feiern mit uns.“

Die Köchin errötete. „Sehr gern.“

„Wunderbar. Dann darfst du, Ruth, dir jetzt als Erste ein Stück Torte nehmen und dir etwas wünschen.“

Mit einem Lächeln trat Ruth an den Servierwagen. „Ehrlich gesagt bin ich wunschlos glücklich. Ich habe alles, was ich mir gewünscht habe.“

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Glücklich summte Isabelle vor sich hin, während sie das dreckige Geschirr auf einem Tablett stapelte. Die meisten Gäste hatten sich bereits verabschiedet; Olivia und Jane halfen noch beim Aufräumen. Marissa und Josh waren bereits nach Hause gegangen, um ihre Nachbarin abzulösen, die sich den Abend über um die kleine Lisette gekümmert hatte. Darius und Mark brauchten einen Moment an der frischen Luft und Ruth stand im Foyer, wo sie die letzten Gäste verabschiedete.

Dass Olivia ihr half, hatte Isabelle nicht anders erwartet, aber weshalb Jane nicht mit ihrem Mann Garrett gefahren war, der ein paar der Frauen nach Hause brachte, wusste sie nicht. Sie hatte ihn einfach gebeten, sie im Anschluss hier abzuholen.

Gerade ging sie auf Olivia zu, die Kuchenkrümel vom Sofa kehrte. „Olivia“, sagte Jane zögerlich. „Ich habe hier noch etwas für dich.“ Sie gab ihr einen weißen Briefumschlag.

Isabelle kannte Jane recht gut, seit sie zusammen arbeiteten, und sie spürte, wie angespannt sie plötzlich war. Aber weshalb?

Kurz blickte Jane zu Isabelle, der einzigen anderen Person im Raum und sagte: „Möchtest du ihn vielleicht woanders lesen, Olivia? Wo du ungestört bist?“

Sie richtete sich auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe keine Geheimnisse vor Isabelle.“

Isabelle wurde warm ums Herz, sie war dankbar für das Geschenk ihrer Freundschaft. Zur Unterstützung stellte sie sich neben Olivia und betete, dass es sich nicht um schlechte Nachrichten handelte.

Ohne ein weiteres Wort öffnete Olivia den Umschlag. Mit zitternden Händen zog sie eine Schwarz-Weiß-Fotografie heraus.

Neugierig blickte Isabelle über die Schulter und sah einen kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und großen, dunklen Augen. Sie verstand nicht ganz, warum ihrer Freundin der Atem stockte. Wie im Schock hob Olivia die Hand an den Mund, als sie sich auf das Sofa sinken ließ.

Isabelle setzte sich neben sie. „Ist alles in Ordnung, Liv?“

Olivia nickte, wenngleich ihr plötzlich Tränen über das Gesicht liefen.

„Es liegt auch ein Brief bei“, sagte Jane mit ruhiger Stimme.

Gerade kam Ruth in den Salon und runzelte die Stirn, als sie die Szene vor sich sah. Sie hielt sich aber zurück und sah bloß zu, wie Olivia ein Blatt Papier mit ordentlicher Handschrift hervorholte. Sie las den kurzen Brief, dann ließ sie den Kopf sinken und weinte still.

Voller Fragen nahm Isabelle Olivia in die Arme und sah kurz zu Jane, überrascht, dass die sonst so stoische Frau auch Tränen in den Augen hatte. Plötzlich hatte Isabelle eine Ahnung, was dieser Brief und das Bild bedeutete und ihr Hals schnürte sich zu.

„Matteo“, flüsterte Olivia. „Sie haben ihn nicht umbenannt.“

„Ja, ich weiß“, sagte Jane und wischte sich über die feuchten Wangen. „Es tut mir so leid, dass ich dir die ganze Zeit über nichts sagen konnte, Olivia. Das konnte ich erst, als seine Adoptivmutter mich aufgesucht hat und mich gebeten hat, dir den Brief zukommen zu lassen.“

Ruth kam näher. „Oh, Olivia, Liebes. Das freut mich so für dich.“

Wieder nahm Olivia das Bild in die Hand und fuhr langsam mit den Fingern über das kleine Gesicht. „Er ist so schön.“

„Er sieht aus wie du“, flüsterte Isabelle. Denn tatsächlich hatte der Junge Olivias dunkles Haar und ihre großen Augen – seine italienische Abstammung war nicht abzustreiten.

„Seine Mutter sagt, dass er jetzt in die erste Klasse geht. Und er spielt gerne Ball und liebt das Fahrradfahren“, erzählte Olivia, hielt dann aber inne, unfähig weiterzusprechen.

Auch Isabelle musste hart schlucken. Durch die Schwangerschaft war sie viel emotionaler als für gewöhnlich.

Wieder sah Olivia auf den Brief. „Außerdem schreibt sie: ‚Danke, dass Sie den Mut hatten, Ihren Sohn abzugeben. Matteo ist das größte Geschenk für uns. Worte können unsere Dankbarkeit nicht ausdrücken‘.“

Zärtlich drückte Isabelle ihr die Schulter. „Das ist wirklich nett von ihr.“

„Ja. Ich hatte aber leider nicht den Eindruck, dass Matteos Eltern schon für einen Besuch von dir bereit wären“, sagte Jane. „Dennoch ist das hier ein wunderbarer erster Schritt.“

Schniefend holte Olivia Luft. „Das ist mehr, als ich je erwartet hätte.“

Just in diesem Moment ertönten Schritte. Darius kam herein und runzelte die Stirn. „Olivia? Was ist denn hier los?“, fragte er mit Blick in Richtung Jane.

Eilig stand Olivia auf, Brief und Bild in der Hand, und warf sich in die Arme ihres Mannes. „Oh, Darius. Es geht um Matteo. Seine Mutter hat mir geschrieben“, sagte sie und begann zu weinen.

Fest umarmte er sie und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, glitzerten sie.

„Sieh mal“, sagte Olivia schließlich und zeigte ihm die Fotografie. „Sieht er nicht gut aus?“

Neugierig betrachtete Darius das Bild und machte keinen Anstand, seine Gefühle zu verbergen.

„Das tut er, ganz wie seine Mutter“, erwiderte er und gab ihr einen Kuss auf die Schläfe. Dann betete er laut: „Danke, Herr, dass du unser Gebet erhört und Olivia erlaubt hast, Frieden über Matteo zu finden. So, wie sie es sich gewünscht hat. Und bitte segne seine Adoptiveltern. Schenke ihnen Geduld und Liebe für ihn und hilf den beiden, Matteo in Ehrfurcht zu dir zu erziehen.“

„Amen”, flüsterte Olivia und wandte sich an Jane. „Danke, Jane. Das bedeutet mir sehr viel.“

„Das freut mich“, erwiderte sie und umarmte Olivia.

Gerade, als die beiden Frauen sich aus der Umarmung lösten, kamen Mark und Garrett in den Salon.

„Auch wenn ich diese Feier nur sehr ungern verlasse“, sagte Garrett zu Jane, „fürchte ich, dass wir losmüssen. Die Kinder warten.“

Isabelle legte Olivia eine Hand auf die Schulter. „Und ihr solltet euch jetzt auch besser auf den Weg machen, es ist schon spät. Ich kümmere mich um den Rest.“

„Sicher?“

„Absolut.“

Mit einem Grinsen stellte sich Mark neben Isabelle. „Ich werde sogar für dich abtrocknen, Olivia.“

Nachdem sie die Reeds verabschiedet hatten, wandte sich Ruth Isabelle und Mark mit bewegter Miene zu. „Vielen lieben Dank noch mal, ihr beiden. Das war ein wunderschöner Abend, der mir lange in Erinnerung bleiben wird.“

„Das hören wir gern“, erwiderte Mark und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich habe es sehr genossen. Aber wenn es euch nichts ausmacht, würde ich jetzt auch in Richtung Bett gehen.“

„Geh ruhig, Ruth. Wir räumen noch schnell die Küche auf und schließen mit dem Ersatzschlüssel ab“, versicherte Mark ihr.

„Danke euch beiden“, wiederholte sie zufrieden. „Das war der schönste Geburtstag, den ich je hatte.“ Mit einem letzten Lächeln stieg sie die Stufen empor.

Während Mark ihr noch nachsah, ging Isabelle bereits zurück in die Küche. Mrs Neale hatten sie in den Feierabend geschickt, gleich nachdem Ruth die Geschenke geöffnet hatte. Die gute Seele war bereits seit fünf Uhr morgens auf den Beinen gewesen.

Die Ruhe in der Küche umhüllte Isabelle wie eine warme Umarmung. Wieder hier zu sein, brachte gute Erinnerungen an die Zeiten zurück, in denen sie Mrs Neale zur Hand gegangen war. Für immer würde dieser Ort einen ganz besonderen Platz in Isabelles Herzen einnehmen. Hier war sie zum ersten Mal bedingungslos akzeptiert worden und hatte gelernt, was wahre Freundschaft ausmachte. Außerdem hatte sie hier ihre Berufung für sich erkannt.

Von hinten trat Mark an die Küchenzeile und schlang seine Arme um ihre Taille. „Na, mein Liebling, worüber denkst du nach?“

Lächelnd ließ sie den Kopf gegen seine Brust fallen. „Ich habe nur gerade gedacht, wie reich Gott mich gesegnet hat“, sagte sie. „Vor allem mit dir.“

Als er sie langsam umdrehte, sodass sie ihn direkt ansah, war sie überwältigt von den tiefen Gefühlen in seinem Blick. „Ich bin der Gesegnete“, sagte er. „Noch immer kann ich kaum glauben, dass ich so eine unglaubliche Frau wie dich gefunden habe. Lange hatte ich nur einen Bruder, aber jetzt habe ich Josh, Marissa, die kleine Lisette, eine wunderschöne Ehefrau“, sagte er und fuhr zärtlich mit der Hand über ihren Bauch, „und bald auch noch ein Kind mit dir. Gott ist wirklich gut zu uns.“

Isabelle lächelte ihn an. „Als wir unser Elternhaus an die Bank verloren haben, hatte ich Angst, nie wieder ein Zuhause zu haben. Aber Gott hat mir meinen größten Herzenswunsch erfüllt.“

Grinsend zog Mark eine Braue hoch. „Ich wusste gar nicht, dass mein Haus dein sehnlichster Wunsch war. Vor allem nicht nach dem, wie du aufgewachsen bist.“

„Nicht das Haus, du Dummi. Du“, sagte sie und legte eine Hand an seine Wange. „Du bist meine Heimat. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Und ich bin unendlich dankbar, dass Gott uns zusammengeführt hat – auch wenn es einige Umwege gebraucht hat.“

„Ich liebe dich auch, Mrs Henshaw. Mehr, als Worte es ausdrücken können“, sagte er und küsste sie.

Isabelles Seele seufzte vor Glück. Sie hatte so viele Enttäuschungen erlebt und doch hatte sie durchgehalten und war dank Gottes Gnade umso stärker geworden. Eines wusste sie jetzt sicher: Ganz gleich, wie schlimm der Sturm oder wie groß die Herausforderungen auch waren – Gott blieb immer an ihrer Seite und mit ihm konnte sie alles schaffen.

„So gern ich auch hier stehen bleiben und dich die ganze Nacht küssen würde“, sagte Mark schließlich, „wäre es wohl am besten, wenn wir die Küche fertig machen und dann heimfahren würden.“

„Ja“, sagte Isabelle zufrieden und zog ihn in eine letzte Umarmung. „Heim.“