Ein halbes Herz

Zelda

»Begleitet Sie jemand?«

Zelda hört die Frage nicht. Sie ist von einem Lichtquadrat auf dem blauen Linoleumboden abgelenkt. Durch die abgestandene Sprechzimmerluft schweben Staubpartikel.

Die Krankenschwester blickt von ihrem Klemmbrett auf. »Wartet jemand draußen auf Sie? Ein Freund, ein Angehöriger?«

»Nein.« Zelda verschränkt die Arme. »Ist doch okay, oder? Ich bin erst in der siebten Woche, also kann ich doch einfach die Pille nehmen und wieder gehen.«

Lächelnd dreht die Krankenschwester ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Dann gehe ich davon aus, die Antwort auf die Frage, ob dies Ihr erster Abbruch ist, lautet Nein.«

Sie klingt freundlich, und am liebsten würde Zelda laut lachen. An die Frau kann sie sich vom letzten Mal sogar erinnern. Als sie hereingerufen wurde und ein bekanntes Gesicht entdeckte, fühlte es sich fast nach Geborgenheit an. Doch die Krankenschwester kann sich an sie nicht erinnern. Zelda fragt sich, wie viele Frauen mit knallroten Haaren in Männerklamotten in diese Klinik spazieren und ob man sie wirklich so leicht vergisst. Hoffentlich nicht.

»Aller guten Dinge sind drei«, antwortet Zelda.

Die Krankenschwester macht sich eine Notiz. Da ist nicht der Hauch von Verurteilung in ihrem Gesicht. Sie trägt ein halbes Herz um den Hals, und Zelda fällt ihr eigenes wieder ein, das ihre Schulfreundin Leila ihr zum Jahrtausendwechsel geschenkt hat, in ihrem Abschlussjahr. Zelda fragt sich, wer wohl die andere Hälfte des Krankenschwesterherzens trägt. An Leila kann sie sich kaum noch erinnern.

Als sie wieder auf die Straße tritt, ist Rushhour. Sie hört einen Lkw zurücksetzen und das Plaudern der Passanten. Die Bäume entlang des Gehwegs haben noch nicht ausgeschlagen, aber die Knospen sind bereits da. Zelda lässt die Tür hinter sich zufallen und zündet sich eine Zigarette an, zieht den Jackenkragen enger und lehnt sich an die Wand. Irgendwo läuft ein Radio, es geht um einen bevorstehenden Schneesturm, die Bestie aus dem Osten. Zelda hält das Gesicht in die Sonne.

Die Tabletten in ihrer Tasche will sie nehmen, sobald sie zu Hause ist. Sie hofft, dass noch ein bisschen Whisky da ist. Damit lassen sie sich leichter hinunterspülen. Egal, was die Krankenschwester sagt – die Krämpfe sind erträglicher, wenn die Kanten weicher sind.

Eine Frau bedenkt sie im Vorbeigehen mit einem empörten Blick. Vielleicht wegen der Zigarette – oder wegen der Abtreibungsklinik, vor der sie steht. Zelda starrt finster zurück.

Als sie sich in Bewegung setzt, riecht die Luft süß nach Zimt. Sofort steht ihr wieder der Grund für ihren empfindlicheren Geruchssinn vor Augen, und in der Hoffnung, ihn gleich wieder zu vergessen, kauft sie sich in der Bäckerei das größte, blättrigste Gebäckstück. Aller guten Dinge sind drei. Für die Narben, die sie davongetragen hat, würde sie sich nie entschuldigen, trotzdem sind sie da.

Zelda beißt gerade in den Blätterteig, als sie sie hinter der nächsten Straßenecke entdeckt. Abrupt bleibt sie stehen. Da, ein Stück voraus auf dem Gehweg, stehen zwei verhalten lächelnde Frauen in knielangen Röcken neben einem rollbaren Broschürenstand. Zelda kennt die beiden nicht – sie hat sich für eine Klinik in einer anderen Stadt entschieden – , aber die zwei sehen aus, wie sie alle aussehen. Auf dem Banner über den Broschüren steht: Ewiges Leben – wann?

Ihr schnürt sich die Kehle zu. Sie huscht zurück um die Ecke und presst sich gegen die Mauer. Ihr ist so schwindlig, dass sie nicht einmal merkt, dass ihr Samtsakko am Backstein einreißt.

In der nächstbesten Seitenstraße geht sie in Deckung. Ihr ist, als müsste sie sich übergeben, und so kommt es dann auch, direkt an einer leuchtend blauen Mülltonne. Erbrochenes sickert in alle Richtungen.

»Fuck«, sagt sie zum Boden. »So viele Jahre, und immer noch erwischen sie dich eiskalt.«