Jen flüchtet vor dem Platzregen ins Kaufhaus. Rennen kann sie nicht mehr. Sie hat vergessen, sich von ihren Füßen zu verabschieden, bevor sie verschwanden, bevor sich neue Teile von ihr davorschoben: ihre Wangen, ihre Schenkel, ihr Busen, ihr Bauch. Alles ist durch Wassereinlagerungen und das neue Leben, das in ihr heranwächst, aus dem Leim gegangen.
Sie nimmt sich einen Flyer, um sich Luft zuzufächeln. Im Januar ist es in dem Kaufhaus eisig, trotzdem kriecht ihr der Schweiß aus allen Poren. Während sie nach hinten durchgeht, zieht sie eine Lage nach der anderen aus.
Sie hat hier Stunden zugebracht, ist in den Gängen mit Bettchen und Wannen und winziger Kleidung auf und ab gewandert. Die Auswahl an Zubehör ist überwältigend. Nach einer geschlagenen Stunde, in der sie Kinderwagen auseinander- und wieder zusammengeklappt hatten, hätte Pete fast das Handtuch geworfen. Wir sind ein einziges Klischee, dachte Jen bei seinem Anblick. Er lässt seine Ungeduld an unbelebten Dingen aus, während ich einfach nur jemanden brauche, der mir mal die Füße massiert.
Oft steht Jen einfach nur irgendwo herum und wartet darauf, dass andere werdende Mütter vorbeikommen. Dann tut sie so, als würde sie an Cremes schnuppern, obwohl sie in Wahrheit die Frauen mustert, die alle so aussehen und sich bewegen wie sie. Wie sie die Hand an den Bauch legen. Wie sich die Blockstreifen über ihrem Leib dehnen. Sie fühlt sich all diesen Frauen verbunden. Ihre Freundinnen haben ihre Babys längst bekommen und vergessen, wie sich Braxton-Hicks-Kontraktionen anfühlen, das nächtliche Sodbrennen, wie es ist, mit öliger Haut ins Bett zu steigen. Die Frauen hier in diesen Gängen erleben das Gleiche wie sie.
Sie wartet eine Zeit lang. Irgendwann biegen zwei Frauen um die Ecke und kommen auf sie zu. Sie halten Händchen, bleiben hier und da stehen und nehmen etwas aus dem Regal. Ein Töpfchen, einen Bilderrahmen, eine Nagelschere. Jen versucht, nicht hinzustarren, aber sie kann den Blick nicht von den Händen der beiden losreißen, von der Art, wie sie ihre Finger ineinander verschränkt haben. Der Anblick ist fremd und vertraut gleichermaßen.
Die beiden sehen flüchtig in ihre Richtung, als sie an ihr vorbeigehen. Eine Blondine, eine Brünette. Jen versucht, einen Blick auf die Bäuche zu erhaschen, aber die Blondine trägt ein weites Kleid und die Braunhaarige eine zugeknöpfte, zu große Jeansjacke. Sie kann nicht sehen, wer von den beiden die Mutter ist, ob überhaupt eine, und runzelt die Stirn. Zeigt es doch her, denkt sie sich. Ich will das doch wissen. Aber die Bäuche geben nichts preis, ebenso wenig wie die Gesichter. Sie könnte nicht sagen, ob ihre Wangen aufgedunsener wären als sonst, weil sie nicht weiß, wie sie normalerweise aussehen.
Jen folgt ihnen um die Ecke. Sie schlendern den Mittelgang entlang in Richtung Ausgang, bleiben dann aber beim Make-up stehen. Die Blondine gibt der Brünetten einen Kuss. Es ist ein Abschiedskuss, das kann jeder sehen. Sie streicht ihrer Freundin über die Wange, flüstert etwas und verlässt den Laden. Die andere sieht ihr kurz nach, dann geht sie die Treppe hoch in den Cafébereich.
Das Anstehen vor der Kasse dauert eine Ewigkeit. Jen tritt von einem Fuß auf den anderen. Verstohlen schnuppert sie an ihren Achseln und besprüht sich diskret mit Parfüm. Als sie endlich bezahlt hat, geht sie wie ferngesteuert in Richtung der Treppe und nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Aber Rennen geht komischerweise nicht. Auf dem oberen Treppenabsatz bleibt sie stehen, muss erst wieder zu Atem kommen, spürt das sich bewegende Gewicht in ihr.
»Geht es Ihnen gut, Liebes?«, fragt eine ältere Dame und berührt sie an der Schulter.
Jen nickt und nimmt alle Kraft zusammen, um der Frau zu verstehen zu geben, dass alles in Ordnung ist. Lächelnd betritt sie den Cafébereich.
Die Brünette sitzt vor einer Tasse Kaffee in der Ecke und sieht aus dem Fenster. Jen stellt sich an und starrt zu ihr rüber. Die Frau ist ein wenig jünger als sie, vielleicht Ende zwanzig. Dunkle Locken umrahmen ihr Gesicht, und sie sieht verloren aus, so wie sie dort raus auf die Straße blickt.
Jen stellt ihr Tablett auf dem Nachbartisch ab, setzt sich und nimmt einen Stift und das Babytagebuch zur Hand, das sie sich gekauft hat. Die Brünette streift sie mit dem Blick, seufzt und sieht wieder weg.
Mit ihrem Kräutertee lässt Jen sich Zeit, schwenkt den Beutel im Becher herum, findet den aufsteigenden Dampf tröstlich. Es gibt nichts Besseres als heißen Tee, denkt sie und muss an ihre Mutter denken.
Beim ersten Schluck kleckert sie sich auf den Bauch. Ihr Ächzen erregt die Aufmerksamkeit der Brünetten, die auf Jens Bauch hinabblickt und lächelt. »Ups.«
»Man sollte meinen, ich hätte dazugelernt«, sagt Jen. »Wie viele Oberteile ich schon ruiniert habe … Ich bin einfach zu weit vom Becher weg.«
Die Frau lächelt wieder, traurig diesmal. Sie dreht sich weg, und im selben Moment will Jen nichts lieber, als deren Geschichte hören.
»Nicht mehr lange, und ich darf auch wieder Kaffee trinken.« Sie zeigt auf die Kaffeetasse.
Die Frau nickt höflich. »Ist also bald so weit?«
»Noch zehn Wochen. Ich kann es kaum erwarten, ihn kennenzulernen.«
»Gratuliere.«
Jen berührt ihren Bauch, und der Rhythmus, in dem sie darüberstreicht, weckt erneut die Aufmerksamkeit der anderen. Sie starrt auf Jens Hand hinab, dann sieht sie ihr ins Gesicht. Oh, denkt Jen. Da ist der Anflug eines wissenden, vielleicht sogar sehnsüchtigen Blicks. Sie errötet.
»Ich muss los.« Die Brünette steht auf.
»Aber Ihr Kaffee …?« Jen spürt, wie Panik von ihr Besitz ergreift. Sie will nicht, dass die andere geht.
Die Frau sieht auf ihre volle Tasse hinab, als wäre sie überrascht, dass sie dasteht. »Ach, den wollte ich eigentlich gar nicht.«
Jen möchte noch etwas sagen, bringt aber kein Wort heraus. Stattdessen nimmt sie ein paar große Schlucke und sieht der Frau nach. Als sie außer Sicht verschwunden ist, schlägt Jen seufzend ihr Tagebuch auf. Die letzten Schwangerschaftstage.
Sie sieht noch einmal zur Treppe und dann auf die leere Seite.