Haut auf Haut

Jen

Du schaffst das, sagt eine innere Stimme, und dann schreit ihr Körper, dass sie pressen muss. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden lang. Keiner zählt mit, allerdings verstreicht eine Minute nach der anderen.

Für den Rest ihres Lebens und bis ins kleinste Detail würde Jen den Raum beschreiben können, in dem sie Jacob zur Welt gebracht hat. Nicht dass sie es jemals tun würde. In so einer Geschichte will niemand von hohen Fenstern hören, vom trockenen Quietschen der Tür, wann immer eine Hebamme eintrat, von den Schwenkwandlampen ohne Glühbirnen, von den leeren Betten. Trotzdem hätte sie die Einzelheiten jederzeit parat. Dass es sich anfühlte wie bei einer Beerdigung. Dass Pete neben ihr weinte. Dass die Hebamme ihr über den Rücken strich. Vor allem die Hebammen mit ihrem Mitgefühl würde sie nie vergessen, wie sie sich auf die Lippe bissen, wie sie vor Sanftheit schier triefend statt dringlich immerzu wiederholten: Kommen Sie schon, Jen.

Von Dringlichkeit ist keine Rede mehr.

Sie wissen, wie es ausgehen wird, genau wie sie selbst seit einigen Tagen weiß, dass das Kinderzimmer leer bleibt. Seit Tagen weiß sie es, die sich wie Jahre anfühlen. Doch wenn sie behaupten würde, dass sie keine Hoffnung mehr hätte, würde sie lügen.

Die Hebammen sind sanft mit ihr, wirklich. Trotzdem will Jen, dass sie sich beeilen. Sie will den Notfallplan, die besten Ärzte, Alarmstufe Rot. Als sie zu guter Letzt spürt, wie Jacob ihren Leib verlässt, nimmt die Hebamme den kleinen Spatzenkörper hoch und verschwindet zu einem Tisch hinter einem Vorhang, wo sich die anderen um sie scharen.

»Atmet er?«, hört sie sich in den kühlen Kissenbezug hinein fragen.

Die Stille ist ohrenbetäubend.

Pete steht immer noch neben ihr, presst sich die Hand auf den Mund. Ich hätte Mum mitnehmen sollen, nicht ihn, schießt es Jen durch den Kopf.

Als sie ihr Jacob in die Arme legen, schiebt die Hebamme Jens Oberteil hoch, damit sein Köpfchen über ihrem Herzen ruhen kann. Haut auf Haut. Sie werden nicht darüber sprechen, wie sie ihn zum Stillen anlegen muss. In den Worten der Hebammen schwingt Endgültigkeit mit.

»Aber sind Sie sich sicher, dass er tot ist? Sind Sie sich absolut sicher?« Ihre Stimme klingt zeitverzögert, medikamentenbenebelt.

Du musst um ihn kämpfen.

Pete schluchzt, und Jen blickt auf ihren Sohn hinab.

Ein rötlicher Haarschopf geht über in Stirn, Augenbrauen und eine Nase, die ihrerseits perfekt in die Wangen übergeht. Jen ist von der Schönheit seiner Finger, von den winzigen Zehen schier überwältigt. Dieses Gesichtchen ist in aller Abgeschiedenheit entstanden. Sie fragt sich, welche Augenfarbe er hat, und ihr Verlangen ist zwiegespalten: Sie will ihn nicht stören, weil er so friedlich daliegt, gleichzeitig will sie ihn schütteln, ihn wecken, ihm die Lider aufziehen. Wie kann etwas verkehrt sein, was doch so perfekt und so richtig aussieht?

Er ist wunderschön, aber er rührt sich nicht, und jetzt erkennt auch sie, dass es für ihn keine Hoffnung gibt.

Erst ist sie eifersüchtig und will ihn nicht hergeben. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihre Herzen im selben Takt schlagen. Jacobs Finger umklammern ihren Daumen, und Jen ist sich sicher, dass er den Griff verstärkt, als wüsste sein Gehirn, dass hier jemand ist, an dem er festhalten kann. Pete redet, allerdings hört sie ihn nicht. Ihre Augen sind Kameras, die mit jedem Blinzeln ein Foto schießen. Sie will nicht über Zeit nachdenken oder den Mangel an Zeit, und doch kann sie nicht anders.

Plötzlich Petes Stimme. »Darf ich ihn halten?«

Wortlos überreicht sie ihn ihm. Sie sind jetzt allein, die Hebammen haben sich den Babys zugewandt, die die Station nicht in einem Sarg verlassen, denen, die milchsatt vor sich hin glucksen und deren übernächtigte Mütter sich von Tee und Toast ernähren. Jen fragt sich, ob sie das einzige Paar sind, das ohne Babyschale im Auto gekommen ist.

Die Hebamme, die ihr den Rücken gestreichelt hat, ist wieder da. Sie tritt von einem Fuß auf den anderen und zieht dann die quietschende Tür auf, um wieder zu gehen. Schon komisch, denkt Jen, dass die Welt dort draußen weiter existiert.

In Petes langen Armen sieht Jacob winzig aus, als hielte Pete eine Tüte Karotten. Er wiegt Jacob hin und her, und sie sagt: Hör auf, du tust ihm noch weh . Sie sieht Pete ins Gesicht, und er weint. Und das Wiegen ist auch kein Wiegen, er hat seinen Körper nicht unter Kontrolle. Brodelnder Hass ergreift von ihr Besitz. Das Gefühl ist ganz plötzlich da, und es ist irrational, wie kann er es wagen zusammenzubrechen, solange sie es nicht tut.

»Nicht.« Jen kann die Trauer eines anderen gerade nicht ertragen. »Gib ihn mir zurück. Er braucht mein Herz.«

Sie bekommt ihn wieder. Bei ihr soll er bleiben. Sie streicht ihm über die platt gedrückten roten Locken. An ihren Lippen fühlt sich seine Ohrmuschel seidig an. Er ist in ein Krankenhausdeckchen gehüllt, das von zu häufigem Waschen kratzig ist und sich anfühlt wie ein sonnengebleichtes Badetuch. Entschuldige bitte, mein Schatz, denkt sie, ich hätte dir Kaschmir mitbringen sollen.

Erneut geht die Tür auf, wieder sieht jemand nach ihnen. Pete winkt, und dann spürt sie eine fremde Hand an ihrer Schulter.

Grauen überrollt Jen. Sein Körper erkaltet, und ihr dämmert, dass ihr Leben von nun an zweigeteilt sein wird: in ein Vorher und ein Nachher.

Geht so die Welt zu Ende? Ohne Vorwarnung. Ohne die Gewissheit eines letzten Atemzugs. Wir sollten wissen, wann er bevorsteht, denkt sie, dieser letzte Schluck Atemluft, der letzte Schluck Fruchtwasser – damit wir unser Augenmerk darauf richten können. Und was würde das ändern? Sie zieht das Deckchen enger. Was wäre die Aufmerksamkeit wert? Er wäre immer noch tot.

Die Hebamme sieht auf die Uhr und drückt sanft Jens Schulter. »Ich lasse Sie noch ein Weilchen allein.« Wieder das Quietschen der Tür.

Sie wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen. Pete steht immer noch da, allerdings jetzt mit den Händen in den Hüften, und er sieht aus, als würde er nach einem Schuh suchen. Er gäbe einen guten Dorftrottel ab, denkt Jen unwillkürlich. Sie will, dass er geht, dass er das Zimmer verlässt, damit nur noch sie und Jacob übrig sind. Sie hatte ihn monatelang für sich. Sie hat seine Tritte gespürt. Sie ist noch nicht bereit, ihn mit anderen zu teilen oder ihn wegzugeben.

Die Hebamme kommt mit einer Kollegin zurück. Jetzt schon?

»Sollen wir ihn Ihnen geben?«, fragt Pete.

Wir.

In einem anderen Leben hat Jen Petes Höflichkeit immer geliebt. Die Art und Weise, wie er mit dem Barista im Coffeeshop und mit Verkäufern spricht, wie er sich bei der Bedienung bedankt, wann immer sie eine weitere Gabel, ein weiteres Messer bereitlegt, und wie er seinen Dank binnen zehn Sekunden gleich mehrmals wiederholt. Diese Eigenheit hat sie an ihm immer gemocht. Doch jetzt, nur wenige Augenblicke nachdem ihr Sohn tot zur Welt kam, sieht sie nur, wie er sich bei den Hebammen beliebt machen will, damit sie beim Gehen über ihn denken: Was für ein netter Mann. Er will die Sache beschleunigen, damit sie ihn mögen.

Als sie Jacob schlussendlich hergibt, lässt Jen die Hände schwer auf die Matratze fallen. Sie sieht zu, wie die Hebamme sich von ihr abwendet und wieder hinter dem Vorhang verschwindet. Wahrscheinlich legen sie ihn in einen Sarg, denkt sie, und dann will sie lieber gar nicht mehr denken.

Jetzt spricht die andere Hebamme, doch die Stimme klingt schwer und schleppend. Jen spürt Nadelstiche am ganzen Leib und stellt sich die mikroskopisch kleinen Löcher als schweißgefüllte Krater vor. Alles fühlt sich wie im Schnellvorlauf an, sie sackt zurück, ihr Kopf fällt aufs Kissen. Sie dreht ihn hin und her, damit beide Wangen die raue Baumwolle spüren. Als sich ihr Blick wieder stabilisiert, sieht sie die Hebamme vor sich, die sie stumm anschreit. Pete zerrt an ihrer Hand. Die zweite Hebamme kommt mit leeren Händen hinter ihrem Vorhang hervor. Wo ist er?, will Jen rufen, und sie hört, wie die Frage in ihren Ohren widerhallt – möglicherweise hat sie wirklich gerufen. Ihre Augen lösen sich aus den Höhlen, schweben hinauf an die Zimmerdecke und werden zu Überwachungskameras. Da liegt sie, auf ihrem Bett, ihr Gesicht ein Bild des Grauens. Sie sieht, wie eine Hebamme die Bettdecke zurückschlägt, Jens Nachthemd nach oben schiebt und ihre Beine darunter rot bemalt sind. Die andere Hebamme stürmt zur Tür und zieht an einer Kordel. Jens Augen verlieren das Interesse. Sie sieht dorthin, wo Jacob liegt, zum abgeschirmten Teil des Zimmers. Kurz denkt sie darüber nach, sich dort hinzudrängeln, und dann verhöhnt sie sich fast für diesen Gedanken. Sie hat ihre Arme und Beine auf dem Bett zurückgelassen. So funktioniert Drängeln nicht. Aber ich muss ihn mir zurückholen, denkt sie, ich muss ihn wiedersehen. Liegt er in einem Sarg? Oder hat die Frau ihn ins Bettchen gelegt? Er könnte dort rausfallen – warum passt denn niemand auf ihn auf? Sie nötigt sich, die Zimmerecke zu verlassen, über dem Treiben dort unten zu schweben. Wenn sie es sich nur fest genug vornimmt, dann klappt es.

Sie ist so vereinnahmt von all dem, was klappen könnte, dass sie gar nicht mitbekommt, was wirklich passiert. Der Strom aus Menschen, der sich ins Zimmer ergießt.

Ich komme, mein Schatz. Ich mag nur ein Augenpaar sein, aber das heißt immerhin, dass ich sehen kann. Warte, ich komme zu dir. Du wachst wieder auf, und all das war bloß ein schlimmer Traum.

Hektik bricht aus.