Mit siebzehn

17 Jahre zuvor

Fast unmittelbar nach der Hochzeit hörte Jen auf, ihren Mann zu begehren.

Sie hörte auf, sich die Beine zu rasieren, strich sich vor dämlichen Fernsehsendungen über die wild wuchernden Härchen, streichelte stumpfsinnig ihre Haut. Wenn sie dann irgendwann an sich hinabsah, durchzuckten sie Nervenkitzel und Ekel. Die körperliche Lust, die der Anblick ihrer Natürlichkeit in ihr auslöste, lag im ständigen Widerstreit mit den Bildern, die sie täglich vor Augen hatte: Frauen, die angesichts ihrer haarlosen Körper schier außer sich waren vor Glück. Sie war fasziniert von den Werbefotos gesichtsloser Frauen, die sich die haarlosen Beine rasierten, und von Händen, die Wasser über Monatsbinden träufelten. Haare und Blut waren zu abstoßend, als dass auch nur darüber nachgedacht wurde.

Irgendwann murrte Pete, und sie rasierte sich. Und dachte: So ist das, wenn man eine Frau ist. Man kann zu allem zwei Meinungen haben, und nie ist klar, welche erwünscht ist.

Am Morgen der Hochzeit betrat Jens Vater in seinem besten Anzug ihr Zimmer und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Da standen sie, Vater und Tochter, und bewunderten, was sie im Spiegel sahen.

Sie sehe wunderschön aus, sagte er, wie eine Prinzessin. Dann nahm er ihre Hand und wandte sich ihr zu. »Heute verlässt du dieses Haus. Ab heute kommst du bei Streitigkeiten nicht mehr hierher. Er ist jetzt dein Ehemann, ab sofort gehörst du zu ihm.«

Jen lächelte, nickte, war hingerissen von der romantischen Vorstellung, dass ihr Vater, den sie vergötterte, sie nun ihrem Bräutigam anvertrauen würde. Sie konnte die Liebe in seinem Blick sehen. Jen war zutiefst gerührt von diesem gewichtigen Augenblick, vom Ernst in der Stimme des Vaters, der mit den Tränen kämpfte. Dass sie Pete heiraten würde, machte ihn stolz und erleichterte ihn.

Wen interessierte es schon, dass es bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag noch ein Monat hin war, dass sie formal noch ein Kind war? Auf dieses Ereignis war sie ihr Leben lang hinerzogen worden.

Der Tag rauschte nur so an ihr vorbei.

Petes Vater hielt die Predigt, ehe das Brautpaar sein Ehegelübde ablegte. Auf dem Podium hielt er zwei Gegenstände hoch. »Das hier ist eine Milchflasche«, erklärte er der Gemeinde. »Sie ist stabil und solide, und es ist einiges vonnöten, um sie zu zerschlagen. Das bist du, Pete.« Alle lachten. »Das hier« – er hielt einen Parfümflakon hoch – »ist aus feinstem Kristall. Der Apostel Petrus nennt es das schwächere Gefäß. Die Frau. Schön, zart, man muss sie achtsam behandeln. Sie geht leicht kaputt.«

Ihr Onkel Roger machte die Fotos. Er guckte durch den Sucher und sagte ihnen, wie nah beisammen sie stehen und was sie mit ihren Händen tun sollten. Als es an der Zeit für die Gruppenfotos war, hieß er Jen und Pete sich aufstellen und rief Jens Vater zu: »Wen willst du dabeihaben, Rich?«

Nach dem fünfzehnten Bild mit der Familie und Freunden der Eltern wollte Jen gerade selbst einen Vorschlag machen, als Pete sagte: »Können wir aufhören? Mir tut vom Lächeln schon das Gesicht weh.«

Sie biss sich auf die Lippe und nickte.

Großtanten gaben ihr Wangenküsschen und beteuerten, wie groß sie doch geworden sei, und Cousins zweiten Grades, wie neidisch sie seien, dass Jen schon den Führerschein habe. Als sie beim Empfang im Foyer des Saals einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschte, zuckte sie vor Schreck zusammen und strich sich über den Schleier. Sie hatte geglaubt, ein Gespenst gesehen zu haben.

Beim Essen hielt Pete ihr unter dem Tisch heimlich ein Glas Wein hin.

Als sie kurz nach dem Essen die Feier verließen, versuchte sie, über die vielsagend hochgezogenen Augenbrauen, über die unbeholfene Umarmung ihres Vaters hinwegzusehen, und stieg in den Wagen. Die Dämmerung verhinderte, dass man ihr ansah, wie rot im Gesicht sie war.

Zu Hause trug Pete sie über die Schwelle. Achtzehn Monate hatten sie auf diesen Moment gewartet, in dem sie einander die Kleider vom Leib reißen würden, und mit der Verlegenheit von Teenagern gingen sie zu Werke. Ihr erstes Mal fand im selben Bett statt, in dem alle weiteren Male ihres Lebens stattfinden würden. Auf der Fußmatte lagen die ersten Rechnungen, Angebote von Stromanbietern, der Wäschekorb begann sich zu füllen. Bis sie endlich alt genug geworden war, um sie selbst zu sein, trug sie schon den Namen eines anderen.

Mrs Musgrove, mit siebzehn. Aber das war gut so. Sie war glücklich.

Als Pete erstmals in ihr kam und in Ekstase aufschrie, schrie sie vor Schmerzen. Alles okay?, fragte er später, als er ausgestreckt neben ihr auf dem Bett lag. Hat es wehgetan? Ein bisschen, antwortete sie. Sehr. Tut mir leid, sagte er und gab ihr einen zärtlichen Kuss. Das nächste Mal gehen wir es langsamer an.

Als sie zwei Tage später in die Flitterwochen aufbrachen, hatten sie den Dreh raus. In der Horizontalen spielte ihr Größenunterschied keine Rolle mehr, und sie hatten die optimale Stellung für Petes Giraffenbeine ausgetüftelt. Eine Auslandsreise wäre zu kompliziert gewesen – der Hochzeit vor Ehemündigkeit hatten ihre Eltern offiziell zustimmen müssen, aber sie wegen der Flitterwochen erneut um Erlaubnis zu bitten hätte sie nicht ertragen – , also hatten sie ein Hotel an der kornischen Küste gebucht, das sie sich von seinem Gehalt als Fensterputzer leisten konnten. So wenig, wie sie sich dort umsahen, hätten sie ebenso gut daheimbleiben und sich die Ausgaben sparen können. An einem Abend schwankten sie – breitbeinig wie Cowboys und mit Lachtränen im Gesicht – runter zu einem Restaurant am Pier. Mir tut alles weh, sagte Pete. Pst!, sagte Jen und hielt ihm den Mund zu. Was, wenn das jemand hört!

Sie ließ mit sich machen, was immer er wollte. Seit sie ein kleines Kind gewesen war und zusammen mit ihrer Schwester die Kleider und Schuhe ihrer Mutter anprobiert hatte, war ihr Leben genau auf das hier zugelaufen. Als Nächstes würden die Liebe und Kinder folgen, genau wie bei fast jeder anderen Frau, die sie kannte. Sie würde sich nur hingeben müssen. Genau dafür war sie bestimmt.

Nach ein paar Tagen in Cornwall kam Pete aus der Dusche, knotete den Bademantel zu und ließ sich zurück aufs Bett fallen.

»Warst du diesmal so weit?«, wollte er wissen. »Hast du das Gefühl, du wärst nah dran?«

Jen schlang die Decke eng um sich und schüttelte den Kopf.

Er trommelte auf seinen Handrücken. »Hm. Komisch.«

»Vielleicht … Ich weiß auch nicht …«

»Was?«

»Vielleicht könntest du …« Jen strich über die Decke. »Wenn du, ähm, mich da unten länger berühren würdest … Das würde vielleicht helfen.«

Pete runzelte die Stirn. »Da unten berühre ich dich doch.«

Nur solange wir uns um deine Bedürfnisse kümmern, dachte sie. »Vielleicht könntest du dir etwas mehr Zeit nehmen? Wahrscheinlich dauert es einfach nur länger als bei einem Mann.«

»Willst du damit sagen, dass irgendwas mit meiner Technik nicht stimmt?«

Sie stockte. »Nein.«

»Weil ich nämlich glaube, dass die nicht das Problem ist.« Er schnaubte durch die Nase. »Das ist gar nicht so selten, weißt du.«

Jen zog die Augenbrauen hoch und wartete auf die Fortsetzung.

»Die meisten Frauen haben Probleme, einen Orgasmus zu kriegen. Ist einfach so.«

»Ja, das ist es wahrscheinlich«, sagte sie und musste an die unzähligen Nächte vor ihrer Hochzeit denken, in denen sie sich an einem Kissen gerieben hatte. »Ich glaube wirklich, wenn wir uns mehr Zeit lassen würden, würde es klappen.«

Wir sind noch jung, redete sie sich gut zu, das wird schon noch werden. In Märchen kommt die Hochzeit immer am Ende – als wäre nach dem Gelübde endlich alles perfekt. Aber Märchen sind natürlich nicht wahr. Nein, es ist einfach so, dass wir immer noch üben. Es wird schon passieren.

Es muss.

Am Abend war Pete nicht in Stimmung. Sie aßen im Hotelrestaurant, stocherten in ihrem Essen, starrten abwechselnd aus dem Fenster. Lächelnd und gerade mit dem richtigen Maß Beschwingtheit beantwortete Jen die Fragen der Bedienung.

Am folgenden Abend gab Pete sich ein wenig mehr Mühe. Der Vollmond erhellte durch die Vorhänge sein Gesicht, und Jen sah ihm zu, wie er den Mund verzog, als er versuchte, in einen Rhythmus zu finden. Nach ein paar anstrengenden Minuten, in denen ihre Zimmernachbarn zurückkehrten und Pläne für den kommenden Tag schmiedeten, forderte sie ihn auf, in sie einzudringen, und stimmte ihre eigene auf seine Lust ab. Sie verabscheute sich dafür, als sie in gespielter Erregung keuchte, doch die Lüge fiel ihr mit geschlossenen Augen leichter. Wenn sie ihm dabei nicht ins Gesicht sah.

Als er fertig war, wälzte er sich von ihr herunter und schlenderte selbstgefällig ins Bad. Jen schlug die Hände vors Gesicht. Er hatte sich bemüht, genau wie sie es sich von ihm gewünscht hatte. Dafür hatte sie ihm etwas zurückgeben müssen. War sie nicht dazu erzogen worden zu glauben, dass Geben seliger war?

Aber warum fühlte sie sich dann innerlich so leer?

Als sie aus den Flitterwochen zurück waren, begann ihr neues Leben. Pete stieg morgens in seinen Transporter mit der langen Leiter auf dem Dachgepäckträger, und Jen kehrte in ihren Job in dem Klamottenladen in der Stadt zurück. Dienstags und donnerstags hatte sie Predigtdienst und klopfte an Türen, um Seelen zu retten. Dafür zog sie sich ordentlich an: knielanger Rock, vernünftiger Mantel. Eine Thermoskanne mit Tee. Um Punkt sechs war sie wieder zu Hause und bereitete ein Abendessen zu, das sie und Pete mit dem Teller auf dem Schoß vor dem Fernseher zu sich nahmen. An manchen Abenden telefonierte sie mit ihrer Mutter, oder sie sprachen über die Bibel, außerdem zwei Zusammenkünfte unter der Woche im Saal. Der sechste September verstrich wie immer ohne Aufsehen, und nicht mal Jen selbst nahm zur Kenntnis, dass sie achtzehn geworden war, bis sie sich abends zum Essen hinsetzten und ihr Blick am Datum in der Fernsehzeitschrift hängen blieb.

Sie war offiziell erwachsen.