Sie hatte sich immer gefragt, warum ihre Eltern sie Isobel genannt hatten. Dereks und Patricias nannten ihre Töchter Susan, Jackie oder Deborah – normale Namen, die keine Fragen nach sich zogen.
Sie spürte es, wann immer sie Leute traf. Die hörten ihren Namen und sahen ein zweites Mal hin, als hätte es etwas Arrogantes, wenn jemand so Durchschnittliches – braune Haare, braune Augen, nichts, was im Gedächtnis bliebe – einen Namen wie Isobel trug. Du siehst gar nicht wie eine Isobel aus, sagten sie und beäugten sie von oben bis unten. Ich weiß, antwortete sie dann im Kopf, ich bin eher eine Karen oder Julie. Ein nichtssagendes Gesicht in der Menge. Sie hatte sich daran gewöhnt, andere zu enttäuschen, noch ehe die sie auch nur kennenlernten.
Allerdings passte die Schreibweise. Dass da kein elle stand, dass nichts daran weich war. Überdies war sie froh über das O statt eines A – Is-A-bel, unvorstellbar! Ein paar Mädchen von der Schule hatten versucht, ihren Namen zu »Izzy« oder »Bel« abzukürzen. Sie war entsetzt gewesen.
Als sie anfing, sich um Steven zu bemühen, war sie zweiundzwanzig und schon eine alte Jungfer. Ihre Freundinnen hatten mit spätestens neunzehn geheiratet, und sie war zu derjenigen geworden, deren Arm man tätschelte und der man Tut mir leid zuraunte, wann immer andere von ihrem glücklichen Frischvermähltenleben erzählten. Sie war diejenige, bei der man den Kopf neigte und sagte: Du findest auch noch jemanden , und die darauf antwortete: Mir egal, ehrlich , auch wenn sie in Wahrheit Todesangst hatte.
Doch dann eines Tages trat Steven ihrer Versammlung bei. Nach einer schmerzhaften Trennung war er in den Süden gezogen. Als die beiden einzigen Singles fühlten sie sich einander sofort verbunden, lernten sich wie empfohlen bei öffentlichen Anlässen besser kennen, bei Grillfesten, Kinoabenden mit Freunden, Ausflügen an den Strand, wo sie unter dem Deckmäntelchen erbaulicher Erholung den halb nackten Körper des anderen beäugen konnten. Isobel hatte ein kleines Vermögen für einen Bikini ausgegeben. Sie hatte genau gewusst, dass sie bei den paar Fetzen Kunstfaser, die nichts der Fantasie überließen, besser nicht knausern sollte. Sie war sich ihrer guten Figur durchaus bewusst, und seine Blicke raubten ihr den Atem. Am Ende zahlte sich jeder einzelne der fünftausend Pennys aus.
Ihr erster Kuss war für Isobel der erste überhaupt. Vom selben Moment an, da sie ihm ihre Lippen darbot, spielte ihr Gehirn im Zeitraffer ihre Zukunft ab.
Das Mitgefühl ihrer verheirateten Freundinnen war fortan Geschichte. Wann immer Steven im Saal das Mikrofon entgegennahm, verfolgten sie an der Seite ihrer farblosen Ehemänner jede seiner Gesten, und zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Isobel beneidet. Wie hatte dieser gut aussehende, unterhaltsame Dienstamtgehilfe ausgerechnet Isobel Abbott in den Schoß fallen können? Die Eifersucht der anderen feuerte Isobel an. So viel zum Thema sitzen geblieben.
Er war zwei Jahre jünger, aber das war ihr egal. »Ist sogar besser so«, sagte eine Freundin. »Weiß doch jeder, dass Frauen reifer sind als Männer im selben Alter.« Dann runzelte sie die Stirn, als ihr dämmerte, dass ihr Kommentar das Gegenteil von dem besagte, was sie gemeint hatte.
Als sie etwa sechs Monate zusammen waren, machte ein Gerücht die Runde: Das Mädchen, das Steven das Herz gebrochen habe, sei angeblich wieder bei ihm angekrochen gekommen. Umgehend fuhr Isobel zu seiner Wohnung, um in Erfahrung zu bringen, was da vor sich ging. Seine Erklärungen klangen ausweichend, und so stieß sie ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Ich habe lange genug gewartet«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Wenn du jetzt mit mir Schluss machst, weiß jeder, was für ein Mistkerl du bist. Dein Ruf wäre ruiniert.«
Vier Monate später heirateten sie.
Das Leben war anfangs nicht einfach. Steven war Fensterputzer, und Isobel verdiente bei der Bank anständig, aber nicht übermäßig viel. Zusammen hatten sie gerade genug, um die Miete für ihr kleines Reihenhaus aufzubringen. Isobel pflanzte Gemüse an und brachte sich bei, wie man aus einem Hühnchen drei ganze Mahlzeiten herausholte. Manchmal fragte sie sich, ob dies nicht die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen war – damals, als sie kaum etwas besessen hatten.
Als ihre Eltern zwei Jahre nach Isobels Hochzeit starben, investierten sie das Erbe in ein Eigenheim und in eine eigene Reinigungsfirma. Steven wollte die Wischer niederlegen und ein Team leiten, und Isobels Erbe machte es möglich. Und sie war mehr als glücklich darüber. Immerhin waren sie gemäß der Schrift ein Fleisch – und Steven ihrer beider Haupt. Wem sonst hätte sie alles anvertrauen sollen als demjenigen, der vor versammelter Gemeinde geschworen hatte, sie zu ehren?
Cassandra kam im Jahr darauf zur Welt.
Die Geburt zog sich, und Isobel war die meiste Zeit nicht bei Sinnen. Noch während die Wirkung der Medikamente nachließ, wurde ihr ein warmes Bündel in die tauben Arme gelegt und als ihre Tochter deklariert.
Auf ihren Pragmatismus war Isobel immer stolz gewesen, auf ihr Talent, stets genau zu wissen, was zu tun war. Doch an der Mutterschaft scheiterte sie. Ihr Körper brauchte – sehr zu Stevens Unmut – Monate, um sich zu erholen, und ihr Verstand war nur mehr eine köchelnde, klebrige Masse. Wenn Cassandra sich wieder mal in ihrer Wiege die Lunge aus dem Leib schrie, presste Isobel die Stirn gegen die Wand und heulte nach ihrer eigenen Mutter.
Irgendwann beschlich sie der Gedanke, dass sie ihr das falsche Baby gegeben haben könnten.
»Die haben sie im Krankenhaus vertauscht«, sagte sie zu Steven, als er von der Arbeit kam. »Guck sie dir an – sie sieht mir kein bisschen ähnlich. Unsere Tochter ist bei fremden Leuten gelandet.« Ihre Stimme klang schrill und verdorrt.
»Sei nicht albern, Isobel.« Er seufzte. »Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Das sagt jeder.« Er knurrte bloß, als er die Küche betrat und feststellte, dass sie kein Abendessen gekocht hatte.
Zwei Jahre nach Cassandra wurde Isobel abermals schwanger. »So viel zum Thema Aufpassen«, brummte sie, als sie den Test im Bad in den Abfalleimer warf. Sie starrte noch kurz ihr Spiegelbild an, ehe sie nach unten in die Küche ging und kochte, was er am wenigsten mochte.
Trotzdem lief es beim zweiten Mal anders. Fast von der Sekunde an, da sie Patrick in sich aufgespürt hatte, empfand Isobel einen unvertrauten Frieden. Sie genoss die Veränderungen ihres Körpers, kaufte sich wallende Umstandskleider und flocht sich dünne Zöpfchen. Sie war überschwemmt von Hormonen, dennoch untersagte sie Steven, in ihrer üblichen Stellung in sie einzudringen. Sie musste das neue Leben in sich beschützen, deshalb drehte sie sich um und erlaubte ihm ausnahmsweise, dass er sie auf Knien nahm.
Die neuen Muttergefühle beeinflussten auch ihre Beziehung zu Cassandra. Im Garten lachte sie, wenn die Kleine sich im Kreis drehte, nichts, was ihre Tochter anstellte, brachte sie mehr aus der Fassung, und sie war selbst überrascht von der Frau, die sie urplötzlich sein konnte. Soll Mutterschaft so sein?, fragte sie sich. Oder ist auch das hier nicht ganz normal?
Bei seiner Geburt war sie vollkommen wach und anwesend. Dafür hatte sie gesorgt. Mithilfe von Lachgas und Sauerstoff stand sie es durch, und als sie ihr den zappelnden Körper anlegten, wusste Isobel instinktiv, was sie tun musste. Sie küsste sein Haar und spürte, wie Zärtlichkeit sie durchströmte.
So muss es sich anfühlen, sich zu verlieben, dachte sie.
Patrick war ihre zweite Chance. An Cassandras erste Monate konnte sie sich nicht erinnern, die ersten Absätze in der Lebensgeschichte ihrer Tochter waren wie ausradiert. Isobel würde ihr Leben lang nach jenen Gefühlen fahnden, die sofort hätten da sein müssen, als könnte deren Entdeckung zu Cassandras Enträtselung führen.
Patricks Geschichte hingegen war von Anfang an klar. Die Liebe, die sie für ihn verspürte, erforderte weder Mühen noch Gebete, sondern kam der Hitze eines Feuers gleich. In den ersten vierzehn Tagen stand sie kaum je vom Sofa auf und lebte gleichsam vom Gefühl seines Körpers an ihrer Brust. Das hier geht vorbei, dachte sie bei sich, ich muss alles an diesem Moment auskosten.
Isobel dankte ihrem himmlischen Vater beinahe stündlich dafür, dass er ihr Patrick geschenkt hatte. Du wusstest genau, was ich gebraucht habe. Sie war derart mit Dankbarkeit für ihren Sohn angefüllt, dass sie vergaß, auch für ihre Tochter dankbar zu sein.
Zum frühestmöglichen Zeitpunkt wurde Cassandra in der Vorschule angemeldet. Bis an die Eingangstür hielt Isobel sie bei der Hand, und während andere Kinder weinten und sich an ihre Mütter klammerten, machte Cassandra sich los und lief nach drinnen, ohne sich noch einmal umzusehen. Isobel lachte über die Kommentare der anderen Mütter, wie strebsam ihr Kind sei. Sie rechnete es sich als Verdienst an und deutete die Distanz zwischen ihnen um in einen bewussten Versuch ihrerseits, ihre Tochter zu Selbstständigkeit zu erziehen.
Sobald sie anschließend zurück zum Wagen ging, war sie froh, endlich mit ihrem Sohn allein zu sein.
Einmal landeten sie auf dem Heimweg mit dem Auto fast im Straßengraben. Patrick war damals achtzehn Monate alt, und über das ruhige Fahrgeräusch hinweg war er eingeschlafen. Isobel hatte sich nach ihm umgedreht und seine Bäckchen bewundert. Der Wagen geriet ins Schleudern, als sie mit dem Reifen ein Schlagloch erwischte. Sie kreischte auf, riss das Lenkrad herum und gestikulierte betroffen in Richtung des Fahrers hinter ihr, der seine Hupe gedrückt hielt. Ihr Herz raste, und in ihrem Kopf lief der Worst Case ab – Patrick, der aus dem Wagen geschleudert worden war und jetzt mehrere Meter von ihr entfernt tot am Boden lag. Bei der Vorstellung schnürte sich in ihr alles zusammen. Und doch … War es möglich, jemanden so sehr zu lieben, dass man für nur einen weiteren Blick auf dessen Gesicht den Tod riskierte?
Wenn jemand sie fragte, ob sie noch mehr Kinder wollte, schüttelte sie den Kopf. »Nein, nein. Eins von jeder Sorte, das reicht.« In Wahrheit hätte sie noch tausend Kinder haben wollen. Sie wollte sich immer wieder verlieben.
Mit fünf bekam Patrick Windpocken. Er hatte am ganzen Leib riesige Quaddeln, und sie badete ihn in Hafermilch und betupfte seine Haut mit Kamille. Abends lag sie neben ihm im Bett und legte ihre Hand auf seine Brust. Sein Herz hämmerte so sehr, dass sie vor Schreck fast die Hand zurückzog. Das hier ist Leben , sagte das Hämmern, aber ob weiterlebt, was du am meisten liebst, entscheidest nicht du. Sein Herz hämmerte immer noch, selbst als die Quaddeln verheilt waren, und sie fuhr mit ihm zu einem Arzt, der ihn untersuchte und ihm beste Gesundheit attestierte. »Manche Herzen schlagen eben schneller als andere«, erklärte er. »Wir sind alle unterschiedlich, Mrs Forge.« Und dann winkte er sie nach draußen.
Das geht nicht gut aus, schoss es ihr beim Gedanken an Patricks Herzschlag durch den Kopf. Gar nicht gut.
In ihm war zu viel Leben.
Cassandra bereitete ihr Kopfzerbrechen.
Im Supermarkt zeigte sie auf eine schuppige Frucht, begann zu kreischen und ließ sich nicht wieder beruhigen, bis Isobel sie nach draußen zerrte. Auch Rohre, die über die Ladefläche eines Lkws hinausragten, brachten sie aus der Fassung. Sie flehte Isobel an zu überholen und behauptete, bei dem Anblick bekäme sie Zahnweh. So ein Unfug, entgegnete Isobel.
Eine Scheibe Toast zu essen dauerte bei ihr oft Stunden. Isobel, die es nicht duldete, wenn Essen liegen blieb, erlaubte ihren Kindern nicht, verschwenderisch zu sein. Denkt an die Kinder in Afrika, sagte sie dann. Dass wir diese wunderbaren Sachen essen, ist ein Geschenk, das wir nicht leichtfertig ausschlagen dürfen. Cassandra saß bloß still da und starrte ins Leere. Drei Stunden später nahm sie die harte Toastscheibe zur Hand, als wäre sie ihr eben erst vorgesetzt worden, und aß sie bis zum letzten Krümel auf. Hilflos sah Isobel ihr dabei zu. Auch wenn Cassandra sich letztlich gefügt hatte, fühlte es sich trotzdem so an, als hätte sie gewonnen.
Eines Sommertags, als Cassandra sechs Jahre alt war, erwischte Isobel sie dabei, wie sie Ameisen zertrat. Sie ertappte ihre Tochter dabei, wie die sich Schuh und Strumpf auszog und dann mit dem nackten Fuß auf die Steinplatte trampelte, den Fuß wieder anhob und die toten Ameisen auf ihrer Fußsohle inspizierte. Isobel riss das Fenster auf und schimpfte. Ein Leben ist immer noch ein Leben . Als am darauffolgenden Wochenende Freunde zu Besuch kamen, bewachte Steven den Grill. Cassandra starrte das verkohlte Fleisch auf dem Grillrost an und nutzte die nächstbeste Gesprächspause: »Ich dachte, ein Leben ist immer noch ein Leben?«
Dass Cassandra immerzu Partei für ihren Vater ergriff, machte es nicht besser. Die beiden hatten sich gegen sie verschworen, tuschelten miteinander. Manchmal hatte sie das Gefühl, als bestünde ihre Familie aus zwei gegnerischen Mannschaften: sie und Patrick gegen Steven und Cassandra. Dann ist es eben so, dachte sie. Solange Patrick bei ihr blieb, war ihr egal, was die anderen machten.
Als Cassandra sieben und Patrick fünf Jahre alt war, bekam Isobel im benachbarten Zimmer mit, wie ihr Sohn seine Schwester fragte: »Was heißt unterlegen ?« Sie stellten mit Spielzeugfiguren eine Schlacht nach, die sie im Fernsehen gesehen hatten.
»Das heißt, du hast verloren«, erklärte Cassandra.
Isobel wollte schon einschreiten, als ihr mit einem Mal dämmerte, dass ihre beiden Kinder eine Beziehung zueinander aufbauten, die nur ihnen vorbehalten war. Sie selbst war nicht erwünscht. Und mit einem Mal war ihr, dem Einzelkind, klar, dass Patrick auch noch mit anderen als nur mit ihr Verbindungen aufbauen würde.
Sie nahm zwei Aspirin und ging ins Bett.