»Jennifer Musgrove ist nicht mehr Jüngerin der letzten Tage.«
Die Saaldecke hängt tief über den Köpfen der Gemeinde. Hier und da unterbricht ein Kunstlichtquadrat die Fläche aus grauen Faserplatten. Der fensterlose Raum erstreckt sich über ein Viertel der achteckigen Gesamtfläche, und vor dem Podium reihen sich Stühle in drei Richtungen.
Jen war noch ein kleines Mädchen, als die Brüder den Saal an einem einzigen Wochenende errichteten. Gemeinsam mit Lina und den anderen Schwestern hatten sie Kuchen gebacken, ihre Aufgabe hatte darin bestanden, für Essen und Getränke für die Männer zu sorgen. Dass derlei Säle so schnell errichtet würden, sei Beweis für den Segen unseres himmlischen Vaters, hieß es. Einhundert Brüder schufteten Tag und Nacht. Ein Bruder fertigte ein Zeitraffer-Video der Arbeiten an, und als Jen es sich später ansah, fand sie, dass sie alle wie Ameisen umherflitzten.
Heute ist der erste April, und im Saal ist es mucksmäuschenstill.
Bruder Connell steigt vom Podest. Der Bruder auf der Bühne redet weiter, doch die Gemeinde ist nicht mehr bei der Sache. Sie tuscheln, stoßen sich gegenseitig an, versuchen, die Nachricht einzuordnen. Wie kann das sein? Die Ehefrau eines Dienstamtgehilfen! Auf diesem fetten Bissen werden sie auf dem Heimweg ordentlich herumkauen.
Jen sitzt auf ihrem üblichen Platz. Eigentlich hat sie nicht kommen wollen, doch Pete hat eingewandt, sie würde die richtige Einstellung zeigen, wenn sie dabei anwesend wäre. Ein Gefangener, der seinen Schuldspruch höre, habe bessere Chancen auf frühzeitige Begnadigung, wenn er sich demütig verhalte und im Gerichtssaal nicht ausfällig werde, sagte er. Dann ist dies also der Haftantritt, denkt Jen.
Sie starrt zu den weiß fluoreszierenden Lampen empor, bis sie kaum noch etwas sehen kann.
Am schlimmsten sind ihre Eltern in den vorderen Reihen. Ihr Vater ist in sich zusammengesackt, ihre Mutter hat die Hand vor das Gesicht geschlagen. Sie wussten natürlich, was passieren würde, trotzdem ist es ein Schock. Ihr kleines Mädchen.
»Aber … warum?«, hatte ihre Mutter gejault, als Jen sie besucht und es ihnen erzählt hatte. »Kannst du nicht einfach sagen, dass du es bereust?«
»Mum, du weißt genau, warum.« Sie wolle nicht gehen, sagte sie, aber sie könne auch nicht lügen.
Ihre Mutter fiel ihr ins Wort: »Ein Teil von dir muss sich doch wünschen, all das wäre nie geschehen.«
Jen wusste nicht weiter. Hatten sie ihr nicht beigebracht, stets die Wahrheit zu sagen? Hatten sie ihr nicht eingebläut, dass Gott alles sah? Und wie Nebel begann sich Zweifel breitzumachen. Offenbar hatte sie irgendetwas übersehen. Etwas, was alle anderen begriffen hatten, nur sie nicht.
»Dad, du musst doch verstehen, warum ich nicht lügen kann.«
»Welche Ältesten haben über dich zu Gericht gesessen?«, fragte er nur.
»Das war eher informell … Sie waren bei uns zu Hause. Bill Norris, Steven Forge und Les Connell.«
Er wirbelte zu seiner Frau herum. »Ha! Da haben wir es doch! Les Connell hat es immer schon auf mich abgesehen!«
Angela schüttelte den Kopf. »Aber du kannst doch Einspruch erheben? Richard, sie kann doch wohl Einspruch erheben?«
»Einspruch ist ausgeschlossen«, sagte Jen.
»Was?« Ihre Mutter blinzelte Tränen weg.
Am liebsten hätte Jen sie geschüttelt. Wie konnte ihre Mutter die Regeln nicht kennen? Stumm hörte sie zu, wie ihr Vater ihrer Mutter erklärte, dass eine Bluttransfusion keine Sünde sei, auf die Gemeinschaftsentzug stehe. Sie sei gleichbedeutend mit einem Austritt aus eigenem Antrieb, und gegen den könne man nun mal nicht Einspruch erheben, weil Jen selbst diejenige gewesen sei, die sich über die Regeln der Schrift hinweggesetzt habe.
»Dann war es das?«, hakte ihre Mutter nach.
»Sie haben gesagt, in sechs Monaten denken sie vielleicht über eine Wiederaufnahme nach. Da beratschlagen sie neu, sofern ich bis dahin die Zusammenkünfte besuche und aufrichtige Reue zeige.«
Sie wird ihre Zeit absitzen.
»Sechs Monate sind das Minimum.« Ihr Vater starrte auf seine Hände hinab.
»Aber … wie kann das sein? Richard, du kannst doch bestimmt noch mal mit ihnen reden.«
Ihr Vater sah ihre Mutter an, rief sich die Abende ins Gedächtnis, die er im Saal verbracht hatte, an denen er selbst zu Gericht gesessen und über anderer Leute Söhne und Töchter geurteilt hatte. »Wie würde das aussehen – als könnte ich austeilen, aber nicht einstecken!«
Angela ließ sich gegen den Türrahmen sinken. Sie sah erst ihren Mann und dann ihre Tochter an. »Dann war es das. Alle erfahren es. Wie soll ich den Saal jemals wieder betreten? Eine meiner Töchter, die Blut akzeptiert!«
Sie schämten sich für sie. Oh Gott, dachte Jen. Oh Gott.
»Den Grund erfahren sie nicht, Angela.« Ungeduld schlich sich in seine Stimme. »Dieser Teil ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«
Hinter ihrem Rücken ballte Jen die Fäuste. War Jesus nicht für Wahrheit eingestanden? Hatte er nicht den steinigen Weg gewählt und sich gegen die Regeln seiner Zeit aufgelehnt? Und dann war er von Anhängern seines Glaubens hingerichtet worden. Trat sie damit nicht gleichsam in seine Fußstapfen?
»Erzählt es von mir aus herum«, sagte sie. »Erzählt es euren Freunden. Ich schäme mich nicht dafür. Ich bin für mein Gewissen eingestanden und …«
»Jennifer, genug der Selbstgerechtigkeit. Ich glaube, hier weiß jeder hinreichend über die Wahrheit Bescheid – oder ist der Schüler auf einmal klüger als sein Lehrer?« Ihre Mutter spie die Frage regelrecht aus. Dann schnellte ihre Hand an ihren Hals. Sie drehte sich zum Spiegel um und strich sich über die Haare. Als sie eine störrische Strähne feststeckte, waren ihre Bewegungen kontrolliert. »Hast du es Lina schon gesagt?« Ihre Stimme klang vollkommen beherrscht.
»Ich dachte, ich komme zu euch …«, setzte Jen an.
»Es wird ihr das Herz brechen.« Ihre Mutter wischte sich mit den manikürten Fingern über den Lidrand.
Noch während sie im Flur ihres Elternhauses stand, riefen die Bewegungen ihrer Mutter in ihr Erinnerungen an jenen Tag wach, an dem sie telefonisch erfahren hatten, dass Jens Großvater gestorben war. Er war im Ausland verunglückt. Jens Großmutter, die unterdessen bei ihnen gewohnt hatte, hatte geschrien, an ihrem Kleid gerissen und war auf dem Fußboden zusammengesackt. Angela hatte ihre Mutter an beiden Armen gepackt. »Das hilft uns jetzt auch nicht weiter, Mum. Dein schönes Kleid zu zerreißen!«
Ein kaputtes Kleidungsstück wog schwerer als Trauer. Eine Szene zu machen war schlimmer als Gefühl.
Sechsundzwanzig Jahre später stand sie im selben Flur, als ihr auffiel, wie klein dort alles aussah. Sie kam sich vor wie in Alice im Wunderland , als Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau folgt, dort ein Küchlein isst und anfängt zu wachsen. Ihre Arme ragen durch die oberen Fenster, ihre Beine durch die Tür. Mit einem Mal passte sie hier nicht mehr hinein.
Jen sah sich um. Der rechteckige Sekretär im Flur, in dem die Telefonbücher und Blöcke und Stifte lagen. Die deckenhohen Bücherregale voller religiöser Schriften. Die Familienfotos an den Wänden. Alles hier kam ihr jämmerlich klein vor. Als wäre sie all dem entwachsen.
Jen und Pete fahren, sobald die Zusammenkunft vorbei ist. Im selben Moment, da die Brüder Amen sagen – und noch bevor alle ihre Gesangbücher weggelegt und sich umgedreht haben – , schnappen sie ihre Taschen und eilen nach draußen. Einige Brüder legen Pete im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter, man lächelt einander flüchtig zu, doch keine der Gesten ist an Jen gerichtet. Als sie im Eingangsbereich an ein paar Schwestern vorbeigeht, schlägt sie den Blick nieder, spürt aber, wie die anderen zurückweichen. Ihre Ohren glühen. Sie kennt die Regeln, trotzdem ist sie überrascht. Diese Frauen, ihre Freundinnen, mit denen sie gekocht und gebacken und geweint hat, als Jacob sie einen Monat zuvor verlassen hat – diese Frauen wenden sich von ihr ab.
Lina steht mit ihrer Jüngsten im Arm an der Tür. »Tante Jen!«, ruft die Kleine und streckt sich nach ihr aus, aber die Mutter hält sie zurück.
Jen fängt Linas Blick auf und will etwas sagen, doch sie bringt kein Wort heraus. Sie hat ihre Stimme eingebüßt, und zwar für so lange, bis die Ältesten sie ihr wieder erteilen. Bis dahin darf niemand das Wort an sie richten. Selbst ihre eigene Familie kehrt ihr bis dahin den Rücken.
Linas Ehemann nimmt Pete kurz in den Arm, als wäre er derjenige, dem Schlimmes widerfahren ist.
Der letzte Milcheinschuss ist Tage her. Die Kohlblätter sind von der Einkaufsliste gestrichen, und allmählich passen ihr die alten B H s wieder. Nach wochenlangen Gebeten um ein Ende der Tortur wünscht sie sich gerade nichts sehnlicher als Schmerz. Damit etwas sie davon ablenkt, dass die Milch da war und dann wieder weg. Dass Jacob da war und wieder weg. Leben, weg.
Ihr Körper erholt sich, während nun tiefere Wunden aufreißen.
Sie ist noch nicht bereit dazu, ihn dem vergangenen Monat anheimzugeben. Wie kann er Vergangenheit sein, wenn er doch auf ewig ihre Gegenwart und Zukunft ist? Wie kann die Zeit weiter verstreichen, ihr Körper die Wunden schließen, wenn ihr Verstand immer noch an einem Krankenhausbett wacht?
Jen späht zu ihrer Nichte, zu den vollen Armen ihrer Schwester, dann auf die Leere in ihren eigenen Armen.