Amaretto

Isobel

»Sie sehen ja selbst, wie gemütlich es ist. Hier haben wir die perfekte Nische für eins dieser Kuschelsofas, die gerade so in Mode sind. Wissen Sie, was ich meine? Die gibt es mit Samtbezug in allen möglichen Farben. Das würde es gleich noch viel lauschiger machen! Und dieser bodentiefe Glaseinsatz, der den Wohn-Ess-Bereich von der Küche trennt – der macht es wunderbar hell. Heute ist es bewölkt, aber warten Sie nur, bis die Sonne scheint!

Dann gehen wir jetzt in die Küche … Also, als ich das hier gesehen habe, hat es mich an diese kleinen Pariser Wohnungen erinnert, in denen die Maler und Künstler wohnen. Kennen Sie die Filme? Sehen Sie, wie wegen des Oberlichts alles ganz hell ist? Ich weiß, die Schränke sind nicht mehr ganz neu, aber wer braucht schon den ganzen Schnickschnack? Also, ich nenne das hier Retro-Schick. Romantisch! Und solche Vorratsregale – hier, über der Arbeitsfläche – liegen wieder voll im Trend. Solche Details sind gerade sehr gefragt.

Dass der Schlafbereich auf einer Art Halbgeschoss liegt, stand ja schon im Exposé, und hier, über diese – hinreißend urige – Holztreppe geht man dort hoch. Und schauen Sie sich die schwarzen Gusseisen-Oberlichter an! Das ist wirklich das Plus an einer Dachgeschosswohnung! Sehen die nicht aus wie in Paris? So etwas hätten Sie in einer normalen Wohnung nicht. Ja, so was ist wirklich besonders.«

Geringschätzig sieht sich Isobel ein Zimmer nach dem anderen an, während die Frau ohne Unterlass redet. Sie weiß genau, wie sie die Maklerphrasen dechiffrieren muss, die der Frau über die schrill geschminkten Lippen strömen. Lauschig heißt winzig. Retro heißt abgewohnt. Pariser Schick steht für Verkommenheit. Ein Kuschelsofa, also bitte. Was soll sie mit einem Kuschelsofa?

Die Maklerin blättert durch die Unterlagen. »Sie möchten allein einziehen, richtig?«

Isobel mustert die Frau im schlecht sitzenden Hosenanzug und mit Stilettos, auf denen sie kaum laufen kann, von der Seite. Ihr Blick bleibt am goldenen Blitzen an deren linker Hand hängen. »Fürs Erste«, antwortet sie. »Mein Mann ist beruflich im Ausland. Aber es dürfte nicht mehr lange dauern, bis er zurückkommt. Dann suchen wir uns etwas Größeres.«

»Ach.« Die Maklerin runzelt die Stirn. »Das hier soll längerfristig vermietet werden. Minimum ein Jahr.«

Isobel lächelt, als hätte die Frau sie missverstanden. »Das ist schon in Ordnung. Ein Jahr ist okay.«

Es gibt sicher Leute, die etwas daraus machen könnten. Isobel kann sich sogar vorstellen, dass die Wohnung Charme haben könnte – sofern man zu jenen gehört, die Sisalteppiche auslegen und Zimmerpflanzen aufstellen und Räucherstäbchen abbrennen. Cassandra wüsste genau, was zu tun wäre, denkt sie, und kurz blitzt die Erinnerung an die Federsammlung auf, die ihre Tochter wider alle Proteste an ihrer Kinderzimmerwand aufgereiht hatte. Doch diese Wohnung passt so gar nicht zu Isobel. Und Sisal fühlt sich unter nackten Füßen fürchterlich hart an.

»Ich nehme sie«, beschließt sie mit einem kaum verhoh-lenen Seufzer.

In dem Sechzigerjahre-Bau an der meistbefahrenen Straße der Stadt ist sie zuvor nie gewesen. Für den Anlass hat Isobel sich ihren alten Mantel herausgesucht, einen dunkelblauen Macintosh mit großer Kapuze, dabei regnet es gar nicht – allerdings fahren hier unaufhörlich Autos vorbei, in denen gewisse Leute sitzen. »Du ahnst nicht, wen ich heute auf dem Weg zum Arbeitsamt gesehen habe«, würden sie beim Abendessen sagen und ihrem Göttergatten die Soße reichen. »Isobel Forge!« Schaudernd zieht sie sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Dass sie selbst kein bisschen anders gewesen ist, erschreckt sie umso mehr. Sie weiß genau, wie sehr getratscht wird.

In der Hoffnung, dass sie keinen dummen Kommentar abkriegt, eilt sie an den rauchenden Jugendlichen am Eingang vorbei. Sie nehmen sie nicht mal zur Kenntnis.

Als ihre Nummer aufgerufen wird, überquert Isobel die Achtzigerjahre-Auslegeware und setzt sich an den Schreibtisch einer Frau. »Einen kleinen Moment noch«, sagt diese, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, und tippt weiter. Isobel späht zu der offenen Dose Dr Pepper und zurück zu der Frau, deren Bluse über der Brust gefährlich spannt. Typisch, schießt es ihr durch den Kopf. Ein Wunder, dass sie in den Schreibtischstuhl passt!

»Also. Wie kann ich helfen?« Die Frau klingt angestrengt und schrill, als hätte sie diese Frage heute schon viel zu oft gestellt.

Isobel schnaubt. Als wäre der Grund für ihren Besuch nicht offensichtlich. »Ich brauche Arbeit.« Sobald sie es ausspricht, errötet sie.

»Na, dafür sind wir ja da«, trällert die Frau, und ihr Namensschild – Kara – hüpft auf und ab, als sie lacht. »Dann fangen wir mit der Berufserfahrung an. Haben Sie Ihren Lebenslauf mitgebracht?«

Isobel schlägt einen Plastikhefter auf und reicht der Frau einen A4-Bogen, auf dem nicht viel steht.

Kara nimmt einen Schluck aus der Dose, während sie Isobels beruflichen Werdegang studiert. »Ooh, das ist ja lecker«, sagt sie und mustert das Etikett. »Amaretto. Probier ich zum ersten Mal. Das wird mein neuer Lieblingsgeschmack!« Sie widmet sich wieder dem Lebenslauf. »Dann … steht hier, dass Ihr letzter Job bei der Bank …« – sie legt eine Pause ein – »… Ende der 1980er war?« Sie nennt das Jahrhundert dazu. Danach hört Isobel sie nur noch schmatzen.

»Ja. Seitdem habe ich die Buchhaltung in der Firma meines Mannes gemacht.«

»Aber das letzte Mal Kundenkontakt hatten Sie 1988?«

Isobel reagiert gereizt. »Ich sitze am Telefon und stimme Termine ab. Es ist ein Reinigungsunternehmen, und ich bin für die Kunden zuständig, während mein Mann die Arbeiten koordiniert. Oder besser … Ich war für die Kunden zuständig. Vor einem Jahr hat er jemanden angestellt, und … Die ist jetzt dafür zuständig.« Isobel schlägt den Blick nieder.

»Hm.« Stirnrunzelnd liest Kara weiter. »Erfahrung im Umgang mit Kunden ist ganz wesentlich, sofern Sie nicht am Fließband stehen oder putzen gehen oder Supermarktregale einräumen wollen. Was ich mir bei Ihnen nicht vorstellen kann.«

»Bei der Bank war ich mehrere Jahre. Das mag lange her sein, aber Kunden haben sich ja wohl nicht wesentlich verändert, oder?«

»Na, wenn das mal nicht die Entschlossenheit ist, die wir in einem Vorstellungsgespräch sehen wollen! Verwandeln Sie Ihre Schwächen in Stärken.« Karas Lächeln verblasst. »Nur, dass sich die meisten Arbeitgeber eine kontinuierliche Customer-Service-Historie wünschen, wenn wir Kandidaten empfehlen. Und wenn ich mir das hier so ansehe …« Sie kaut auf ihrer Lippe.

»Ich gehe außerdem regelmäßig von Haus zu Haus und spreche mit den Bewohnern.«

Kara blickt auf. »Ach? Als Vertreterin?«

Isobel lacht verhalten. »Nein, ich spreche mit den Leuten über die gute Botschaft vom Reich Gottes. Ich bin Vollzeitpredigerin und verbringe Hunderte Stunden im Monat im Predigtdienst.« Kara sieht sie verwirrt an, also formuliert sie es anders. »Ich klopfe an Türen und biete gratis Bibelstudien an.«

»Ah.« Sie beugt sich leicht vor. »Sie gehören zu diesen Weltuntergangsleuten?«

Isobel bringt ein angestrengtes Lächeln zustande. »Ich bin Jüngerin der letzten Tage, wenn Sie das meinen.«

Kara macht große Augen. »Oh, wow. Meine beste Freundin in der Schule war auch so eine. Die durfte gar nichts feiern. Tat mir immer leid, die Gute.« Sie blickt erneut auf den Lebenslauf. »Davon steht hier aber nichts – von dieser Türklopfersache.«

»Na ja, natürlich nicht. Das ist ja auch keine … Anstellung.«

»Werden Sie dafür nicht bezahlt?«

»Nein.« Isobel runzelt die Stirn. »Wir verbreiten die gute Botschaft, weil Gott das so will. Wer sollte uns dafür bezahlen? Gott?«

Kara späht zu ihrem Bildschirm. »Okay, da hätte ich vielleicht … Den Führerschein haben Sie, oder? Rezeption einer Zahnarztpraxis, allerdings am Stadtrand. Vollzeit, und die Bezahlung liegt bei …«

»Vollzeit? Oh, gibt es gar nichts in Teilzeit? Drei Tage die Woche?«

Kara lacht. »Keine Chance – es sei denn, Sie wollen einen der Jobs, die ich vorhin erwähnt habe. Diese Stelle hier ist gerade erst reingekommen und dürfte bis morgen besetzt sein. Solche Sitzjobs sind selten.«

Isobel klammert sich an ihren Stuhl. Vollzeitbeschäftigung hieße, sie müsste das Predigen einstellen, ihre Berufung seit zwanzig Jahren. Noch ein Tiefschlag. Doch dann muss sie an die Wohnung denken und daran, dass ihr Bankkonto, wenn sie die Kaution überwiesen hat, noch vor Ablauf des Monats leer sein dürfte. Die Alternative wäre ein Job an der Supermarktkasse, wo jeder sie sehen könnte. »Vollzeit ist in Ordnung.«

»Dann rufe ich jetzt für Sie an und frage, ob die mit Ihnen ein Vorstellungsgespräch vereinbaren möchten.«

Isobel sitzt stocksteif da, als Kara sie einem fremden Menschen schmackhaft macht. Gutes Auftreten. Erfahrung im Umgang mit Menschen, letzte Anstellung liegt zwar eine Weile zurück, aber seither jede Menge informeller Kundenkontakt. Isobel gefällt insgeheim, was Kara sagt, und obwohl diese Person in einem fort an ihrer Getränkedose nippt, wird sie ihr langsam sympathisch.

»Gleich heute Nachmittag? In einer Stunde?« Kara sieht zu Isobel. »Ja, das haut hin. Wundervoll! Geben Sie mir hinterher ganz kurz Bescheid? Auf Wiederhören!« Sie legt auf und unterdrückt einen Rülpser. »Dann ergänzen wir jetzt Ihren Lebenslauf. Die Computer stehen da drüben – und vielleicht lassen Sie die letzten Tage weg … Schreiben Sie stattdessen vielleicht … Wohltätigkeit ? Bleibt natürlich Ihnen überlassen, aber das kommt wahrscheinlich besser an. Manche Leute sind nicht so tolerant.«

Sie versucht es zuerst bei Patrick. Es klingelt und klingelt. Er geht nicht ran. Sie versucht es noch mal.

»Hallo?«

»Oh. Hallo, Jude. Könnte ich bitte mit Patrick sprechen?«

Ein Seufzer, dann: »Hi, Isobel. Warte, ich hole ihn. Alles okay?«

»Ja, alles bestens. Danke.«

»Okay, warte kurz …« Es klappert, als er das Telefon weglegt.

Isobel lässt den Blick über die beschrifteten Umzugskisten im Flur schweifen. Steven, Isobel, Cassandra, Patrick, Wertstoffhof. Wenn Liebe in Pappemetern gemessen würde, wäre Wertstoffhof ihr Lieblingskind.

»Mum?« Seine Stimme gibt ihr Kraft.

»Hallo, Liebling. Wie geht es dir?«

»Ehrlich gesagt wollten wir gerade essen. Alles in Ordnung bei dir?«

»Oh. Was hat Jude denn gekocht? Soll ich mich später noch mal melden?«

»Nein, heute war ich dran. Es gibt Ofenkartoffeln, Salat und Bohnen. Schon okay, ich kann kurz reden.« Sie hört, wie er einen Stuhl näher zieht.

Isobel räuspert sich. »Ist eine Ofenkartoffel wirklich genug? Ich könnte mir vorstellen, dass dein Arbeitstag ziemlich anstrengend ist. Da ist doch das Mindeste, dass abends ein ordentliches Essen auf dem Tisch steht.«

»Na ja, Jude geht auch arbeiten, Mum. Da wäre es nicht fair zu erwarten, dass sie jeden Abend kocht. Außerdem bin ich damit ganz zufrieden – so passt anschließend noch ein Nachtisch rein, oder?«

Darauf erwidert Isobel nichts. Sie hat sich gewundert, als Patrick anfing, mit Jude anzubandeln, und umso mehr, als sie sich verlobten. Aber Steven mochte das Mädchen, und auf sein Urteil hat sie immer vertraut. Sie tröstete sich damit, dass Japaner traditionelle Werte haben und ihr Sohn so bestimmt umsorgt wäre. Dann stellte Steven unter Beweis, dass man seinem Urteilsvermögen eher nicht trauen konnte, und sein Verrat bestätigt nunmehr ihr anfängliches Misstrauen gegenüber ihrer Schwiegertochter. Da spielt es auch keine Rolle, wie oft Patrick wiederholt, sie sei hier geboren, nur ein Elternteil sei Japaner und sie selbst ein einziges Mal in Japan gewesen. Die Ofenkartoffel beweist es – man hat Isobel getäuscht.

»Wie war dein Tag?«, will Patrick wissen.

»Oh, ich habe eine Wohnung gefunden und Arbeit, nichts Besonderes. Geh du besser zurück zu Jude und deiner Ofenkartoffel.«

»Was? Mum, das ist großartig! Erzähl!«

Er muss mehrmals nachhaken, bis Isobel mit Einzelheiten herausrückt. In vierzehn Tagen fange sie in der Arztpraxis an, Bezahlung und Arbeitszeiten seien völlig in Ordnung, und die Wohnung sei in der kommenden Woche bezugsfertig. Sie sei zwar gerade groß genug für eine Spitzmaus, aber so sei es jetzt eben, nachdem sein Vater sie in diese Lage gebracht habe.

»Du weißt schon, dass du auch im Haus bleiben könntest?«, ruft Patrick ihr in Erinnerung. »Er kann dich nicht rauswerfen, auch wenn das Haus nur auf seinen Namen läuft. Du hast ebenfalls Rechte. Ich hab dir angeboten, dass ich dich unterstütze.«

»Nein«, sagt sie mit Blick auf die Kisten. »Ich will nicht mehr hier wohnen. Es ist sowieso viel zu groß. Was soll ich mit fünf Zimmern?«

»Dann bleib wenigstens, bis es verkauft ist.«

»Soll ich vielleicht mitansehen, wie jedes Wochenende wildfremde Leute durch mein Haus spazieren, die Schränke aufziehen und nur die Kleidung einer Person sehen? Ich habe auch meinen Stolz, Patrick.«

»Aber Mum …« Er verstummt. »Er ist derjenige, der dir das angetan hat, und damit der Einzige, der sich schämen sollte. Wo immer er gerade steckt.«

»Ja, na ja, schön wär’s, wenn Gefühle immer der Logik folgen würden.« Die Uhr am Ofen zeigt an, dass ihr Supermarkt-Chili fertig ist. Ein Platzset hat sie bereits aufgelegt. »Geh jetzt, bevor dein Abendessen kalt wird. Jude will bestimmt nicht allein essen.«

»Mum …«

»Geh schon.« Sie legt auf, bevor er noch hört, dass sie anfängt zu weinen.