Sobald Patrick geheiratet hatte, versuchte Isobel, Jude auf ihre Seite zu ziehen. Sie wusste, die Machtverhältnisse hatten sich verschoben.
»Kannst du ihm nicht sagen, dass er zum Friseur gehen soll?«, fragte sie einmal und strich dem erwachsenen Patrick den Pony aus der Stirn. »Damit er nicht so strubbelig aussieht?«
Jude sah ihr lächelnd dabei zu. »Ich kann ihm doch nicht vorschreiben, wie er aussehen soll, Isobel. Das ist seine Entscheidung.«
Vorlaut und gleichgültig – so war sie. Jude. Was für ein Name. Kurz für Judith, was immerhin halbwegs kultiviert klang. Aber Jude? Also bitte.
Trotz aller Vorbehalte bemühte sich Isobel um ein freundschaftliches Verhältnis zu ihrer Schwiegertochter. Es gab dieses irische Sprichwort: Ein Sohn bleibt ein Sohn, bis er sich eine Frau nimmt. Eine Tochter bleibt Tochter ihr Leben lang. Ich darf ihn doch nicht verlieren, dachte sie. Was bleibt mir denn noch, wenn Jude ihn von mir wegtreibt? Deshalb spielte sie mit.
»Bist heute wohl unartig?« Mit einem Zwinkern stupste sie Jude an, die sich gerade ein Stück Sahnebiskuit vom Büfett genommen hatte.
Jude hielt mit der Gabel in der Hand inne und schien sich zu fragen, wie sie reagieren sollte. »Ich esse ein Stück Kuchen«, sagte sie dann. »Muss ich jetzt etwa auf meine Figur achten?« Sie blickte demonstrativ an sich hinab. »Schon komisch, dass Männer solche Sachen nie zu hören kriegen.«
Natürlich war June auch Feministin. Isobel war entsetzt, als Patrick erzählte, dass sie zu Hause keine klaren Rollen hatten.
»Aber das ist biblisches Gebot«, sagte Isobel. »Der Mann herrscht über die Frau. Das sucht man sich nicht einfach aus.«
Patrick zuckte nur mit den Schultern. »Na ja, wir praktizieren ja auch keine Sklaverei mehr, obwohl die Schrift besagt, dass Sklaven ihrem Halter gehorchen sollen. Jude und ich sind in Sachen Hierarchie in der Ehe der gleichen Ansicht.«
Isobel klappte die Kinnlade runter.
Oder als Jude und Patrick über Familienplanung sprachen. »Willst du wirklich noch arbeiten, wenn du Kinder hast?«, fragte Isobel an Jude gewandt, die antwortete: »Keine Ahnung«, und sich dann zu Patrick umdrehte. »Willst du noch arbeiten, wenn du Kinder hast?«
Versuch das nur, meine Liebe, dachte sich Isobel. Wirst schon sehen, wie das schlaucht.
Als Steven sie gerade erst verlassen hatte, schwirrten alle um sie herum. Sie kamen auf einen Kaffee vorbei oder schickten Karten oder Textnachrichten. Nach der Zusammenkunft stürzten die Schwestern förmlich auf sie zu und bekundeten ihr Mitgefühl oder tätschelten ihr den Arm – genau wie damals, als sie mit Anfang zwanzig noch Single gewesen war. Dass sich das jetzt wiederholte … Isobel war ganz benommen.
Allerdings brachte niemand Essen vorbei, natürlich nicht, Isobel war eine fantastische Köchin. Trotzdem war sie nicht auf die Einsamkeit vorbereitet, die das Kochen für eine Person mit sich brachte, und auch nicht auf die Gewissheit, dass jede Einzelne von ihnen mit einem Auflauf in der Hand vor Stevens Tür gestanden hätte, wenn sie diejenige wäre, die ihn sitzen gelassen hätte. Er war immer schon der Beliebtere von ihnen beiden gewesen.
Toni hätte ihm definitiv etwas zu essen vorbeigebracht. Mit ihrem unbändigen blonden Haar und dem warmherzigen Lachen, das überall Aufmerksamkeit erregte, hätten sie und Isobel gar nicht unterschiedlicher sein können. Während Isobel die Bibel in der Hand hielt, war es bei Toni meist ein Glas Wein. Sie war mit Bill Norris verheiratet, einem der Ältesten. Wenn er vor der Gemeinde sprach, schliefen die Leute reihenweise ein. Alle wussten, dass die beiden getrennte Schlafzimmer hatten. Toni liebte es, mit Steven zu flirten, und anfangs hatte Isobel sich daran gestört, doch als sie Steven einmal gefragt hatte, ob er Toni attraktiv fand, hatte er nur gemeint: »Sei nicht albern. Sie könnte meine Mutter sein.«
Isobel hatte die Stirn gerunzelt. Toni war genauso alt wie sie.
Kaum dass Steven Amber angestellt hatte, fing Isobel an, sie »diese kleine Schlampe« zu nennen. Verzeih mir, Vater. Natürlich nicht laut. Nur wenn Amber spätabends anrief und Steven im Arbeitszimmer verschwand, um ihren Anruf entgegenzunehmen. Oder wenn er mit einer geschlagenen Stunde Verspätung von der Arbeit heimkam und das Essen kalt war, wenn sie fragte: »Hättest du nicht anrufen können?«, und er antwortete: »Ich habe Amber die Software erklärt und darüber die Zeit vergessen.« Diese kleine Schlampe. Verzeih mir, Vater.
Isobel hatte protestiert, als er ihr mitgeteilt hatte, dass er jemanden einstellen wolle.
»Aber das hab ich doch immer gemacht.« Sie goss Soße über seine Kartoffeln. »Wozu brauchst du dafür plötzlich jemand anders?«
Er seufzte. »Frisches Blut täte uns gut. Wir müssen uns breiter aufstellen. Ich hätte gern jemanden, der größere Firmen für uns akquiriert, und … Versteh mich nicht falsch, Isobel, aber du bist besser geeignet für einen Job hinter den Kulissen.«
Sie erwiderte nichts, tat ihm aber zu viel Soße auf.
Nicht dass sie übermäßig misstrauisch gewesen wäre. Gut, Amber sah jung aus und war zierlich, hatte ein sommersprossiges Gesicht, aber sie zog sich nicht aufreizend an oder so. Äußerlich hatte sie nicht viel mit Isobel gemein, nicht mal mit Isobel im Teenageralter.
Als er dann mit Amber nach Südfrankreich durchbrannte, war Isobel weniger erschüttert darüber, dass er sie für diese achtzehnjährige kleine Schlampe verlassen hatte, als vielmehr darüber, dass er Gott damit den Rücken kehrte. Wie konnte jemand, der Ältester gewesen war, sein ewiges Leben einfach so wegwerfen? Im Kopf betete sie um die Kraft, ihm verzeihen zu können, und flehte ihren Gott an, ihren Ehemann in die Wahrheit zurückzugeleiten.
Im Herzen wünschte sie ihm einen langsamen, einen qualvollen Tod.