Z.

Zelda

»Zimmer zu vermieten? Das soll ich hier aufhängen, ja?«, fragt der alte Knabe hinter dem Tresen und hält einen Zettel in die Höhe. Jen schiebt sich die Dose mit Baked Beans in die Armbeuge und greift nach einem Brot.

»Japp. Aber keine Freaks, hörst du, Max?« Die Frau vor dem Tresen nuschelt, weil sie sich eine unangezündete Zigarette zwischen die Lippen geklemmt hat. »Wenn irgendwer nachfragt und dein Spinneralarm anschlägt, gib bloß nicht meine Nummer raus.«

Der Ladenbesitzer klebt den Aushang an das Regal in seinem Rücken und scheucht die Frau nach draußen. »Verstanden. Und jetzt verschwinde!«

»Danke, Darling«, ruft sie noch, und das Glöckchen an der Tür schlägt an.

Jen lässt ihre Einkäufe auf den Tresen fallen und reckt den Hals, um der Frau nachzusehen, die soeben in einen alten Volvo steigt, ihren breitkrempigen Hut beiseitewirft, die roten Haare ausschüttelt und losfährt, während der Mann an der Kasse Jens Waren einscannt.

Auf dem Zettel steht mit dickem schwarzem Stift geschrieben: Zimmer zu vermieten. Keine Haustiere, keine Sonderlinge, am liebsten weiblich. Dann eine Monatsmiete, die Jen aufbringen könnte, wenn sie ihre Chefin um ein paar Sonderschichten bitten würde. Noch während sie bezahlt, prägt Jen sich die Abkürzung – Z. – und die Nummer ein und speichert beides in ihrem Handy, kaum dass sie den Laden verlassen hat. Sie fragt den Mann auch nicht nach Einzelheiten. Wäre sie in seinen Augen eine Spinnerin? Sie könnte es nicht ertragen, wenn sie schon wieder auf Ablehnung stoßen würde.

Den Ältesten zufolge war ein Klaps auf die Hand ausreichend.

Jen legte gerade Wäsche zusammen, als Pete aus dem Saal wiederkam und es ihr erzählte. Er stand an seiner Seite des Bettes und fasste das Gespräch für sie zusammen. Sie hätten seine Bußfertigkeit zur Kenntnis genommen, seinen Schmerz, weil er seinen Gott enttäuscht habe, und dass er es bereue, die Versammlung beschämt zu haben. Es bleibe bei einem Tadel, berichtete er. Keine Mitteilung vor versammelter Gemeinde, keine Einschränkung seiner Freiheiten. Sein Leben würde normal weitergehen.

Jen hörte ihm zu, während sie weiter Wäsche zusammenlegte. Vor ihr lagen zwei ordentliche Stapel, einer für ihn, einer für sie, die gleich in die Schubladen wandern würden. So hatte sie es immer gemacht. Doch jetzt starrte sie Petes Mund an und hörte nicht mehr, was er noch sagte.

Sie haben sie nicht einmal danach gefragt, was sie davon hält. Diese drei Männer haben kein einziges Mal angerufen und gefragt, ob sie ihm verziehen hat. Wie kann die Bluttransfusion, die ihr das Leben gerettet hat, schlimmer sein als ein Ehemann, der seine schwangere Frau betrügt, und das gleich mehrfach? Seine Sünde ist nichts im Vergleich zu ihrer.

Pete redet weiter, und Jen fällt wieder ein, dass er tags zuvor seinen Vater getroffen hat. Der dürfte vorab informiert gewesen sein. Petes Vater ist Ältester und besitzt das Handbuch – er dürfte seinem einzigen Sohn erzählt haben, was er sagen müsste.

Irgendwie wusste sie, dass es so kommen würde. Es musste natürlich so kommen.

In ihr legte sich ein Schalter um. Sie ließ seine Sachen auf dem Bett liegen und räumte nur ihre weg.

Sie wählt die Nummer erst, als sie im Auto sitzt, legt aber wieder auf, sobald es klingelt. Die Vorstellung, mit einer Fremden zusammenzuwohnen, wäre zwei Monate zuvor vollkommen undenkbar gewesen. Ohne jedes Zeitgefühl starrt sie aus dem Fenster, denkt an Pete und an das Haus und an das Leben, das sie bislang gelebt hat.

»Hallo?«

»Hi«, sagt Jen, »ich rufe wegen des Zimmers an. Ist da …« – sie hält inne – »… Zett?«

»Zee«, sagt die Stimme, und nach dem Tonfall zu urteilen ist Jen gleich beim ersten Test durchgefallen. »Zee für Zelda. Und huch, das ging aber schnell.«

»Oh, Entschuldigung. Zee. Ja, ich war gerade im Laden und habe mitbekommen, wie Sie dem Besitzer erzählt haben, dass Sie ein Zimmer frei haben, und … Könnte ich vielleicht vorbeikommen und es mir ansehen?«

»Jetzt gleich?«

Jen sieht auf die Uhr. Pete kommt frühestens in einer Stunde von der Arbeit zurück, womöglich später, wenn er noch eine Kundin betatscht. »Wenn Ihnen das passt? Ich könnte auch später in der Woche vorbeikommen, wenn das …«

»Ach, was soll’s. Sind Sie in der Nähe? Dann sage ich Ihnen, wie Sie herfinden.«

Jen traf die Entscheidung, noch während sie die Hände ins Spülwasser hielt. Trotz der Demütigung sagte ihr ihre innere Stimme: Das hier ist deine Chance. Verzeih mir, Vater, denkt sie und blickt zur Zimmerdecke, und es tut ihr wirklich aufrichtig leid, hindert sie jedoch nicht daran wegzuwollen.

Wenn Steven sie geschlagen hätte, wäre sie der Schrift zufolge immer noch seine Ehefrau. Aber dass er eine andere hat, bedeutet, dass alles möglich ist.

Seit seinem Geständnis ist Jen wiederholt mit dem Auto durch die Gegend gefahren. So trifft sie nicht versehentlich auf Bekannte, die sie ignorieren. Ihr Auto ist ein geschützter Raum. Dort kann sie die wütendste Musik hören und schreien, und niemand hört es. Sie kann durch die Dörfer mäandern, die aus ihrem Winterschlaf erwachen, und so tun, als würden all die Bilderbuchhäuschen ihr gehören.

Manchmal kauft Jen sich bei einem Drive-in einen Kaffee und parkt in der Sonne. Die Fenster bleiben geschlossen, damit die Sonne durch die Scheibe scheint und sich ihr in die Beine brennt. Das beschert ihr ein Gefühl von Gefahr, als könnte sie jederzeit Feuer fangen. Sie legt den Kopf zurück und schließt die Augen. Jacob.

Vor einem freistehenden Bungalow an einer schmalen, ländlichen Straße fährt sie rechts ran. Die Zweige der riesigen Bäume zu beiden Seiten sind schwer von Laub. Pinkfarbene Blüten, die der Wind tags zuvor vor sich hergepeitscht hat, liegen im Gras.

Jen steigt aus. Die Straße ist ruhig, quasi eine Sackgasse, die lediglich zu einem Holzhof führt. Auf der anderen Straßenseite erstrecken sich Felder bis zum Horizont, hier und da markiert ein Baum den Ackersaum. Das Gras badet in der Sonne. Sie ist überrascht, wie stark beide Seiten sich unterscheiden, wie so eine ruhige Nebenstraße ein Wäldchen von einer Steppe trennen kann.

Sie soll das seitliche Tor nehmen, hat Zee gesagt. Sie tut wie geheißen und zieht es hinter sich zu. Dass sie Türen und Tore hinter sich zuzieht, passiert ganz automatisch, ist ihr vom jahrelangen Predigtwerk in Fleisch und Blut übergegangen. Jen versteht sich nicht als Verkäuferin – sie bringt schließlich das Geschenk des Lebens – , aber sie weiß, dass man sie selbst wesentlich strenger beurteilt als ihre Botschaft. Und da sind Kleinigkeiten ganz wesentlich – den Rasen nicht zu betreten und das Tor hinter sich zuzuziehen. Gardinen laden zum Ausspähen ein, und der erste Eindruck entscheidet darüber, wie man empfangen wird.

Der Gartenweg führt links vom Haupthaus weg auf dichtes Grün zu. Hier biegen sich die Zweige zu einem Blätterdach und spenden märchenhaft Schatten. Der Weg ist ein gewundenes Band aus trockener Erde und über Jahre festgetrampelt worden.

Ein gutes Stück voraus schimmert es und wird mit jedem Schritt heller, bis Jen zu guter Letzt in die Sonne tritt. Es verschlägt ihr den Atem. Vor ihr in einer Lichtung inmitten des Wäldchens liegt das Paradies.

Es ist eine sogenannte Eisenkirche. Die blaugrünen Wände aus gewelltem Zinnblech sind mit Rost überzogen. Das viereckige Gebäude mit Satteldach sieht aus wie einer Kinderzeichnung entsprungen. Eine hohe rote Flügeltür führt nach drinnen, und die verschnörkelt goldfarbenen Scharniere blitzen in der Sonne. Darüber befindet sich ein großes Buntglasfenster. Links neben der Tür steht ein zierlicher Glockenturm mit einem großen Kreuz.

Beim Anblick des Kreuzes weicht Jen einen Schritt zurück. Sie hat ihr Lebtag gehört, dass Kreuze verkehrt seien – eine irrige Auslegung der Schrift.

Aber Himmel, ist dieses Häuschen schön! Und der Garten ringsum ist atemberaubend. Da stehen riesige wild wuchernde Pflanzen, die jemand zurechtgestutzt hat und die trotzdem ausschlagen und vor Leben strotzen dürfen. Es ist Anfang Juni, und die Rosen blühen. Pfirsich-, apricotfarben, rot, pink und weiß – all diese tanzenden Schattierungen ergeben zusammen eine gänzlich neue Farbe. Es gibt Hortensien, Gartenwicken, Pfingstrosen und ein ganzes Meer aus Wildblumen.

Unwillkürlich vergleicht Jen diese Pracht mit dem gepflegten Rasen ihrer Mutter und deren streng reglementierten Beeten. Narzissen im März, Tulpen im Mai, Formschnitthecken das ganze Jahr über. Auch dort mögen Pflanzen wachsen, allerdings nur auf ausdrückliche Einladung. Nichts dort kommt unerwartet. Unkraut wird ausgerupft, bevor es auch nur die Chance bekommt zu gedeihen. Jen stellt sich vor, wie hier ein dichter Teppich aus Wildpflanzen wuchert, aufblüht, Samen verbreitet und jedes Jahr mit Überraschungen aufwartet.

Sie macht einen Schritt vor.

Ihr steht ein Bild von sich selbst mit Jacob auf ihrer Hüfte vor Augen, der sich vorbeugt und schnuppert. Er hat dichte rote Locken und ein Lachen, das ihr bis tief ins Mark dringt. So wird es im Paradies sein. So wird es sein, wenn sie nur weiter bei der Wahrheit bleibt.

Solche Schönheit hat Jen sich nie vorgestellt.

Scharniere quietschen, und die Frau aus dem Laden erscheint in der Tür. Feuerrotes Haar, nackte Beine, ein buntes Hauskleid. Mit verschränkten Armen lehnt sie sich an den Türrahmen und starrt Jen an.

Zee, kurz für Zelda.

Jen sieht genauer hin. Sie kennt diese Frau, und sie ist immer noch so schön wie in ihrer Erinnerung. Sie haben zusammen gelacht, Essen geteilt, waren bis Mitternacht wach und haben sich über die Liebe und das Leben und all die albernen, wichtigen Dinge unterhalten.

Damals hieß sie Alice Kay.