Am Sonntagabend legt Isobel ihre Kleidung bereit. Sie hat keinen Schimmer, was die Empfangsdame einer Zahnarztpraxis für gewöhnlich trägt, und tadelt sich selbst, dass sie nicht besser aufgepasst hat, als sie zum Vorstellungsgespräch dort war.
Am Ende entscheidet sie sich für ein klassisches Kundengesprächs-Outfit: dunkelgrüner Leinenrock, weiße Bluse, brauner taillierter Blazer. In die Bluse ist ein silbriger Faden eingewebt, und sie sucht sich ein Halstuch und einen Armreif im gleichen Farbton heraus, genau wie es ihre Mutter ihr beigebracht hat. Isobel hängt die Sachen übereinander und den Kleiderbügel an ihren Kleiderschrank. Ehe sie an diesem Abend das Licht ausmacht, sieht sie hinüber zu der Frau, die sie ab sofort sein soll.
Sie hatte die Ältesten in der Vorwoche in Kenntnis gesetzt. Bruder Connell hatte sie in ein Hinterzimmer geführt, und mit gefalteten Händen hatte sie vorgetragen, was sie sich zurechtgelegt hatte. Anschließend tätschelte er lächelnd ihre Hand.
»Das ist schon in Ordnung, Isobel. Wir verstehen das.«
»Es ist wirklich nicht so, als wollte ich nicht mehr über die gute Botschaft sprechen«, sagte sie eilig, »aber Steven hat nicht viel auf dem Konto gelassen, und der Rest ist ans Haus gebunden.«
»Du musst nichts erklären«, erwiderte er. »Der Predigtdienst ist jedermanns persönliche Entscheidung. Natürlich wäre Vollzeit-Predigtwerk wichtiger als eine weltliche Anstellung, besonders jetzt, da das Ende naht, aber wir müssen immer noch in dieser Welt überleben, bevor wir die nächste betreten.«
»Ich will nur noch mal betonen, dass ich nicht damit aufhöre, weil ich aufhören will . Mir bleibt nichts anderes übrig.« Sobald das Haus verkauft wäre, hätte sie hinreichend Sicherheiten, um ihre Arbeitsstelle zu kündigen und sofort an ihr altes Leben anzuknüpfen.
»Isobel, bitte. Wenn du eine bezahlte Arbeit annehmen musst, dann ist das doch nur verständlich. Es wäre nicht richtig, weiter der Sache zu dienen und gleichzeitig Unterstützung vom Staat zu beziehen, aber das weißt du selbst.«
Isobel lief knallrot an. Er glaubte tatsächlich, dass sie ein Sozialfall war. Sie, Isobel Forge, die Les Connell und seiner Ehefrau gerade einmal sechs Monate zuvor bei einem Fünf-Gänge-Abendessen einen Château Margaux von 2010 aus ihrem Weinkeller kredenzt hatte.
»Vielleicht solltest du dir ein sparsameres Auto anschaffen«, fuhr er fort. »Ein kleineres. Du wirst sehen, wenn du deine Ausgaben reduzierst, stehst du schneller wieder auf eigenen Beinen.«
»Es gehört Steven«, wandte sie mit noch immer hochrotem Gesicht ein. Sie war in ihrem ganzen Leben nie derart belehrt worden. »Das Auto – es läuft auf seinen Namen. Alles läuft auf seinen Namen. So einfach ist es also nicht.«
»Sei nicht gleich aufgebracht, Isobel. Das war nur ein Rat unter Freunden, nichts weiter. Ich sage das auch nur, weil ich mir Gedanken mache.«
»Danke. Wie gesagt, so einfach ist es nicht.«
Bei der nächsten Zusammenkunft wurde die Versammlung informiert. Schwester Forge verrichtet kein regelmäßiges Predigtwerk mehr. Isobel hatte damit gerechnet, trotzdem … Die Scham war übermächtig. Nicht dass sie einen Grund gehabt hätte, sich zu schämen, aber das war egal. Die Nachricht war so formuliert, als hätte sie eine Sünde begangen. Eine Erklärung war nicht vorgesehen, und jetzt dachte wahrscheinlich jeder, was sie immer von anderen gedacht hatte. Die stillschweigende Übersetzung: Du bist nicht mehr gut genug.
Sie kommt um 7 : 37 Uhr an, acht Minuten zu früh. Das Gebäude ist groß und weitläufig, mehrere Anbauten führen vom Hauptteil weg, und die geweißelten Klinker müssten dringend frisch gestrichen werden. Weil sie die Erste ist, findet Isobel ohne Schwierigkeiten einen Parkplatz. Dann sitzt sie da und starrt den Praxiseingang an.
In dreißig Jahren hat sie nie mehr als ein paar wenige Stunden in der Gesellschaft von Nichtgläubigen verbracht. Mögest du dich von der Welt unbefleckt erhalten , hat Jesus gesagt. Aber abgesehen davon, dass die Organisation vor Leuten aus der Außenwelt warnte, hätte Isobel gar keine Bekanntschaften benötigt. Sie verbrachte ihre wache Zeit im Predigtdienst und in Gesellschaft der anderen Schwestern, und sie hatte nie einen Grund gehabt, aus dieser Blase herauszutreten. Ihre Freundinnen hatten gleichzeitig mit ihr Kinder gekriegt, und sie hatten weiterhin zusammen Kaffee getrunken und Krabbeltreffen organisiert. Sie musste nicht am Schultor herumstehen und insgeheim hoffen, die anderen Mütter würden von sich aus bemerken, dass sie sich deren Treffen oder den Witzeleien über zu viel Wein nicht anschließen wollte. Aber vielleicht macht sie das sogar neugierig, dachte sie, und es ergibt sich eine Gelegenheit, über die Bibel zu reden. Und wenn sie sie für verschroben halten – bitte, dann war das zu erwarten. Hatte Jesus seine Jünger nicht auch gewarnt, sie würden um seinetwillen gehasst werden? Dass sie für die Wahrheit einstand, gab ihr Kraft. Ich bin gut, redete sie sich ein. Ich bin rechtschaffener als diese Leute.
Heute ist der Beginn von etwas Neuem.
Allerdings mag Isobel Neues nicht. Sie mochte das Einerlei aus Zusammenkünften, Predigtwerk und erbaulicher Erholung, die Wochen, die ineinanderflossen, ihre Routine aus durchgetakteten Abenden mit schmackhaften Mahlzeiten, die Gewissheit einer wahren, einer richtigen Existenz. Denn was ist schon der Sinn von Neuem, wenn das Ende nah ist? Ich habe mir das nicht ausgesucht, redet Isobel sich gut zu. Ich mochte mein Leben so, wie es war.
Die Uhr im Armaturenbrett springt auf 7 : 47 Uhr, als ein Auto von der Straße einbiegt und die Zufahrt hochrast. Es ist einer dieser kleinen italienischen Wagen, bei denen Isobel ohne Ausnahme denkt: Aber da passt doch nichts in den Kofferraum! Mit quietschenden Reifen kommt er zum Stehen, und eine junge Frau mit wippenden blonden Haaren springt heraus.
Isobel steigt aus und überquert den Asphalt. Sie drückt sich die Handtasche gegen die Taille.
Die junge Frau entdeckt sie und lächelt. »Hallo! Schön, Sie wiederzusehen! Ich bin Sadie. Ich arbeite auch an der Rezeption. Ihr Name ist Isobel, nicht wahr?«
Sie nickt und streicht sich über die Haare. »Mir wurde gesagt, Arbeitsbeginn wäre um 7 : 45, und jetzt ist es …« Sie sieht auf die Uhr. »7 : 49.«
»Ja, ja, ich weiß … Hab den Wecker überhört. Tun Sie mir einen Gefallen und erzählen Sie es nicht Carol. Wir machen erst in zehn Minuten auf, es ist also noch genug Zeit, um alles anzuschalten. Nur wo sind die verdammten Schlüssel … Ah, da.«
Drinnen drückt Sadie auf einen Schalter, und kurz zischen die Neonleuchten, ehe der Empfangstresen in Licht getaucht ist. Isobel sieht sich ihren künftigen Arbeitsplatz genau an. Sie befinden sich in einem großen, offenen Raum, und u-förmig stehen abgewetzte grüne Stühle um einen Couchtisch herum, auf dem sich zerlesene Zeitschriften türmen. Die Rezeption selbst ist durch einen Mahagonitresen vom Wartebereich abgetrennt. An den Wänden klebt dick Dekorputz. Alles in allem dominieren Armeegrün und dunkles Holz mit Messingbeschlägen. Isobels Rock hat die gleiche Farbe wie die Auslegeware.
»Ziemlich retro, hm?«, kommentiert Sadie, lässt die Handtasche fallen und schaltet ihren Computer an. »Hat Carol Ihnen erzählt, dass wir bald für ein paar Tage schließen, damit hier renoviert werden kann? Keine Sorge, die Bezahlung läuft weiter. Das Erste, was ich in Erfahrung gebracht habe, ha! Aber ja, das alles kommt raus. Das alte Zeug muss weg.«
Sie trällert einen Popsong vor sich hin und verschwindet nach hinten.
Ihr erster Tag läuft gut. Als Carol ankommt, stellt sie sie den Zahnärzten vor und trägt Isobel auf, Sadie über die Schulter zu gucken, bis sie ein Gefühl für die Computerprogramme und die Telefonate bekommt. Doch dann ist Sadie mit einem Patienten beschäftigt, Isobel muss einen Anruf entgegennehmen, und sie lächelt, als Carol im Vorbeigehen den Daumen emporreckt. Man klopft nicht sein Lebtag an die Türen von fremden Leuten, ohne dabei ein, zwei Dinge über Eigeninitiative zu lernen, denkt sie und verspürt warmen Stolz auf all das, was ihr Glaube sie gelehrt hat.
Sadie verrichtet die Arbeit an der Rezeption mit der Leichtigkeit einer Person, die es gewohnt ist, wahrgenommen zu werden. Sie tippt, während sie sich den Telefonhörer zwischen Kinn und Schulter klemmt, und bedenkt Patienten, deren Namen sie kennt, mit einem hollywoodreifen Lächeln. Hallo, Mr Godden, wie geht es uns denn heute Morgen? Ihre Selbstsicherheit ist wie roter Lippenstift. Intensiv und dynamisch. Isobel findet sie anstrengend.
Sadie und Carol bestehen darauf, Isobel nach Feierabend auf einen Willkommensdrink mit in den Pub zu nehmen. Isobel versucht, sich herauszureden, doch Sadie legt ihr den Arm um die Schultern und schiebt sie sanft über den Parkplatz. »Nichts da«, sagt sie. »Fünf Minuten. Fünf Minuten hat jeder.«
Sie geben ein merkwürdiges Trio ab, wie sie dort an ihrem klebrigen Tisch in der Ecke sitzen: Sadie und Carol mit einem Wodka, Isobel mit einem Saft. Die Handtasche liegt auf ihrem Schoß, und ihr Blick huscht jedes Mal zur Tür, wenn sie aufgeht, weil jemand Bekanntes hereinkommen und sie dabei erwischen könnte, wie sie mit weltlichen Kolleginnen ein Getränk zu sich nimmt. Sie versucht, sich für den Fall eine Ausrede zurechtzulegen.
»Wer mag noch etwas trinken?«, fragt Sadie. »Du bestimmt, Carol. Und Isobel? Ich bin mir sicher, dass ein zweiter Orangensaft Sie nicht umhaut.« Dann tänzelt sie zur Bar, noch bevor Isobel etwas einwenden kann.
Während Carol von der Arbeit erzählt, sieht Isobel, dass Sadie sich am Tresen mit einem Patienten vom Vormittag unterhält. Sie mustert ihn von Kopf bis Fuß, die Motorradkluft, den langen Pferdeschwanz. Als Sadie sich umdreht und auf ihren Tisch zeigt, schlägt Isobel den Blick nieder.
Eine Minute später sitzt er neben ihr, und Sadie stellt ihre Getränke mit ein wenig zu viel Schwung auf dem Tisch ab. »Mr Godden hat uns etwas ausgegeben«, trällert sie und plumpst zurück auf ihren Platz.
Er lächelt verlegen. »Wir sehen uns derzeit so oft, da ist das hier doch das Mindeste.« Er lehnt sich leicht in Isobels Richtung und tippt sich an die Wange. »Ziemlich umfangreiche Bauarbeiten!«
Isobel rutscht von ihm weg.
»Auf Ihren ersten Arbeitstag«, sagt Sadie und hebt ihr Glas.
»Oh, Glückwunsch!«
»Danke«, murmelt Isobel und schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Wider Willen errötet sie und ist erleichtert, als er es bemerkt und sich von ihr abwendet.