Schöpferin

Jen 1999

Erstmals Ton in der Hand hatte sie im Jahr vor ihrem Schulabschluss. Miss Orr, ihre Kunstlehrerin, hatte eine Töpferscheibe mitgebracht, an der sich die Mädchen ausprobieren konnten. Sie würden im folgenden Sommer die Abschlussklausuren schreiben, und als sie hörten, dass das Töpfern nicht in die Abschlussnote eingehen würde, wandten sich die meisten von Jens Klassenkameradinnen lieber den Lernfächern zu.

Aber warum eigentlich nicht?, dachte Jen. Wegen der Klausuren machte sie sich keine Sorgen. Ihre Mitschülerinnen bereiteten sich auf Kollegstufe und Uni vor, während sie selbst einen anderen Weg einschlagen würde. Ihre Karriere würde darin bestehen, den Leuten eine sehr viel wichtigere Sache nahezubringen: die Wahrheit.

So betrachtete sie das Töpfern zu Beginn jenes Schuljahrs. Als einen netten Zeitvertreib. Sie hatte den Ton noch gar nicht berührt, die Finger noch nicht in Wasser getaucht, sie hatte den Rhythmus der Töpferscheibe noch nicht gespürt oder erfahren, wie ein einziger Stups die ganze Form verändern konnte. Sie sah lediglich eine Art Teller vor sich und einen kalten grauen Klumpen. Alles andere war unsichtbar.

Der Damm brach, sobald sie die Töpferscheibe in Bewegung setzte. Sie sah auf ihre fleckigen Hände hinab, auf den Ton, sah der Lehrerin ins Gesicht und dachte: Oh.

Ms Orr stand dicht neben ihr und leitete sie leise murmelnd an. Kurz flammte Ärger in ihr auf, als sie den Platz für eine andere räumen musste, und unbeherrscht schob sie ihren Stuhl nach hinten. Als Ms Orr ankündigte, sie würden in der folgenden Woche einen weiteren Anlauf unternehmen, machte Jen ein Pokerface, doch nach der Schule lieh sie sich in der Bibliothek sämtliche Bücher über das Töpfern aus.

In der darauffolgenden Woche wollten es mehr Schülerinnen ausprobieren, und Jen tippte in der Wartezeit ungeduldig mit dem Fuß auf. Als der Gong ertönte, bevor sie drangekommen war, schmetterte Jen ein Buch aufs Pult und errötete, als sich die ganze Klasse nach ihr umdrehte. »Entschuldigung«, flüsterte sie.

Auf dem Weg nach draußen hielt Ms Orr sie auf. »Schade, dass du nicht mehr dran warst, Jen.«

Sie krallte sich in den Gurt ihrer Tasche und schämte sich für ihren Wutausbruch. »Da muss ich eben bis nächste Woche warten.«

Die Lehrerin zögerte kurz. »Du könntest jetzt gleich, wenn du willst …?«

Jen sah ihr ins Gesicht. Der Knoten in ihrem Bauch lockerte sich. »Wirklich?«

Ms Orr lächelte. »Mein Sandwich schmeckt hier genauso wie im Lehrerzimmer.«

Jen stürzte sich auf die Töpferscheibe und vergaß sogar, sich zu bedanken. Sie ließ ihre Schultasche fallen und machte sich sofort daran, den Ton vorzubereiten. Alles, was sie in der vorangegangenen Woche gelernt hatte, war wieder da. Es war fast, als hätte sie immer gewusst, was zu tun war.

»Du bist ein Naturtalent«, bescheinigte Ms Orr ihr vom Pult aus.

Jen beugte sich über ihre Arbeit. »Ach, ich weiß nicht.«

»Doch, wirklich«, sagte sie zwischen zwei Bissen. »Die Schale, die du letzte Woche gemacht hast, und die Art, wie du mit dem Ton umgehst … Du stehst noch am Anfang, aber du hast eindeutig ein Händchen dafür.«

Jen antwortete nicht. Sie konnte den Blick nicht von der Töpferscheibe abwenden.

»Was macht das mit dir?«

»Wie bitte?«

Ms Orr musste erst fertig kauen. »Den Ton zu bearbeiten – wie fühlt sich das für dich an?«

Jen antwortete nicht sofort. Sie stellte die Schale fertig, schnitt sie mit dem Draht von der Scheibe ab und schabte Tonreste von der Oberfläche. Mit der Töpferscheibe zwischen den Beinen überlegte sie, was sie erwidern sollte. Wie sollte sie erklären, dass sie ein Gefühl von Macht verspürte, wenn sie den Ton bearbeitete und für seine Zukunft verantwortlich war? Sie war eine Schöpferin. Sie. Das Töpfern verankerte sie in einem speziellen Moment, in der Körperlichkeit der Welt. Der geschmeidige Puls der Scheibe war für sie wie der Herzschlag von jemandem, den man liebte.

Sie starrte auf ihre tonfleckigen Hände hinab. »Es ergibt einfach einen Sinn.«

Abgesehen vom Kunstunterricht besuchte Jen fortan zweimal wöchentlich den Kunstraum. Montags saß Ms Orr an ihrem Pult und machte Mittagspause, während Jen an der Töpferscheibe arbeitete, und dienstags ließ sie Jen sogar allein dort sitzen und kam erst wieder, um den Raum abzuschließen. Sie brannte Jens Arbeiten im Brennofen, lieh ihr Bücher über Keramiker aus, beteuerte ein ums andere Mal, dass Jen ein Naturtalent sei.

Jen lebte für diese Stunden. Sie saß endlose Tage und Wochenenden aus, bis sie endlich wieder töpfern, gestalten, erschaffen und spüren konnte. Sie lernte, wie der Brennvorgang die Farben veränderte, sodass das Ergebnis mit den Ausgangsbedingungen nicht das Geringste zu tun hatte. Mit der Zeit entdeckte sie, wie sie den Ton unter Einsatz ihres ganzen Körpers und nicht nur der Hände mittig auf der Scheibe platzieren und Rückenschmerzen verhindern konnte. Beim Töpfern war sie glücklich. Und dann war da auch noch Ms Orr, die so dicht neben ihr stand, dass Jen mitunter wie berauscht war. Schwärmereien für Lehrkräfte waren bei Schülerinnen ganz normal, das hatte sie in einer Zeitschrift gelesen.

»Ich bleibe dienstags länger in der Schule«, erzählte sie ihrer Mutter eines Abends beim Abwasch. »Ich nehme den späteren Bus.«

Pause. »Und warum?«

»Ach, du weißt schon«, sagte Jen, »ich hab Klausuren, und …«

Ihr Vater steckte den Kopf durch die Tür und bat um eine Tasse Tee. Im Wohnzimmer lief Fußball.

Angela schaltete den Wasserkocher an und wandte sich zu Jen um. »Aber dienstags ist Zusammenkunft.«

»Ich bin rechtzeitig wieder da, Ehrenwort.«

Und sie war rechtzeitig zu Hause. Drei Monate lang blieb sie dienstags länger in der Schule und rannte zum letzten Bus. Sie kam heim, als ihre Familie bereits zu Abend aß, zog sich anschließend um und fuhr mit ihnen zum Saal. Sie war abgehetzt, aber glücklich.

Doch eines Tages kam der Bus nicht. Sie wartete, Minuten fühlten sich wie Stunden an, dann rief sie ihren Vater an, der sie abholen sollte. Auf dem Heimweg herrschte Schweigen.

In der darauffolgenden Woche, als sie am Montag gegen Ende der Mittagspause die Töpferscheibe reinigte, teilte sie Ms Orr mit, dass sie dienstags nicht mehr länger bleiben würde.

»Ach?« Ms Orr sah Jen über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Ich dachte, du magst das hier?«

Jen räusperte sich. »Es ist kompliziert …«

Ms Orr schlug einen Hefter auf und nahm ein Blatt Papier heraus, das sie Jen in die Hand drückte. »Na, vielleicht findest du das hier ja interessant – auch in Bezug auf deine weitere Ausbildung. Was Kreativität angeht, ist unsere Schule nämlich nicht sehr weit vorn.«

Jen las den Handzettel. An der örtlichen Kunstgewerbeschule wurde Töpfern angeboten. Sie lächelte in sich hinein – dass Ms Orr sie für gut genug hielt! – , doch dann runzelte sie die Stirn. »Ach, eine Kunstgewerbeschule kommt nicht infrage.«

Ms Orr sah sie lange an. Dann schob sie ein paar Unterlagen zurecht. »Weißt du, Jen … Mit sechzehn redet man sich gern ein, man wüsste, wie die Zukunft aussieht. Aber bei deinem Talent … An der Töpferscheibe erwachst du zum Leben. Vergeude das nicht.«

Jen sah erneut auf das Blatt hinab und dann zu Ms Orr. Die wohlmeinende, freundliche Ms Orr – sie würde niemals verstehen, in welcher Welt Jen lebte. »Ich denke darüber nach«, sagte sie, faltete das Blatt zweimal zusammen und schob es in ihre Tasche.

Am selben Wochenende hatte sie Dienst mit Bill Norris, einem der Ältesten. Nachdem sie auf dem Weg von einer Tür zur anderen das übliche Geplauder hinter sich gebracht hatten, sagte er beiläufig: »Deine Mutter erzählt, du denkst über die Kunstgewerbeschule nach.«

»Eigentlich nicht«, murmelte Jen und sah sich nach ihren Eltern um. »War nur so eine Idee. Eine alberne Idee.«

»Ich kann mir vorstellen, dass du sehr kreativ bist.«

Jen sah zu ihm hoch. »Wirklich?«

»Mhm. Wenn du bei Leuten vorsprichst, ist dein Vortrag immer einfallsreich. Du findest Aspekte, an die du anknüpfen kannst – wie gerade eben, bei diesen Leuten, deren Heckscheibe mit Aufklebern ihrer örtlichen Gemeinde vollgeklebt war. Das hast du gesehen und deinen Vortrag entsprechend aufgebaut. Das ist Kreativität, Jen.«

Sie wurde rot. So hatte sie es nie gesehen. »Ich habe in der Schule getöpfert …«

»Und liegt dir das?«

»Meine Lehrerin findet, Ja. Sie hat mir die Kunstgewerbeschule empfohlen.«

»Und was hältst du selbst davon?«

»Na ja … Ich hatte eigentlich immer vor, mit sechzehn von der Schule abzugehen und Vollzeit zu predigen.«

»Na, das ist doch ein wundervolles Vorhaben.«

»Ja.«

»Und hast du das immer noch vor?«

Jen nickte.

»Wusstest du, dass ich als junger Kerl in einer Rockband gespielt habe? Wir hatten sogar einen Plattenvertrag.«

Jen sah ihn überrascht an. Bei Gemeindeveranstaltungen spielte Bruder Norris oft Gitarre, und er war für seine laute Singstimme bekannt. Alice und sie standen bei Zusammentreffen oft hinter ihm und versuchten, sich das Lachen zu verkneifen.

Er erzählte ihr, wie er durchs Land getourt war, Gitarre gespielt und hin und wieder auch gesungen hatte. Wenn er gefragt worden war, was er mal werden wollte, hatte die Antwort stets gelautet: Rockstar. Mit neunzehn war er dann einer. Als er den Namen der Band erwähnte, sah Jen ihn verdattert an.

»Aber die sind superbekannt!«

Er nickte. »Waren sie auch damals schon.«

Sie versuchte, sich vorzustellen, wie der freundliche, langweilige Bruder Norris seine Gitarre zertrümmerte und die Mädchen seinen Namen kreischten. »Was ist passiert?«

»Ich bin in die Wahrheit gekommen«, sagte er und reckte das Kinn vor. »Ich war total stoned, als jemand bei mir anklopfte, aber ich mochte diese Broschüren. Ich habe eine Zusammenkunft besucht, Bibelstudien begonnen und die Band verlassen.«

»Einfach so?«

»Ein paar Songs zu spielen kam mir im Vergleich einfach nur albern vor.« Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf seine Bibel. »Was ich jetzt tue, was wir tun … Das rettet Leben.«

Jen schob die Hände in die Taschen. In jener Woche hatte sie sich gestattet, von einem anderen Leben zu träumen. Von einem Leben an der Kunstgewerbeschule und an der Töpferscheibe. Zusammenkünfte und Predigtwerk würde es nach wie vor geben, aber vielleicht könnte sie sich selbstständig machen, als Keramikerin, und ihre Arbeiten verkaufen. Nicht hauptberuflich, einfach nur, um ihre Rechnungen zu bezahlen, während sie weiter dem Predigtwerk nachging. Sie erzählte es ihrer Mutter. Davon kannst du nicht leben, erwiderte die. Warum sollte irgendwer für einen Kaffeebecher mehr bezahlen, als er im Laden kostet?

Alice hatte die Arbeiten stets bewundert, die Jen ihr gezeigt hatte. Sie hatte sie sorgsam begutachtet und ihr ein spektakuläres Talent bescheinigt.

»Vermisst du es?«, fragte sie Bruder Norris.

»Abends und an Wochenenden spiele ich immer noch, wenn Zeit dafür bleibt.«

»Nein, die Band – vermisst du es, auf der Bühne zu stehen und von Leuten für das, was du tust, bewundert zu werden? Den Rausch, wenn man Stücke schreibt?« Jen musste an Ms Orr denken, deren Lob sie so sehr beflügelt hatte.

Lächelnd schob er das nächste Gartentor auf. »Das wartet auf uns in der Ewigkeit, Jen. Bald ist es so weit, aber bis dahin müssen wir in diesem System überleben. Es gibt wichtigere Dinge.«

In der darauffolgenden Woche teilte Jen ihrer Lehrerin mit, dass sie die Töpferscheibe montags in der Mittagspause nicht mehr benötigte. Sie würde im Kunstunterricht einfach warten, bis sie an der Reihe wäre, wie alle anderen auch. Sie nutzte die Gunst der Stunde, um von ihrem Glauben zu erzählen und dass sie vorhabe, sich nach dem Schulabschluss in Vollzeit dem Predigtwerk zu widmen, und sosehr sie das Töpfern liebe – es gebe wichtigere Dinge. Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht hörte Ms Orr ihr zu. »Na dann«, sagte sie nur, als Jen fertig war.

Jen nickte und verließ den Kunstraum.

Vielleicht könne sie es als Hobby beibehalten, hatte Bill Norris vorgeschlagen. So wie er seine Musik. An Jens Stelle würde er dem Himmelreich den ersten Platz einräumen und sich in der Freizeit mit Töpfern vergnügen.

Jen pflichtete ihm murmelnd bei. Insgeheim wusste sie, dass es so nie kommen würde. Ein Hobby war etwas, woran man Spaß hatte, was speziellen Momenten vorbehalten war, was man problemlos aufschieben konnte, wenn andere Dinge anstanden. Es wäre gefährlich, ein Hobby mehr zu lieben als die eigentliche Arbeit. Man kann nicht heiraten und dann nur für die Nächte leben, in denen man eine Affäre hat.

Sie würde jene Sehnsüchte beerdigen. Schließlich war es bald so weit.

Sie würde die Ewigkeit abwarten.